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Richard Bauer

Altmünchen. Der Maler Joseph Puschkin (1827-1905) und die Sammlung Neuner im Münchner Stadtmuseum

Weißenhorn 2017, Anton H. Konrad, 280 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, überwiegend farbig
Rezensiert von Cornelia Oelwein
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 11.06.2018

Kaum eine Publikation zu München im 19. Jahrhundert kommt ohne eine Abbildung nach Aquarellen von Joseph Puschkin aus. Farbenfroh und detailfreudig werden meist unbekannte Ecken und verlorene Gebäude gezeigt. Datiert waren die Bilder nur vereinzelt und nicht selten kam es zu einem Rätselraten, wann das eine oder andere Bild entstanden sein könnte, da es in sich zeitliche Widersprüche vereint. Nun wurden nicht nur viele Geheimnisse um die einfach als hinreißend zu nennenden Bilder gelüftet, sondern auch ein Großteil der Sammlung in äußerst qualitätvollen Abbildungen und mit begleitenden Texten vorgestellt – ein Desiderat der Münchner Geschichte seit vielen Jahren.

Bereits das Titelblatt gibt Auskunft darüber, dass die Veröffentlichung der Bildersammlung ganz im Sinne des Auftraggebers sei: „Alt München, Ansichten nach der Natur gezeichnet und in Aquarell ausgeführt von Joseph Puschkin, Kunstmaler, gesammelt von Edmund Neuner, dem Alten, Weinhändler, und als Schankung für das Historische Stadtmuseum zum Zeugnis der Gestaltung Münchens im 19. Jahrhundert seinen lieben Mitbürgern gewidmet, München im Jahre 1905“.

Der Weinhändler Edmund Neuner (1828-1905) – das Weinhaus Neuner in der Herzogspitalstraße mit seiner altdeutschen Einrichtung besteht bis heute – sah wie so viele seiner Zeitgenossen mit Sorge das Verschwinden alter Bausubstanz durch den Bauboom der sogenannten Gründerjahre und der Prinzregentenzeit. Aus diesem Grund beauftragte er den Maler und Grafiker Puschkin, das Bild der Stadt mit seiner traditionellen bürgerlichen Wohn- und Lebenswelt festzuhalten. Dabei ging es ihm nicht allein um die Wiedergabe der dramatischen Verluste des aus spätmittelalterlichen und barocken Elementen zusammengesetzten Altstadtbildes, sondern nach eigener Aussage auch um emotionale Rückblicke auf die Jahre seiner Kindheit und Jugend, was die an der Biedermeierzeit orientierte starke Ideologielastigkeit ebenso erklärt wie die Irritationen, die die häufig gegeneinander verschobenen Zeitebenen der bewusst undatierten Darstellungen hervorgerufen haben. Doch will der gesamte Bestand nicht nur Vergangenes dokumentieren; er belegt auch den zu Beginn des 20. Jahrhunderts langsam einsetzenden Prozess des Umdenkens in Fragen des Denkmalschutzes und der Erhaltung historischer, ortsbildprägender Bausubstanz. Auch wenn Neuner sich nicht in der Realität für die Erhaltung einsetzen konnte, hat er – so Richard Bauer – sich doch stark gemacht „für eine auf dem Papier durchgeführte ‚Rettungsaktion‘, das abgestorbene und absterbende München der Biedermeierzeit für die Nachwelt zu konservieren“. Das Resultat waren weit über 300 Aquarelle, die beginnend 1868 im Wesentlichen jedoch zwischen 1880 und 1902 entstanden sind. Als Künstler beauftragt er Joseph Puschkin, der vermutlich vereinzelt durch andere, nicht genannte Maler unterstützt wurde.

Wenig war bekannt über Joseph Puschkin, der – entgegen anderslautender Angaben – am 12. April 1827 in München geboren wurde und hier am 9. Februar 1905 auch verstarb. Richard Bauer ist es nun gelungen, Licht in seine Biografie zu bringen; Anhaltspunkte für eine Verwandtschaft mit dem berühmten russischen Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin fand er dabei jedoch nicht. Josephs Vater war als Koch des russischen Gesandten nach München gekommen. Der Sohn ging nach dem Besuch der Lateinschule (Ludwigsgymnasium) von 1842 bis 1847 zur Ausbildung an die Münchner Kunstakademie. Über den weiteren Lebensweg ist bekannt, dass er sich länger in Hamburg aufhielt und Exkursionen in Mitteldeutschland unternahm sowie für eine Reihe populärer illustrierter Zeitungen tätig war, in denen immer wieder „nach Joseph Puschkin“ gefertigte Xylografien veröffentlicht wurden. Nach München ist der Künstler vermutlich im Jahr 1866 zurückgekehrt, wo er verschiedene Aufträge übernahm, darunter andere, nicht für Neuner gefertigte Altmünchner Darstellungen. So gelangten z. B. durch den Sammler Carlo Proebst (1887-1970) weitere 45 Aquarelle Puschkins an das Münchner Stadtmuseum. Bauer schätzt, dass Puschkin rund 500 München-Aquarelle in Umlauf gebracht hat, von denen sich heute noch einige in Privatbesitz befinden könnten.

Der Wunsch Edmund Neuners, seinen seit 1905 im Münchner Stadtmuseum befindlichen Bilderschatz von Zeit zu Zeit durch Ausstellungen bekannt zu machen, ist nicht in Erfüllung gegangen. Dies soll nun durch die vorliegende Publikation kompensiert werden: In drei „Rundgängen“ wird jeweils auf einer Seite ein Aquarell mit Daten abgebildet und das Gebäude bzw. die Situation in einem informativen Begleittext erläutert und geografisch verortet. Neben der genau beobachteten Architektur-Darstellung und eher biedermeierlich reizenden Staffagen sind es viele kleine Details, die den Band auch volkskundlich bzw. kulturgeschichtlich interessant machen: Wandgemälde und Heiligenfiguren an den Fassaden, Brunnen und Schilderhäuschen und nicht zuletzt die Darstellung der zahlreichen Wirtshäuser mit und ohne Gastgarten. Noch sitzen die Zecher vor dem „Damen-Wirt“ auf dem Mariahilfplatz. Im Garten der alten Schießstätte, da wo heute der Hauptbahnhof steht, spielen und schaukeln Kinder, während ihre Eltern die Gasträume ansteuern. Auf dem Geißmilchmarkt an der Roßschwemme wird Ziegenmilch angeboten – das erhoffte Heilmittel gegen Lungentuberkulose. An der Wiener Straße verkauft eine Bäuerin Obst an Kinder; Kutschen, Fuhrwerke, Dienstmänner mit Handwägen und Bäuerinnen mit Schubkarren beleben – neben Fußgängern in Uniform und Zivil – die Straßen. Die Waisenknaben in ihren einheitlichen Kleidern warten am Waisenhaus vor dem Sendlinger Tor. In einer Schmiede in der Sendlinger Straße werden Pferde beschlagen. Holz aus dem Oberland wird an der Floßlände an Land gezogen und später im Holzgarten an der heutigen Liebigstraße gelagert. Noch gibt es eine ganze Reihe von Mühlen im Stadtgebiet, wie überhaupt einige Ecken überraschend ländlich geprägt sind. Ein großes Taubenhaus prangt am Gasthof „zum Lamplgarten“ mit seinen landwirtschaftlichen Nebengebäuden. Er stand in etwa dort, wo sich heute die Siemens-Zentrale befindet. Vor der Schmerzhaften Kapelle an der Staubstraße ist eine Gruppe Wallfahrer angelangt. Zeitlich festzulegende Ereignisse, wie der Brand der Glockengießerei im August 1831, und die Bemühungen, diese mit Handpumpe und Eimerketten zu löschen, bilden die Ausnahme. Selbst die Zurschaustellung eines Delinquenten auf dem Platz vor dem heutigen Polizeigebäude in der Ettstraße lässt sich keinem bestimmten Verbrecher zuordnen. Auf der anderen Seite sind einige Bautätigkeiten der Zeit um 1900 festgehalten wie die Nivellierung der Prinzregentenstraße oder die Grundarbeiten zum Bau der Prinzregentenbrücke.

Es gibt viel zu entdecken auf den Aquarellen des Joseph Puschkin, der ein Bild der Stadt zeigt, jenseits der allgemein bekannten Vorzeige-Architekturen aus der Zeit König Ludwigs I. oder Maximilians II. Es ist das Verdienst des ehemaligen Leiters des Münchner Stadtarchivs Richard Bauer, dass dieser Schatz gehoben wurde: Der Künstler wurde näher vorgestellt und vor allem die Aquarelle abgebildet, erklärt und eingeordnet. Nicht nur Münchner werden diesen Band dankbar und mit Begeisterung in die Hand nehmen!