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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Eckhard Bolenz/Lina Franken/Dagmar Hänel (Hgg.)

Wenn das Erbe in die Wolke kommt. Digitalisierung und kulturelles Erbe

Essen 2015, Klartext, 177 Seiten
Rezensiert von Andrea Schilz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 18.05.2018

„Mixed Media“ heißt es zuweilen auf Objektbeschriftungen, und mit allem Möglichen - überdies dynamisch - hat es bekanntlich auch die Wissenschaft des Alltags bzw. haben es die ihr zugeordneten Gedächtnisinstitutionen zu tun. Deshalb müssen, „wenn das Erbe in die Wolke kommt“, Konzepte sowohl stimmen als auch in nützlichem Maß abgestimmt sein. So wurde das Thema „Digitalisierung und kulturelles Erbe“ auf der gemeinsamen Jahrestagung der Abteilung Volkskunde des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte und des Projekts „Digitales Portal Alltagskulturen im Rheinland – Wandel im ländlichen Raum 1900-2000“ (2013 bis 2017 gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft) im November 2014 in Bonn unter konkreten Perspektiven angegangen. Überwiegend anhand von Fallbeispielen illustriert der Sammelband zur Tagung „Chancen und Nutzen aber auch Schwierigkeiten und Risiken der Möglichkeiten digitaler Speicherung, Darstellung und Nutzung kulturellen Erbes“ (Klappentext). Fokussiert werden dabei, mit lockerem Bezug auf die Gestaltung der Tagungspanel, die Schwerpunkte Wissensmanagement und Forschung sowie die Spannungsfelder, die sich aus den Determinanten Analog, Materiell, Immateriell, Digital und Virtuell ergeben.

Der folgenden inhaltlichen Besprechung sei vorausgeschickt, dass sie sich nicht streng an die Abfolge der Beiträge im Band hält. Nach einer Einführung durch Eckhard Bolenz, Lina Franken und Dagmar Hänel leiten Gertraud Koch (Wandel von Tradierungsprozessen und Perspektiven auf digitales Kulturerbe) und Ruth-E. Mohrmann in die Thematik ein (Kritik der Digitalisierung unter Differenzierung von Information und Wissen sowie eine Diskussion des Archivs). Dann wird eingetaucht in die Vielfalt der Quellen, die sich in der der Umsetzungsstrategien spiegelt. Die Dienststellen des Landschaftsverbandes Rheinland etwa verwahren gemäß der Projektseite Portal Alltagskulturen im Rheinland „Fotos, Filme, Interviewaufzeichnungen sowie hunderte von Objekten vom Werkzeug bis zur kompletten Kücheneinrichtung“; ausgehend von dieser Diversität diskutieren Lina Franken und Dagmar Hänel das DFG-Projekt hinsichtlich Datenkategorisierung und -systematisierung. Christian Baisch beschäftigt sich ebenfalls mit dem Portal Alltagskulturen und begibt sich mit dem Thema Metadatenstandards konkret auf den „Weg in die Wolke“ – nur über derartige Konventionen kann Vernetzung hergestellt werden. Bei Großprojekten wie der Europeana und der (auch als Schnittstelle zur Europeana fungierenden) Deutschen Digitalen Bibliothek kommt dieser Faktor besonders anschaulich zum Tragen. Alexandra Bloch-Pfister gibt Einblick in das Projekt „Europeana 1914–1918“, ein Online-Archiv der Europeana, das „Alltagsquellen zum Ersten Weltkrieg“ digital repräsentiert. Lisa Landes zeigt anhand der Deutschen Digitalen Bibliothek, wie sich der „Zugang zu über 15 Millionen Schätzen aus deutschen Kulturerbe-Einrichtungen“ darstellt. Potentiale einer zentralen Zugriffsplattform für Archive, Museen und Bibliotheken, das Landesportal Kulturerbe Niedersachsen, bespricht Frank Dührkohp in seinem Beitrag zu „Publikation, Präsentation, Partizipation“.

Das oben anskizzierte Terrain einer Diskussion des digitalen Objekts hat Werner Schweibenz im Blick, mit der „Virtualisierung des Museums und seiner Objekte“ (Subtitel) im Sinne eines konstruktiven Prozesses, bei dem das Digitalisat einen Eigenwert als „Digitalifakt“ gewinnt und Digitalisierung zu einer integralen Komponente des Museums wird. Die Frage, wie - ausgehend vom zugänglich gemachten Digitalisat - Kontexte angemessen dicht transportiert werden können, diskutiert Anna Menny anhand des Beispiels digitalisierten jüdischen Erbes in Hamburg und zeigt dabei „Chancen und Herausforderungen“ (Subtitel) einer De-Lokalisierung im digitalen Raum auf. Ebenfalls im Feld Judaistik benennt Thomas Kollatz die Möglichkeiten einer fundierten Online-Datenbank: epidat widmet sich jüdischer Grabsteinepigraphik und trägt damit zur „Inventarisierung und Dokumentation historischer jüdischer Friedhöfe“ (Subtitel) bei. Ein Beispiel für Large scale-Digitalisierung gibt Thomas Järmann mit einem „Arbeitsbericht zum Forschungsprojekt ‚Broadcasting Swissness‘“, das Radioarchivbestände zur Materialbasis hat, genauer: tausende Magnetbänder der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft, die im Keller der Schweizerischen Nationalbibliothek schlummerten.

Es eignet Sammelbänden nun einmal, dass sich Rezipierende je nach individuellen Schwerpunkten und Interessen ihren Favoriten herauspicken: Christoph Schmitt und Holger Meyer führen in ihrem Beitrag „Semantische, räumliche und zeitliche Vernetzung regionalethnographischer Archive. WossiDiAs Hypergraphentechnik und ihr quellenkritischer Mehrwert für einen digitalen ‚Atlas der deutschen Volkskunde‘“ informatische Praxis und fachwissenschaftliche Reflexion in einer projektbezogenen Diskussion zusammen. Schmitt ist Leiter des Instituts für Volkskunde an der Universität Rostock sowie des dort angesiedelten DFG-Projekts „WossiDiA – digitales Wossidlo-Archiv“. Meyer wiederum leitet die technische Umsetzung dieses Projekts, der Datenbank-Experte ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Informatik an derselben Universität. Die Autoren zeigen den „Mehrwert [...] einer intelligenten Vernetzung regionalethnographischer Archive“ auf (84) und schlagen vor, das Material des ADV ebenfalls zu digitalisieren, gemäß der am Material der Sammlung Richard Wossidlos entwickelten Best Practice. Die für WossiDiA implementierten Hyperkantentypen könnten sodann auch darauf angewendet und die beiden Korpora vernetzt werden. Damit eröffneten sich neue, vergleichende Perspektiven auf die Daten des ADV-Materials, jenseits des „kulturmorphologische[n] Paradigma[s], [das] sich weithin überlebt hat“ (85). Dies ist, wie ich meine, im besten Sinn ein Beispiel für digitale Geisteswissenschaft, die - interdisziplinär, kreativ und produktiv - den „Weg in die Wolke“ flankieren kann.