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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


J. J. Voskuil

Das Büro

Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. Berlin, Verbrecher Verlag. Bd. 4: Das A. P. Beerta-Institut, 2015, 1069 Seiten. Bd. 5: Und auch Wehmütigkeit, 2016, 991 Seiten. Bd. 6: Abgang, 2017, 741 Seiten. Bd. 7: Der Tod des Maarten Koning, 2017, 254 Seiten
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.05.2018

Im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde ist der niederländische Volkskundler und Romancier J. J. (Han) Voskuil (1926–2008) mit seinem Opus magnum „Het Bureau“ (in 7 Bänden 1996-2000) schon dreimal ausführlich gewürdigt worden. Der Autor war dreißig Jahre lang, von 1957 bis 1987, „wissenschaftlicher Beamter“ am „Meertens-Institut für Dialektologie, Volks- und Namenkunde“ in Amsterdam. Er hat nach der Pensionierung unter dem Pseudonym Maarten Koning des Icherzählers das gesamte Werk in vier Jahren geschrieben. Unsere früheste Rezension galt im Jahrbuch 2012, S. 159 f., einem Heft der Münsteraner Niederlande-Studien, betitelt „Het Bureau. Ein Abend mit J. J. Voskuil“. Einer der beiden Herausgeber war Gerd Busse, der darin u. a. über seinen Übersetzungsversuch von Het Bureau berichtete.

Der 1. Band der deutschen Übersetzung erschien 2012 bei Beck in München (siehe die Rezension im BJV 2013, S. 195-197). Im Jahrbuch 2016, S. 190 f., konnten die Übersetzungen der Bände 2 und 3 der Jahre 2014/15 besprochen werden, die der Berliner Verbrecher Verlag herausgegeben hat, wie auch die übrigen Bände 4-7. Somit liegt nun das Werk vollständig auf Deutsch vor. Die rein physische Übersetzungsleistung der insgesamt 5200 Buchseiten darf grandios genannt werden, auch angesichts der finanziellen Widerstände, die durch Stipendien von Kulturstiftungslegaten gemildert werden sollten.

Die naheliegende Vorstellung mancher Besprecher des Opus, hier habe der Verfasser über Jahrzehnte Tagebuch im Dienst geführt und nun lediglich den Zettelkasten zum Druck gebracht, ist völlig falsch. Es handelt sich vielmehr, wenn auch in chronologischer Folge, um Alltagsgeschichten zwischen Schreibtisch und Cafeteria, genauer noch um bezeichnende Dialoge der Mitarbeiter des kleinen Personalhaufens eines öffentlichen, aber außeruniversitären wissenschaftlichen Instituts vom Rande der Scientific Community. Dafür werden allerdings im 1. Band die Verhältnisse geschildert und die handelnden oder faulenzenden Figuren (alle mit Decknamen) vom Chef bis zu den Aktuaren im Archiv vorgestellt, voran der namengebende Direktor Anton P. Beerta (= Meertens). Somit verunklärt der umgangssprachliche Begriff „Büro“, womit dann Bebilderungen in der Presse aus Vergangenheit und Gegenwart der Großindustrie aufwarten, den Sachverhalt. Es geht um ein Mini-„Institut“, das von Ministerien finanziert und kontrolliert wird. Im 2. Band werden aus den Jahren 1965-1971 die Personalcharakterisierungen durch den Umgang in typischen Gesprächssituationen weiter vertieft und Auslandsbesuche nach Stockholm und Bonn samt dem dortigen Kollegenbestand indirekt vorgestellt. In Band 3, 1972-1975, folgt eine Ausbreitung wissenschaftlicher Tagungspsychologien am Beispiel eines Symposions der europäischen Kulturatlanten in Bonn.

Band 4 markiert die Jahre 1975-1979. In der Liste der häufiger vorkommenden Personen finden sich an Ausländern (aus holländischer Sicht) zunächst der Niederländer auf dem Bonner Volkskundelehrstuhl von Matthias Zender (im Roman „Seiner“ geheißen), Karl Appel genannt, in der Realität H. L. Cox; aus Russland ein „Bloch“; aus Schweden eine Dame mit verstelltem Namen „Åso Bosse“ (in Band 3 schon Nils-Arvid Bringéus unter dem Pseudonym „Arved Nilsson“); aus Österreich eine „Edith Schenkle“ (= Editha Hörandner)und für den Europäischen Atlas eine „Irmgard Kretsch“ (= Ingrid Kretschmer); aus Schottland „Alex Stanton“; aus Nordirland „Thompson“; aus Kroatien der verteufelte „Horatic“, da er für einen Europäischen Atlas Ärger machte; aus Bonn „Frau Doktor Grübler“ (= die lang gediente Gerda Grober-Glück); ebenfalls aus Bonn „Kleinschmidt“ (= Wolfgang Kleinschmidt) in Band 7; in Band 6 der Münsteraner Niederlandist „Gorissen“; aus Münster immer wieder „Güntermann“ (= Günter Wiegelmann), dem im folgenden Band der „Dietermann“ (= Dietmar Sauermann) zur Seite steht und noch „H. Bauknecht“ (= Hinrich Siuts) auftaucht und in Band 6 ein „Gärtner“ als Professor für Volkskunde in Münster; schließlich ein deutscher Volkskundeprofessor „Lehmann“ (= Albrecht Lehmann); aus der DDR „Ulrich Panzer“ (= Ulrich Benzin aus Rostock), in Band 2 noch „Petsch“ (= Reinhard Peesch) aus Rostock; dann „Sonderegger“ (= Robert Wildhaber) aus Basel, früher schon „Walter Tränkle“ (= Walter Escher) aus Basel; eine „Eszter Kovács“ aus Ungarn, auch von dort „Lajos Lukács“; in Band 5 tauchen noch „Henri Klee“ aus Luxemburg und „Axel Klastrup“ aus Dänemark auf, viel früher aus Finnland „Kusta Valkura“.

Um welche Ereignisse ranken sich die genannten Dialoge im Kreis der Mitarbeiter? Es seien einige Beispiele aus den Bänden 4–6 genannt. Da gibt es nach dem Schlaganfall des Direktors und seiner Frühpensionierung zunächst eine Vollversammlung der Institutsmitglieder, bei der alle Usancen und Peinlichkeiten einer unordentlichen Sitzung durchgespielt werden. Dabei ergeben sich Einblicke in die Aufgabenstellung der einzelnen Abteilungen des Instituts, voran die Aufgaben an der Veröffentlichung eines Periodikums. An späterer Stelle lassen sich die Unterhaltenden über psychologische Aspekte von Krankheiten in ihren Familien aus. Schließlich geht es um einen Besuch bei dem sich in der Reha erholenden Direktor. Zwischendurch schiebt der Icherzähler längere Szenen aus seiner Ehe ein, natürlich auch hier in der Form von dialogischen Gesprächen mit seiner Frau, auch auf dem Fahrrad in den Dünen. Die Institutsgemeinschaft fährt ebenfalls mit dem Fahrrad in ein Moormuseum, was viele Möglichkeiten der Gesprächssituationen ergibt. So auch angesichts von Bewerbungsgesprächen potentieller neuer Kollegen. Ähnlich steht es mit einer Dienstreise nach Belfast. Da lassen sich dann Reflexionen über das eigene wissenschaftliche Tun einflechten und zwar von der räsonierenden Art wie: „Das Fach, das wir betreiben, ist kein Fach mehr.“ (Bd. 4, 798)

Dieses Statement scheint manchen Rezensenten Recht zu geben, die mit dem Gegenstandskanon seiner Forschungen den doch eigentlich unerbittlichen wissenschaftlichen Kritiker seiner (unserer älteren) Volkskunde lächerlich zu machen suchen. Ganz im Gegenteil, denn Voskuil ist in der Fachöffentlichkeit als Verfasser eines beachtlichen Œuvres bekannt. Dass mit ihm einer der letzten seriösen Spezialisten von der bröckelnden akademischen Bühne gegangen ist, lässt sich für eine Reihe Kollegen unserer Generation konstatieren. Es gibt Literaturwissenschaftler, die hier dann Proust, Huysmans oder gar Kafka zum Vergleich heranziehen.

Im Band 5 erlebt der berichtende Wissenschaftler Maarten Koning (= Voskuil) zwischen den Jahren 1979 und 1982 die überall in Europa grassierende Verwaltungsmanie der Evaluation zum Zwecke von Personaleinsparungen, aber auch die ins Arbeitsleben eindringenden zeittypischen Moden. Da gibt es in der Cafeteria auf einmal nur noch „fair gehandelten Kaffee“. Der Erzähler kommt aus dem Urlaub zurück und muss sich neu eingewöhnen. Am Ende aber dreht sich alles um neue Titulaturen und Personalhierarchien. Maarten Koning muss die vorläufige Leitung übernehmen, das heißt wieder Sitzungen überstehen, Berichte verfassen, Manuskripte korrigieren, Abrechnungen machen. Nichts erfährt man im Detail, sondern allein das Räsonnement über derlei Dinge. Eine Vortragsverpflichtung in Münster lenkt vom Ungemach in Amsterdam ab. Man ist zu dritt bei „Güntermann“ (= Wiegelmann), der Informationen über holländische Projekte sucht.

Band 6 „Abgang“ sagt schon im Titel, wie es dem Ende zugeht (1982-1987). Es häufen sich die Abschiede. Schottische und ungarische Fachleute der Sachkulturforschung machen Besuche. Unser Protagonist wird in der ordentlichen Nachfolgefrage des Direktorats gemobbt und will sich nach 30 Jahren im Dienst zur Ruhe setzen. Doch erst noch gibt es wieder eine erholsame Fahrt nach Münster. Dort diskutieren sie über „Inventare“. Das sind die seinerzeit in der Frühneuzeitgeschichte frisch entdeckten Hinterlassenschafts- oder notariellen Nachlassprotokolle als kulturelle Quelle. Für die Eisenbahnheimfahrt hat einer der Mitarbeiter in Münster noch schnell eine Flasche Doornkat erworben.

An späterer Stelle streitet man sich über „Aufsätze“, sprich Schriftsätze für Referate, über deren Stil und das Zum-Abschluss-Kommen. Zu Hause diskutiert Maarten mit seiner Frau über das „Nichts“. Am Ende und beim Abschied reflektiert er über seine Zukunft nach dem Berufsleben. „Und dann fängst du ein neues Leben an mit der ersten Seite eines Romans, der ‚Das Bureau‘ heißen wird“, so formuliert 1994.

Band 7, der letzte schmalere Band als die übrigen, firmiert unter dem fingierten Sterben des Autors, der lediglich davon träumt. Seine Pensionierung und das Rentnerdasein wollten ihm zunächst gar nicht bekommen. Seine einstigen Kollegen vermissten ihn nicht nur nicht, sondern traten seine Erinnerung mit Füßen, indem sie sein Zimmer um- und seinen Schreibtisch verräumten. Daraufhin stellte er seine unnötig gewordenen Besuche ein und ließ sich 1988 in Münster von Wiegelmann feiern. Schon die Bahnhinfahrt tat ihm gut. – Das Werk wird abgeschlossen durch den gespielten Scheintod als literarische Inszenierung, formuliert am 26.1.1995.

Dirk Schümer, der seinerzeitige Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen in den Niederlanden hat in seiner Zeitung am 6.10.2012 aus Anlass der Übersetzung von Gert Busse unter der Überschrift „Der Karteikasten als Schicksal“ formuliert: „Es entstanden Fanclubs, literarische Reiseführer, Listen mit gelüfteten Pseudonymen, Büro-Feste“, und: „All das, was Voskuil aus seinem unscheinbaren Berufs- und Privatleben als Volkskundler und Literat in Worte gegossen hat, gehört zu den ganz großen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Ein anderer überschwenglicher Rezensent notierte, dass in den USA bei einem vergleichbaren Hype um den Roman wie in den Niederlanden dieses Werk gewiss für den Nobelpreis nominiert worden wäre.