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Tobias Grill

Volksmusik wie aus dem Bilderbüchl. Inszenierung, Rezeption und Wirkung idealistischer Konstrukte in der Lied- und Musikpflege Wastl Fanderls

(MusikLeben 4), München 2016, Bayerischer Landesverein für Heimatpflege, 829 Seiten mit 23 Abbildungen, 99 Notenbeispielen
Rezensiert von Philipp Ortmeier
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.05.2018

Ein Bilderbüchl ist sie nicht - dem Titel zum Trotz -, eher schon hat sie biblische Ausmaße: die gedruckte Dissertation des Münchener Musikwissenschaftlers Tobias Grill mit dem Titel „Volksmusik wie aus dem Bilderbüchl. Inszenierung, Rezeption und Wirkung idealistischer Konstrukte in der Lied- und Musikpflege Wastl Fanderls“. Sie umfasst stattliche 829 Seiten und ist das Ergebnis einer langjährigen Forschungsarbeit. Erschienen ist sie 2016 als Band 4 in der von Elmar Walter herausgegebenen Schriftenreihe „MusikLeben“ des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege.

Eines darf schon vorweggenommen werden: Dem Autor wie auch dem Herausgeber gebührt größte Anerkennung für dieses Buch. Nicht nur, weil es sich der Person Wastl Fanderl mit enormem Fleiß und großer akademischer Hingabe in nie zuvor dagewesener Tiefe und Breite annimmt. Nein, vor allem, weil es dabei durchaus unbequeme Positionen vertritt, am vertrauten und liebgewonnenen Idealbild eines der großen Säulenheiligen der bayerisch-alpenländischen Volksmusikpflege kratzt. Zu einer solchen Setzung gehört schon eine gehörige Portion Mut. Genau der aber ist wichtig, ja unerlässlich für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit einer solch zentralen Figur der Volksmusikpflege in Bayern. Es sei nicht unerwähnt, dass es dem Autor dabei dennoch überwiegend gelingt, die besondere Lebensleistung Fanderls ungeachtet all der kritischen Reflexion und Entlarvung idealistischer Konstrukte würdigend herauszuarbeiten.

Worum geht es? Kurz gesagt: das Wirken Wastl Fanderls in den zeitübergreifenden Kontext der bayerisch-alpenländischen Volksmusikpflege einzubetten. Dazu werden Vorbilder und Anknüpfungspunkte (Volksliedtheorie von Josef Pommer, Volksliedpflege bei Kiem Pauli) aufgezeigt, wesentliche Aspekte seines Schaffens herausgearbeitet (Liedauffassung, polymediales Pflegekonzept) und die rezeptiven Folgen für das Bayernbild benannt.

In sechs Hauptkapitel teilt Grill seine Arbeit ein: Nach einer ausführlichen Ein- und Hinführung wird Fanderls polymediales Pflegekonzept vorgestellt. Den Liedern widmet sich ein eigener Abschnitt, bevor die Rezeption und Wirkung von Fanderls Aktivitäten untersucht werden. Ein Resümee und ein umfangreicher Anhang beschließen das Werk. Mangels einer Nummerierung braucht es ein wenig, um die komplexe Struktur der Arbeit mit ihrer Einteilung in Hauptkapitel, Kapitel und Unterkapitel zu durchschauen. Hat man sich erst einmal hineingedacht, scheint sie aber durchaus sinnfällig.

Zum Kapitel „Einführung“: Den Prinzipien einer Dissertation gemäß werden zunächst der Gegenstand beschrieben, der Forschungsstand referiert, die zugrundeliegenden Fragestellungen formuliert sowie die Quellen und Methoden vorgestellt. Der Autor versäumt nicht die Diskussion einschlägiger Fachbegriffe: ein unerlässliches Gebot, da doch gerade diese im Laufe der Zeit mit Klischees und normativ-ahistorischen Idealen aufgeladen wurden (u. a. Volksmusik, Volkslied, alpenländisch).

Es schließt sich ein geschichtlicher Abriss der Volksmusikforschung und -pflege im deutschsprachigen Raum sowie speziell in Bayern vom 19. Jahrhundert bis zur NS-Zeit an. Insbesondere dem Wirken von Kiem Pauli und Kurt Huber bescheinigt der Autor eine Tendenz zur „zentralistisch organisierte[n] Steuerung“ (124): So werde die „sich bereits im 19. Jahrhundert abzeichnende selektive Einengung des beforschten und gepflegten Repertoires auf das als alpenländisch bezeichnete Lied- und Musikgut [...] hier nicht nur stringent fortgesetzt, sondern zur mitunter bis heute gültigen dogmatischen Norm erhoben“ (124). Auch Fanderls frühes Wirken stehe in diesem Kontext: „Nicht zuletzt Fanderls ausgiebige Tätigkeiten als Singlehrer für die NS-Jugendorganisationen und innerhalb der Wehrmacht, bei denen überwiegend alpenländisches Liedgut zum Einsatz kam, belegen, dass eine derartige Lied- und Musikpflege nicht nur geduldet, sondern, zumindest in diesen Fällen, sogar vom Regime gefördert wurde.“ (128) Um der Zensur zu entgehen, habe man überwiegend „unverfängliches Liedgut“ (130) gewählt.

Bei der anschließenden Vorstellung wichtiger Protagonisten der Volksmusikpflege (u. a. Tobi Reiser, Kiem Pauli, Annette Thoma) hätte man sich teils etwas ausführlichere, nicht nur das Biografische berührende Informationen gewünscht. So erfährt man zum Beispiel nichts über das andernorts als so fundamental erachtete Volksliedverständnis Josef Pommers.

Erfreulich ausführlich gerät dagegen das Kapitel zu Fanderls Volksmusikverständnis, auch wenn es nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Fanderls eigene Aussagen eher spärlich gesät sind. Die Haltung, insbesondere die Volksliedauffassung, einzelner Autoren der „Sänger- und Musikantenzeitung“ mit der von ihrem Herausgeber Wastl Fanderl einfach gleichzusetzen, ist – wenngleich naheliegend – jedenfalls nicht unproblematisch. Es bleibt aber festzuhalten, dass Fanderl bei der Bewertung von Volksliedern offenbar denselben Maßstab ansetzte wie seine Vorgänger: So beurteile auch er die „Echtheit derselben anhand rein subjektiv-ästhetischer Wertkriterien“ (179) und nehme eine „selektive Auswahl des Verbreitungswürdigen“ (182) vor. Als Bewertungsgrundlage werden wiederholt subjektiv-emotionale Begriffe wie Gespür, Gefühl oder Herz bemüht. Insgesamt berufe er sich mit dieser Haltung ganz auf das Vorbild Pommer: „Die Glorifizierung jener Volkskultur, die Bausinger, wie bereits gezeigt, später endgültig als Konstrukt entlarvte, zieht sich durch das gesamte Werk und Wirken Fanderls.“ (174)

Dabei attestiert Grill ihm nur bedingt eine Offenheit gegenüber anderen Auffassungen. Überhaupt tauchten „reflexive und tatsächlich öffentlich geäußerte Gedanken Fanderls [...] erst gegen Ende seiner Karriere auf“ (171). Grill konstatiert, dass er zu diesem Zeitpunkt „bereits aus einer recht bequemen Position heraus argumentierte“ (172), da er nicht mehr finanziell davon abhängig gewesen sei. Außerdem erkennt er in der Reaktion auf zunehmend kritische Stimmen „eher halbherzige, in erster Linie der Diplomatie und Konfliktvermeidung geschuldete Zugeständnisse an Kritiker, an die Kosmetik der öffentlichen Wahrnehmung seiner Person“ (172) und folgert daraus „opportunistische Züge“ (172). Hier steckt der Autor den Interpretationsrahmen denkbar weit ab und man mag ihm nicht mehr so recht folgen. Auch „dass es [...] der öffentlich agierende Fanderl mit der von ihm nach außen hin propagierten und vertretenen Auffassung nicht immer ganz so genau nahm“ (173), unterstellt dem nicht akademisch vorgebildeten Laienmusiker Fanderl eine planvolle Absicht und Konsequenz, die so vielleicht schlichtweg nicht gegeben war. Gerade diese Passagen des Buches dürften ehemalige Weggefährten und Anhänger Fanderls auf den Plan gerufen und zum teils vehementen, auch öffentlichen Widerspruch animiert haben. Leider ließ so manches, was da in einschlägigen Szeneblättern über den tüchtigen jungen Wissenschaftler zu lesen war, nicht nur jegliche sachliche Argumentationsgrundlage vermissen, sondern auch die Regeln der guten Sitte und des Anstandes weit hinter sich.

Doch zurück zum Thema: Der Beziehung Fanderls zum Bayerischen Landesverein für Heimatpflege widmet sich das folgende Kapitel. Hauptsächlich von 1948 bis 1963 existiert dazu umfangreiches Korrespondenzmaterial, der Landesverein unterstützte Fanderl etwa durch Gutachten zur Lernmittelfreiheit oder Werbemaßnahmen für seine Publikationen. Für die danach einsetzende zunehmende Distanz vermutet Grill auch „persönliche Differenzen und Animositäten mit Kurt Becher“ (244), dem damaligen Leiter der Volksmusikabteilung. Doch auch inhaltlich war man offenbar nicht auf einer Linie: So stehe auf der einen Seite Fanderls „gesamtbayerisch vereinheitlichte, weitgehend ober- bzw. altbayerisch geprägte Liedpflege“ (245), auf der anderen Bechers „intensivierter Regionalbezug“ (245) und paritätischer Dreiklang „Lied, Musik und Tanz“ (245). Auch Neid könnte eine Rolle gespielt haben, nachdem „Becher [...] weitaus weniger medial und zelebrativ-inszenierend als Fanderl [agierte]“ (245). Hier wird erstmals dem Verhältnis zweier grundlegender, gleichwohl sehr unterschiedlich ausgerichteter Akteure der Volksmusikpflege nach 1945 nachgegangen. Dass dies in so offener und ehrlicher Weise unter dem Dach der Herausgeberschaft des davon mitberührten Landesvereins geschieht, verdient Respekt.

Das folgende Kapitel „Konzeption“ stellt Fanderls polymediales Pflegekonzept vor. Dies umfasst seine Druckerzeugnisse (Liederbogen und Liederblätter, Liederbücher, „Almfried“ und „Sänger- und Musikantenzeitung“), die Singwochen, Hörfunk und Fernsehen, Tonträger sowie Fanderls Tätigkeit als Volksmusikpfleger des Bezirks Oberbayern.

Die Liederbogen wertet Grill als „pragmatische, jederzeit einsetzbare Orientierungshilfe und wertvolle Gedächtnisstütze“ (265), wobei ihre Form „nostalgische Reminiszenzen an die gute alte Zeit“ (265) wecke. Das erste Liederheft „Lieber Herrgott, sing mit!“ von 1942 sei „das erste gedruckte Zeugnis Fanderls, an dem sich seine offensive Propagierung der neuen eng geführten Dreistimmigkeit zeigt“ (270). Das Liederbuch „Hirankl Horankl“ von 1943 enthalte „weder Liedtexte noch sonstige Passagen mit offensichtlich NS-geprägter Rhetorik“ (271), aber durchaus regimekonforme Ideale, z. B. das „Rollenbild der Frau als sorgende Mutter“ (271). Ins Auge fielen aber vor allem gewalt- und kriegsverherrlichende Passagen in einigen Liedern: So sei die „Integration derartiger Inhalte in ein Liederbuch, das vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendpädagogik eingesetzt werden sollte, äußerst fragwürdig“ (276). In der Nachkriegspublikation „almerisch jagerisch. Oberbayerische Lieder gesammelt von F. von Kobell“ von 1957 wiederum bot dann der Bezug zu Kobell die Möglichkeit, „die fiktiven Anknüpfungspunkte der aktuellen Liedpflege ganz bewusst in die Zeit vor 1933 zu setzen“ (277). Als „Versuchsplattform“ (287) stuft Grill die hier erstmals untersuchten, weithin vergessenen Liedbeiträge aus der Zeitschrift „Almfried“ ein. Mit dem konkreten Verweis auf die eigene Autorschaft bricht Fanderl dann in der Publikation „Is’s a Freud auf der Welt“ von 1987 ein „langjähriges Tabu der zeitgenössischen Volksliedideologie“ (280). Auch im „Verzicht auf das Attribut Volk“ (282) in seinem Liederbuch „Oberbayerische Lieder“ von 1988 erkennt Grill ein „weiteres Indiz für die zunehmende Reflexion“ (282). Insgesamt sei aber durch Fanderls jahrzehntelange Publikationstätigkeit „ein äußerst eng gefasster und idealisierender Kanon des alpenländischen Volksliedes erschaffen, propagiert und tiefgreifend in der Praxis verankert“ (288) worden.

Mit seinen Singwochen knüpfte Fanderl an die Tradition der Finkensteiner Bewegung und Walther Hensel an, die dem Volkslied eine „erzieherische Funktion“ (299) zumaßen und das Ziel verfolgten, die „Volksgemeinschaft [zu] festigen“ (298). Auch wenn Fanderl wiederholt eine „Abneigung gegen eine von Zwang oder Leistungsdruck geprägte Atmosphäre“ (317) äußerte, sei dennoch ein „klarer Erziehungsgedanke“ (318) erkennbar. Dabei seien „völkisch-nationalistische Gedanken [...] im Grunde nur durch regionalpatriotische Bestrebungen ersetzt [worden]“ (319 f.). Die medialen Stränge von Fanderls Wirken mündeten hier im „Konzept der interaktiven, persönlich-direkten Vermittlung“ (329). Die Singwochen bildeten damit nicht nur eine „wichtige Präsentationsplattform und Experimentierstube für die eigenen Liedneuschöpfungen und -bearbeitungen“ (325), sondern entwickelten sich auch zur „Kaderschmiede“ (325) zahlreicher Drei- und Viergesangsgruppen. Mit der reichlich polemischen Formulierung, die Gemeinschaft der Singwöchner bilde so etwas wie den „Zentralrat der alpenländischen Singbewegung“ und die „Glaubenskongregation unter Führung des Gurus Fanderl“ (329), schießt der Autor dann wohl aber doch über das Ziel hinaus und verlässt die Pfade der üblichen Diktion einer wissenschaftlichen Arbeit. Derlei Vergleiche sind selten erhellend und fordern zu Recht den Widerspruch heraus.

Das nächste Großkapitel widmet sich Fanderls Liedrepertoire. Der Autor liefert einen geschichtlichen Abriss der vokalen Mehrstimmigkeit in der alpenländischen Liedpflege, geht auf die Praxis des Liedermachens in der alpenländischen Singbewegung des 20. Jahrhunderts ein und untersucht die Diskrepanz zwischen Druckfassung und intendierter Aufführungspraxis. Nach der Vorstellung von Fanderls Gesamt-Repertoire folgt eine Betrachtung seiner eigenen Liedschöpfungen. Es wird nach Motivation, Quellen und Vorlagen gefragt, zudem werden einzelne Fallbeispiele analytisch untersucht.

Von besonderem Reiz ist die Darstellung der Entwicklung des mehrstimmigen Singens hin zur ursprünglich aus dem Schneeberggebiet stammenden, „eng und parallel geführte[n] dreistimmige[n] Singweise“ (364). Gerade den Praktikern sei sie zur Lektüre wärmstens empfohlen, zumal der Autor auch die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Auffassungen der Wissenschaft (insbesondere bei Walter Kolneder und Erich Sepp, aber auch Hermann Derschmidt und Walter Deutsch) diskutiert. Dabei seien die häufig auftretenden, nach klassischer Satztheorie unzulässigen Quintparallelen und Quartsextakkordfolgen ein „aus der laienhaften Praxis resultierendes, unbewusstes Produkt der eigenwilligen Stimmführung“ (369), das „mit der Zeit als wesentliches Charakteristikum definiert“ (370) und „als Stilmittel bewusst so eingesetzt und weiter gepflegt wurde“ (370). Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass sich die eng geführte Dreistimmigkeit „nicht aus einem soziokulturellen Tradierungsprozess heraus entwickelt [habe]“ (373), sondern ein „vor allem mithilfe der neuen Medien Hörfunk und später auch des Fernsehens geschickt vermarktetes Kunstprodukt gezielter Geschmacksbildung nach der Idealvorstellung einiger weniger Protagonisten der alpenländischen Singbewegung des 20. Jahrhunderts [sei]“ (373).

Dennoch habe man „versucht, die dreistimmige Singweise als eine alte, in Bayern und Österreich weit verbreitete Tradition darzustellen“ (373) und sie zugleich durch die „Verankerung in der Entwicklungsgeschichte des gesamtalpenländischen Volksgesangs und die Bezugnahme auf vermeintlich allenthalben vorhandene, jedoch versiegte Traditionen zu rechtfertigen“ (374).

Im Folgenden beleuchtet der Autor Fanderls eigene Liedschöpfungen, die er „ausschließlich und gezielt für den Gebrauch im Rahmen der zeitgenössischen und weitgehend institutionalisierten Liedpflege“ (461) geschrieben habe. So zeigten sich „Singstunden, Singwochen sowie die Liedvermittlung in Kindergärten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen [...] als zentrale Pfeiler im pflegerischen Gesamtkonzept Fanderls“ (461). Demgemäß seien die Lieder inhaltlich „weitgehend frei von allem in der Regel als männlich konnotierten Prahlerischen, Zotigen und Derben“ (462). Einige Neuschöpfungen mit ungewöhnlichen Themen zeigten, „dass es Fanderl offenbar doch gelang, zeitgenössisch moderne Inhalte – jedenfalls in gemäßigter Form – in das ansonsten betont traditionalistisch gehandhabte Repertoire zu integrieren“ (463). Hinsichtlich der Satztechnik sei „keine eindeutige Bevorzugung eines bestimmten Modells erkennbar“ (466). Letztlich seien die eigenen Liedschöpfungen das „Ergebnis eines Pragmatismus“ (466), der „in Fanderls mangelhafter musiktheoretischer Bildung begründet liegen dürfte“ (466). Die schöpferische Leistung liege „wohl eher in der Collage und dem Zusammensetzen von Melodie- und Textfragmenten“ (466), wobei sich der persönliche Schreibstil durch „stereotype Muster“ (468) und die „Kumulation von als typisch geltenden Eigenschaften“ (468) äußere. Ohnehin seien die Lieder gemäß Fanderls Auffassung vom „Wandel des Liedgutes durch mündliche Tradierung und [...] Variabilitätsprozess des Zurecht- und Umsingens“ (467) nicht als endgültige Fassungen anzusehen.

Das Kapitel „Rezeption und Wirkung“ beschreibt Repertoire, Besetzung, Aufführungspraxis, Kleidung und Mode der alpenländischen Lied- und Musikpflege in Bayern. Es zeichnet zudem die Wege der Institutionalisierung nach und untersucht die Ausstrahlung von Fanderls Wirken im benachbarten Ausland (Österreich, Südtirol). Ferner wird das Phänomen Volksmusik in den Medien beleuchtet sowie Fanderls Beitrag zur Identitätsstiftung nach 1945 und sein Einfluss auf die (idealisierte bzw. folklorisierte) Selbst- und Fremdwahrnehmung Bayerns beschrieben.

Als aufschlussreich erweisen sich statistische Erhebungen, die Grill anhand der Befragung von ausgewählten Gesangsgruppen vorgenommen hat. So besäßen 84 % die Liederbögen bzw. deren gebundene Form und sogar 92 % hätten Neuschöpfungen von Fanderl selbst im Repertoire.

Grill geht noch einmal auf die Etablierung der eng geführten Dreistimmigkeit ein, die als wesentliche Leistung Fanderls angesehen werden könne. Deren Träger sei „vor allem die konzertierende, vortragende Gesangsgruppe“ (476), womit Fanderl die „Erschaffung und Etablierung eines völlig neuen Musikstils“ (477) bewirkt habe.

Durch seine Aktivitäten habe Fanderl „auch zum Prozess einer bayerischen Identitätsbildung beigetragen“ (512). Vor allem seine Fernsehsendung „Baierisches Bilder- und Notenbüchl“ sei so „nicht nur zur konkurrenzlosen Stil- und Geschmacksschmiede für die alpenländisch orientierte bayerische Musik- und Kulturlandschaft, sondern zur national und international beachteten Schaufensterpräsentation eines vermeintlich echten Bayern“ (516) geworden. Man habe ein „romantisch-idyllisierendes Idealbild bayerischer Kultur“ (516) präsentiert, das im Laufe der Zeit zum „Klischee seiner selbst“ (517) geworden sei, und habe damit „Bedürfnisse nach Kontinuität und heimatlicher Geborgenheit“ (518) erfüllt.

Der das Buch beschließende, umfangreiche Anhang enthält Repositorien und Register zur Person Fanderl (eigene Lied- und Instrumentalmusikneuschöpfungen, Musikalia, Diskographie, Schriften und Sendungen), diverse Verzeichnisse (Abkürzungen, Abbildungen, Notenbeispiele, Quellen und Literatur) und ein Personenregister. Grills Arbeit empfiehlt sich damit auch als praktisches Nachschlagewerk. Schön wäre es freilich gewesen, wenn auch der Autor selbst dem werten Leser in einem kurzen Steckbrief vorgestellt worden wäre.

Abschließend kann festgestellt werden, dass Grill die Person Wastl Fanderl nachvollziehbar und mit viel Detailwissen in die Geschichte der Volksmusikpflege im 20. Jahrhundert eingebettet und seine diesbezügliche Lebensleistung umfassend herausgearbeitet hat. Er zeigt aber auch auf, dass Fanderls Tätigkeit nicht frei von Widersprüchen ist: etwa, dass er zwar den privaten intimen Rahmen von Volksmusik propagierte, sich dazu aber der Massenmedien bediente; oder dass er zwar auf die bäuerlichen Ursprünge des Volksliedes verwies, in Neuschöpfungen aber auch zeitgenössische Themen (z. B. Skifahren) behandelte. Natürlich sollte dabei nicht vergessen werden, dass Fanderl weder Wissenschaftler noch akademisch geschulter Musiker war, sondern aus einem sehr persönlich-subjektiven Zugang zum Gegenstand heraus operierte. So bleibt festzuhalten, dass manche Erkenntnis aus Grills Arbeit manch glühendem Verehrer Fanderls sicherlich wehtun wird – die teilweise erbosten Reaktionen in einschlägigen konservativen Blättern zeigen das unmissverständlich. Dabei bietet dieses Buch gerade für jene die Chance, Fanderls außer Frage stehende Lebensleistung befreit von ideologischen Scheuklappen zu würdigen.

Tobias Grill hat mit seiner Doktorarbeit ein streitbares, aber profundes und – schon ob seiner Monumentalität – umfassendes Werk vorlegt. Nicht jeder wird dem Autor in allen Punkten folgen können und wollen – und das ist auch gut so. Möge sein Opus maximum die kritische, auch kontroverse, aber sachliche Diskussion befruchten und zugleich den Autor vor unsachlichen, aus emotionalem Impuls heraus geäußerten und persönlich diffamierenden Angriffen bewahren!