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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Andreas Bürgi

Eine touristische Bilderfabrik. Kommerz, Vergnügen und Belehrung am Luzerner Löwenplatz, 1850-1914

Unter Mitarbeit von Philipp Flury und Claudia Hermann, Zürich 2016, Chronos, 211 Seiten mit 73 Abbildungen
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 18.05.2018

Bilderfabrik: Der Begriff weckt in unserer wissenschaftlichen Disziplin Erinnerungen an eine Ausstellung im Jahr 1973 im neu eröffneten, heftig umstrittenen Historischen Museum in Frankfurt am Main sowie an die dazugehörige Begleitpublikation von Wolfgang Brückner und Christa Pieske [1]. Doch im konkreten Fall geht es weder um die Produktion, Distribution und Rezeption von Öldrucken und ähnlichen bildlichen Erzeugnissen, auch nicht um einschlägige Firmen wie May/Frankfurt oder May/Dresden, sondern um ein ganz bestimmtes Quartier im schweizerischen Luzern, welches auch heute noch in der Reise- und in der Kunstführer-Literatur angezeigt wird. Verschiedene Bezeichnungen kursieren, offiziell Wey, inoffiziell Museumsmeile oder Tourismusmeile, dies weil es im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem sich ausbreitenden Fremdenverkehr eingerichtet wurde. Und dass es sich um eine besondere Anlage handelt, ergibt sich daraus, dass die einzelnen Bestandteile zunächst eher nichts miteinander zu tun hatten, sondern erst im Laufe der Zeit in eine Art Gesamtkonzept eingefügt wurden, anders als im Fall von weiteren Vergnügungsparks, die aus einem Guss entstanden sind.

Der geschichtswissenschaftlichen Studie, einer Pionierstudie insofern, als sie erstmals das einschlägige Milieu erkundet, sind mehrere Bündel von Forschungsfragen vorangestellt, unter anderem dieses: „Wie also war sie [die Tourismusmeile] einst entstanden und warum diese Häufung gerade im Wey? Und was war eigentlich genau der Gegenstand dieses Gesamtunternehmens [...]? Es richtete sich an die Touristen, wie der Name sagte. Doch was sollten diese zu Gesicht bekommen? Was wurde als ausstellungswürdig betrachtet und was nicht? Und nach welchen Kriterien? Ergab es ein Gesamtbild, oder blieb es etwas zufällig Zusammengewürfeltes? Und was hatte das mit der Schweiz und der Innerschweiz zu tun? Und schließlich: Kannten andere Touristenorte solche Einrichtungen, gehörte so ein Quartier sozusagen zu deren Infrastruktur [...]?“ (12) Wir haben es also mit einer historisch-archivalischen Studie zu tun, in der Quellen zur Auswertung gelangten, die dem Staatsarchiv Luzern, verschiedenen Stadtarchiven, den Archiven der verschiedenen Einrichtungen und weiteren, zum Teil privaten, Sammlungen entstammen, was ebenso für die mehr als 70 Bildquellen gilt.

Die Ausführungen des Autors werden in drei Teilen unterschiedlichen Umfangs präsentiert. Im ersten Teil geht es um Vorgeschichte und Geschichte der Luzerner Tourismusmeile zwischen den Jahren 1820 und 1914, konkret bezogen auf das Bertel Thorvaldsensche Löwen-Denkmal (zur Erinnerung an die Schweizergarde, die 1792 die königliche Familie vor den Pariser Revolutionären schützte), ein Diorama, ein Museum für zoologische Präparate, einen Gletschergarten (zurückgehend auf die zufällige Entdeckung von sogenannten Gletschertöpfen, also Strudellöchern, in unmittelbarer Nachbarschaft von den vorgenannten Objekten), ein dem Löwen-Denkmal eigens gewidmetes Museum, das Bourbaki-Monumental-Panorama (aus Genf transloziert, zeigt Szenen von der Invasion der französischen Armee in die neutrale Schweiz 1871), ein sogenanntes Alpineum, schließlich das Internationale Kriegs- und Friedensmuseum. Es wird klar und deutlich herausgearbeitet, dass und wie unter geradezu ausschließlicher Berücksichtigung dessen, was man zunächst Fremdenverkehr und später Tourismus genannt hat, eine innenstadtnahe Gegend programmatisch geformt, erweitert und somit umgeformt wird, auch in Bezug auf Erfolge und Misserfolge oder gar beträchtliche Krisen, was nicht zuletzt mit neueren Entwicklungen auf dem Sektor der popularen Unterhaltungs- und Vergnügungsaktivitäten zu tun hat (Sport, Kino, Gruppenreisen). Und: „Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging Luzerns Tourismusblüte abrupt zu Ende.“ (88)

Der kürzere zweite Teil setzt sich mit der „Maschinerie der Bilderfabrik“ auseinander, mit der Industrialisierung des touristischen Angebots, vor allem des Angebots von Bildern, die ja einen Großteil sämtlicher Bestandteile der Tourismusmeile ausmachen, dies unter inhaltlichen, formalen, medialen und funktionalen Gesichtspunkten. Da geht es um den Blick und die Vielfalt von Blicken, um die Konstruktionsprinzipien von Parks, um die Bedeutung von Vor- und Frühgeschichte, um Naturgeschichte, um Humanitätskonzepte, technische Innovationen, schließlich um Fragen der Medialität. Andreas Bürgi begibt sich in diesem Teil seiner Studie, die Goffmansche Vorderbühne verlassend, auf die Hinterbühne, während er im kürzesten dritten Teil sich der Ausdeutung der vorherigen Ausführungen widmet. Unter der Überschrift „Die Galerie der Bilderfabrik: eine globalisierte Schweiz“ geht er den Bedeutungen nach, welche die Luzerner Anlage für ihre Nutzer gehabt haben könnte. Und er gelangt zu dem Schluss, dass ein ganzes Set von Elementen zentral am Wirken war: die Kommerzialisierung: Vergnügen und Belehrung als Ware; die Medialisierung: enorme quantitative und qualitative Expansion der Vermittlungsmedien; die Internationalisierung: europaweite Ausbreitung von kulturindustriellen Konzepten und Einrichtungen, besonders im Gefolge der Weltausstellungen; die Psychologisierung: traumartige Bricolage (Bastelei) der Darstellungen. Alle diese Elemente der Zurichtung des Schweiz-Bildes lassen sich als Bestandteile eines Modernisierungsprozesses betrachten, der eher nach außen als nach innen zur Wirkung kommen sollte. In höchstem Maße überrasche es nur, dass er vom „Zentrum der politisch und gesellschaftlich konservativen Innerschweiz“ ausgegangen sei - und nicht von einer der „Metropolen des Kontinents“ (168).

Der hervorragend ausgestattete Band, dem es gelingt, eine vermeintliche kleinteilige Quartiersgeschichte voller Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten auf dem Sektor kultureller Aktivitäten und Objekte mit weltweiten, im Zeichen der sich ausbreitenden Moderne geschehenden Entwicklungen anschaulich und plausibel in Verbindung zu bringen, kombiniert in eindrucksvoller Weise die Forschungsfelder Stadtgeschichte und Kulturgeschichte. Von einer zweiten Auflage, welche dem Band sehr zu wünschen ist, könnte man sich allerdings einen abgedruckten oder mitgelieferten Stadtplan erwarten, damit der Leserschaft das angesprochene Mit- und Nebeneinander der Einheimischen- und der Touristen-Welten (34) innerhalb Luzerns noch deutlicher vermittelt werden kann.

 

[1] Wolfgang Brückner u. Christa Pieske: Die Bilderfabrik. Dokumentation zur Kunst- und Sozialgeschichte der industriellen Wandschmuckherstellung zwischen 1845 und 1973 am Beispiel eines Großunternehmens. Frankfurt am Main 1973.