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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Christian Georg Ruf

Die Bayerische Verfassung vom 14. August 1919

(Schriften zum Landesverfassungsrecht 4), Baden-Baden 2015, Nomos, 978 Seiten
Rezensiert von Christoph Becker
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 24.05.2018

1. Rufs Schrift lag im Wintersemester 2013/2014 als Inauguraldissertation der Juristischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vor. Betreuer der Arbeit und Erstgutachter war Fabian Wittreck, das Zweitgutachten erstattete Bodo Pieroth. Der Band erscheint in der im Jahre 2013 eröffneten Reihe der Schriften zum Landesverfassungsrecht, welche Peter Michael Huber (München und Karlsruhe) und Fabian Wittreck gemeinsam herausgeben.

Ruf gibt seinem umfangreichen, das für eine Dissertation Erforderliche weit übertreffenden Werk einen sorgsam bedachten Aufbau. Dessen Hauptschritte sind eine den Leser zügig in die Thematik einführende Einleitung (A), eine rund hundertjährige Vorgeschichte (B), als Hauptsache die Gehalte der Bayerischen Verfassung von 1919 (C), ihre geplanten und verwirklichten Änderungen (D), ihr Geltungsverlust in der Zeit des Nationalsozialismus (E), das Fortwirken in der Neukonstitution Bayerns nach dem Zweiten Weltkrieg (F) sowie eine abschließende Gesamtschau (G).

2. Die Einleitung setzt bei der Neugestaltung der deutschen Gliedstaaten nach dem Ersten Weltkrieg an. Plausibel betont sie das Ende der Monarchie (S. 31). Weniger einsichtig sind die weitere Betonung, dass in Reich und Gliedstaaten der Demokratie Bahn gebrochen worden sei (ebd. S. 31), und die Bezeichnung der Weimarer Republik als erste Gehversuche der Demokratie auf deutschem Boden (S. 32). Die These müsste zurückhaltender lauten, dass die Zeit nach Ende des Ersten Weltkrieges demokratische Strukturen in Deutschland wesentlich vorantrieb. Vom erreichten Ziel allgemeiner und gleicher Wahlen her gesehen erscheinen die demokratischen Verfassungselemente in der bis 1918 geltenden Monarchie gewiss unzulänglich. Aber als Entwicklungsschritt begriffen waren sie durchaus wahrnehmbar - nicht nur anderwärts im Deutschen Reich, sondern auch in Bayern, und nicht erst seit der Reichsgründung des Jahres 1871, sondern auch schon davor. Weniger in Bezug auf Demokratie also geschah ab Herbst 1918 ein Aufbruch als vielmehr in Bezug auf die Staatsform Republik.

Eher unbewusst, ohne abgrenzende Absicht fügt Ruf bei Würdigung der Novemberrevolution des Jahres 1918 als von ihm so bezeichneter Ausgangspunkt, Anstoß oder Zündfunke auf dem Weg zur Demokratie die Eigenschaft “repräsentativ” hinzu (S. 32; auch S. 735). Vordergründig ist das lediglich der zutreffende Hinweis darauf, dass Personal- und Sachfragen kaum unmittelbar von den Staatsangehörigen gemeinsam zu entscheiden sind. Es steckt darin aber bei zweitem Zusehen auch ein Hinweis auf den in der Tat neuen Gestaltungsanspruch, dass das ganze, ununterschiedene Volk und nicht nur einige Glieder zur Teilhabe berufen sind. Nicht nur definierte Stände - siehe in Bayern die bis zur Verfassung von 1919 noch ständische Prägung des Landtages im Zweikammersystem von 1818 (Titel 6 § 1 Verfassungs-Urkunde 1818; dazu S. 55 f.) - sind zu hören, sondern alle dem Gemeinwesen Zugehörigen müssen durch Vertreter Mitwirkungsmöglichkeiten haben. Vom Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung her betrachtet gewinnt das für sich genommen nur funktionelle, in Hinsicht auf die Quantität aber neutrale Merkmal der Repräsentativität unter dem Eindruck der nach 1918 realisierten Gleichheitsidee die Konnotation größtmöglicher Pluralität im Sinne einer Vollzähligkeit der Ausgangsgröße Wahlvolk.

Anders ausgedrückt lassen sich nach dem Entwicklungsgang Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, bezogen auf die Individualität eines jeden Staatsangehörigen, nicht mehr von der Repräsentativität trennen - während bis zum Ende des Ersten Weltkrieges demokratische Teilhabe in nichtindividual gedachter Repräsentanz einer gegliederten Gesellschaft und ihrer Institutionen bestand. Wohlgemerkt ist das nur eine Sicht aus dem Nachhinein. Die zu Beginn des 21. Jahrhunderts herrschende Auffassung vom Wesen der Demokratie in Deutschland als Maßstab an die Zustände bis zu den Novemberrevolutionen anzulegen, mag in einer politologischen oder staatstheoretischen Analyse statthaft sein, ist es aber nicht in einer verfassungshistorischen Untersuchung, um die es sich bei Rufs Arbeit ihrer ganzen Anlage gemäß handelt. Insofern wäre der Rufschen Darstellung eine stärker differenzierende Sicht zu wünschen. Der Beobachtungsschärfe des Buches nimmt dieses Desiderat jedoch nichts.

3. Beizupflichten ist Ruf allzumal in seiner Feststellung, dass der Staatsformwechsel der Jahre 1918 und 1919 den Blick auf die im süddeutschen Frühkonstitutionalismus der ersten Hälfte des 19. Jh. liegenden Wurzeln lenkt (S. 32). Die Ankündigung näherer Betrachtung löst er alsbald ein (S. 41 ff.). Zuvor gibt er jedoch einen Überblick zum Darstellungsrahmen seiner Arbeit mitsamt Befunden von Quellenlage und Stand der Forschung (S. 33-40).

4. Der verfassungsgeschichtliche Abriss (B) skizziert zunächst Entstehungsumstände und Gehalte der Verfassungen von 1808 (S. 41 ff.) und von 1818 (S. 50 ff.). Der Schwerpunkt liegt sodann bei den Verfassungsgesetzen des Jahres 1919, nämlich dem Staatsgrundgesetz der Republik Bayern vom 4. Januar 1919 und dem Vorläufigen Staatsgrundgesetz des Freistaates Bayern vom 17. März 1919 (S. 61 ff.) sowie der titelgebenden Bamberger Verfassung, der Verfassungsurkunde des Freistaats Bayern vom 14. August 1919 (S. 95 ff.). Die chronologische Darstellungsfolge schafft den Boden für die im nächsten Teil (C) folgende Auseinandersetzung mit den Gehalten der Bamberger Verfassung. In die Schilderung der Geschichte um die Konstitution von 1808 bringt Ruf zutreffend die außenpolitische Lage mit der Einbindung Bayerns in den von Frankreich dominierten Rheinbund (siehe Titel 1 § 1 Konstitution 1808) und der Gefahr eines napoleonischen Verfassungsdiktats über Bayern als prägend ein (S. 43). Von erheblicher Bedeutung für den Alltag der Bayern waren die nach Verfassungssätzen der Jahre 1808 und 1818 verwirklichten Maßnahmen zur Organisation des Staates; ihre Konzeption stammte zum Teil noch aus dem Ancien Régime. Indes nicht weniger belangreich war, was nicht realisiert wurde. Während Gliederung des Staates, Administration und Gerichtswesen erheblichen Veränderungen unterworfen wurden und gemäß dem in der Konstitution von 1808 niedergelegten Programm (Titel 5 § 7 Konstitution 1808) der Ankündigung im Jahre 1813 ein in seiner Struktur (nicht in seinen Details) noch heute modern erscheinendes bayerisches Strafgesetzbuch entstand, blieb die Schaffung eines neuen bayerischen Zivilgesetzbuches (ebenfalls in Titel 5 § 7 Konstitution 1808 angekündigt) nur Vorhaben, bis am 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich in Kraft trat. Insofern wirkt Rufs Darlegung wiederholt etwas ausweichend (S. 47, S. 49), während der Autor deutlich hervorhebt, dass auch die in der Konstitution von 1808 konzipierte Nationalversammlung (Titel 4 Konstitution 1808) nie zustande kam (S. 48).

5. Der umfangreichste Teil des Buches besteht in ausführlicher Auseinandersetzung mit den Vorschriften der Verfassungsurkunde des Freistaates Bayern vom 14. August 1919 (C). Ruf geht sinnvollerweise nicht in einer für Kommentare typischen Darstellungsfolge gemäß der Paragraphenreihung vor, sondern schreitet anschaulich in Bündelung von Sachaspekten voran. Als Themenfelder erscheinen auf diese Weise Landtag (S. 101 ff.), Gesamtministerium (Ministerpräsident und Minister; S. 213 ff.), Beamtenschaft (S. 322 ff.), kommunale Selbstverwaltung (S. 338 ff.), Rechtspflege (S. 354 ff.), Staatsbürgerschaft (S. 426 ff.), Grundrechte (S. 492 ff.), Staatskirchenrecht (S. 513 ff.), Kultuswesen (S. 608 ff.), Vertretungen der Berufsstände (S. 617 ff.), Stiftungen (S. 621 ff.), Heer (S. 625 ff.), Eisenbahn und Post (S. 631 ff.), Staatsgebiet (S. 638 ff.), Hoheitszeichen (S. 654 ff.), Übergangsbestimmungen (S. 656 ff.) und Schlussbestimmungen (S. 659 ff.).

Dem Abschnitt über die Rechtspflege ordnet Ruf neben den Gerichten auch den Rechnungshof zu. Das überrascht, ist aber mit einem Verweis auf die die Rechtsprechung und die Tätigkeit des Rechnungshofes zusammenfassende Anordnung von Unabhängigkeit (§ 57 Abs. 2 Satz 2 Verfassung 1919) nachvollziehbar gemacht (S. 373). Die Gliederung nach Sachaspekten erleidet freilich einen Bruch, wenn Ruf die religions- und gewissensbezogenen Freiheiten angesichts der Vorschriftenfolge in der Verfassungsurkunde nicht im Abschnitt über die Grundrechte, sondern im Abschnitt über das Staatskirchenrecht behandelt, desgleichen die Kunst, Wissenschaft und Lehre betreffenden Freiheiten im Abschnitt über das Kultuswesen. Dessen ist der Autor sich allerdings bewusst, und er macht den Leser darauf aufmerksam, dass es noch weiterer Ausführungen bedarf (S. 512).

6. Im folgenden Teil über die Änderungshistorie (D) erinnert Ruf unter anderem an Bestrebungen, das Amt eines bayerischen Staatspräsidenten einzuführen (S. 663 ff.), und an die Schaffung einer Abgeordnetenanklage zum Staatsgerichtshof in Parallele zur Ministeranklage, welche die Bamberger Verfassung (§§ 56, 70 Abs. 1) von Anfang an kannte (S. 707 ff). Seine näheren Ausführungen zum Schicksal der Bayerischen Verfassung in den Jahren ab 1933 stellt Ruf zwangsläufig in den Zusammenhang mit den reichsweiten Entwicklungen (E). Er referiert, wie gleichzeitig mit der nationalsozialistischen Machtergreifung auf Reichsebene die Machtübernahme in Bayern verlief - mit Eindringen der Sturmabteilung ins Münchner Rathaus und in den Landtag sowie Einsetzung eines Reichskommissars am 9. März 1933 (S. 750 ff.), Entmachtung der Staatsregierung und Gleichschaltung des Landes Bayern (S. 757 ff.).

Die Wiederbegründung des bayerischen Staatswesens nach Kriegsende beschreibt Ruf, die vorläufige Bildung eines Staates Bayern durch Anordnung der amerikanischen Militärregierung noch im Jahre 1945 nur ganz knapp skizzierend (S. 777 f.), ab dem Auftrag, den die amerikanische Militärregierung am 8. Februar 1946 Ministerpräsident Hoegner erteilte. Hoegner empfing die Weisung, einen Verfassungsausschuss einzuberufen. Dessen Aufgabe sollte es sein, einen Vorentwurf für eine in der Jahresmitte zu wählende verfassunggebende Landesversammlung zu erstellen (S. 778 ff.). Detailliert zeigt Ruf die Gemeinsamkeiten zwischen der Verfassungsurkunde von 1919 und der am 1. Dezember 1946 in einer Volksabstimmung zustande gekommenen und am 2. Dezember 1946 von Ministerpräsident Hoegner ausgefertigten Verfassung des Freistaates Bayern, welche in ihrem Artikel 186 die Verfassung von 1919 aufhob (S. 784 ff.).

7. Die transparente Gliederung der Rufschen Arbeit erlaubt sowohl (trotz mitunter etwas sperrigen oder unbedachten Ausdrucks) eine zügige Lektüre im Ganzen als auch den punktuellen Zugriff. Das überaus reichhaltige Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 911-978) zeugt von tiefer Ergründung des Stoffes und hat hohen bibliographischen Wert. Hilfreich ist ein Quellenanhang (S. 835-909).