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Sandra Keßler

Koreanische Kriegserinnerungen. Interkulturelle Perspektiven auf den Umgang mit Vergangenheit in Südkorea

(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 15), Münster/New York 2017, Waxmann, 355 Seiten mit 42 Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Brigitte Berger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 11.06.2018

Seit dem Ende des Koreakrieges (1950-1953) hat sich der südliche Teil der kleinen Halbinsel an der asiatischen Ostküste von einem der weltweit ärmsten Länder zu einem wirtschaftlich führenden Industriestaat entwickelt. Doch trotz aller Modernität und allem technischen Fortschritt ist Südkorea nach wie vor in strengen Traditionen verhaftet, die im gesellschaftlichen Leben eine sehr wichtige Rolle spielen. So prägt der Konfuzianismus mit seinen hierarchischen Strukturen das Zusammenleben, indem hauptsächlich Alter, Geschlecht, familiärer Hintergrund, Geburts- und Aufenthaltsort sowie Beruf und Einkommen den Status des Einzelnen definieren und somit auch die Kommunikation mit anderen beeinflussen. Dieses System ist nicht unbedingt starr; es kann sich je nach Gesprächskonstellation verändern, was es für Außenstehende noch schwerer durchschaubar macht. Wer damit Erfahrung hat, weiß, welche Herausforderung es für Sandra Keßler gewesen sein muss, sich anhand der Methode des narrativen Interviews und der teilnehmenden Beobachtung tiefgehende Einblicke in das Leben von elf über 80-jährigen Kriegsveteranen zu verschaffen. Ihre Studie, mit der sie 2015 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz promoviert wurde, und wo sie seit 2016 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Kulturanthropologie tätig ist, bietet den besten Beweis für das gelungene Unterfangen. Als junge Forscherin aus dem westlichen Ausland musste sie dafür nicht nur Statusunterschiede aufgrund von Alter, Geschlecht und Herkunft überwinden, sondern auch mit wesentlichen Hemmnissen für Gespräche über persönliches Erleben, insbesondere über erlittenes Leid, zurechtkommen, denn ein möglicher Gesichtsverlust und Scham beim Gegenüber sind im ostasiatischen Kulturkreis stets zu berücksichtigen. Die kluge und sensible Vorgehensweise von Sandra Keßler ist deshalb nicht hoch genug einzuschätzen. Zwischen Nord- und Südkorea existiert bis heute kein Friedensvertrag und die Furcht vor politischen Anfeindungen im eigenen Land, wie zum Beispiel als Kommunist zu gelten bzw. denunziert zu werden, ist vor allem in der älteren Bevölkerung Südkoreas noch immer nicht ganz überwunden. Hinzu kommt ein tiefsitzendes Misstrauen, das sowohl auf die mit sehr viel Leid verbundene japanische Besatzung (1905 bis nach 1945) zurückzuführen ist als auch auf die Zeit der autoritären Regime in den 1970er und 1980er Jahren. Dass sich die Veteranen zum Teil dennoch offen über ihre Kriegserlebnisse äußerten, ist umso bemerkenswerter. Ausschlaggebend für das Gelingen der Interviews waren vor allem koreanische „Feldhelfer“ aus dem Umkreis der Befragten, welche als kulturelle Mittler eine Schlüsselrolle im Forschungsverlauf hatten. Sie stellten die Kontakte zu den Veteranen her, agierten als Übersetzer und halfen in schwierigen Gesprächssituationen. Die Interviews wurden aufgezeichnet und anschließend feinübersetzt.

Was die Studie von Sandra Keßler besonders auszeichnet, ist die klare methodische Vorgehensweise. Die Autorin beherrscht ihr wissenschaftliches Handwerk vorbildlich und verknüpft auf souveräne und transparente Art und Weise bestehende Erkenntnisse mit ihren eigenen Beobachtungen und Analysen. Stets versichert sie sich, greift auf, vergleicht und diskutiert, wobei sie sich im Wesentlichen auf die kulturanthropologischen Arbeiten von Albrecht Lehmann und Hans Joachim Schröder bezieht.

Die grundlegende Fragestellung ihrer Studie, ob die methodische Übertragbarkeit des narrativen Interviews auf den ostasiatischen Raum möglich ist, beantwortet sie positiv, denn die Frage nach den persönlichen Kriegserfahrungen der koreanischen Veteranen führte bei allen Interviewten zu ausführlichen Erinnerungserzählungen.

Dem Kapitel zur Erhebung der Interviews vorangestellt sind zunächst Ausführungen zur Geschichte des Koreakrieges und dessen Auswirkungen auf die koreanische Gesellschaft sowie die wissenschaftliche Thematisierung des Konflikts. Ein weiterer umfangreicher Teil der Studie widmet sich dem Kriegsgedenken im öffentlichen Raum, vor allem dem „War Memorial of Korea“ in Seoul. Die aus der Analyse gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen einen späteren Vergleich zwischen öffentlichem Gedenken und individuellem Erleben der Interviewpartner. Dabei wird deutlich, dass bei der Dokumentation des Koreakrieges das öffentliche Augenmerk hauptsächlich auf militärische Aktionen und Frontverschiebungen gerichtet ist, aber Verluste in der Zivilbevölkerung kaum thematisiert werden. Nahezu komplett unberücksichtigt bleiben die Massaker und Kriegsverbrechen an Zivilisten sowohl auf nord- als auch auf südkoreanischer Seite. Auch die japanische Kolonialzeit, die in der Bevölkerung Koreas aufgrund schwerster Unterdrückung ein tiefes Trauma hinterlassen hat, findet keine Erwähnung. Stattdessen wird die Gedenkstätte insgesamt zum Symbol militärischer Stärke Südkoreas. Das Bild des heroischen, siegreichen Kämpfers steht deutlich im Gegensatz zur Schicksalsergebenheit des tapfer seine Pflicht erfüllenden Soldaten, die aus den Interviews spricht.

Korea ist ein geteiltes Land, weshalb die Möglichkeit der Wiedervereinigung eine herausragende Rolle spielt. Dies drückt sich symbolisch in der Bruderstatue im „War Memorial of Korea“ aus. Der Blick ist in die Zukunft gerichtet, nicht auf die im Krieg erlittenen Verluste und Gefühle wie Trauer und Wut. Die Vergangenheit wird nicht erinnert, stattdessen wird eine Zukunft vorweggenommen (124), so die stimmige Interpretation der Autorin.

Sandra Keßler ist eine überzeugende Studie gelungen, die nicht nur durch kluge Analysen, sondern erfreulicherweise auch durch eine angenehme, sehr präzise Sprache besticht.