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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Marita Metz-Becker

Gretchentragödien. Kindsmörderinnen im 19. Jahrhundert (1770-1870)

Sulzbach am Taunus 2016, Ulrike Helmer, 254 Seiten mit 12 Abbildungen
Rezensiert von Jürgen Schlumbohm
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 11.06.2018

Das Buch behandelt fast hundert Fälle von Kindstötung in Hessen, die in die Zeit von 1770 bis 1870 fallen; hinzu kommen einzelne Abtreibungen und Kindesaussetzungen ohne Tötungsabsicht. Die Arbeit beruht auf den Prozessakten im Staatsarchiv Marburg, von denen die Autorin in früheren Veröffentlichungen nur einen kleinen Teil benutzt hatte [1]. Ergänzend werden einige Titel aus der Forschungsliteratur berücksichtigt.

Einleitend (7-37) nähert sich die Verfasserin ihrem Thema, indem sie ausgewählte Aspekte aus dem bekannten Umfeld referiert: die intensive Auseinandersetzung mit der Kindsmord-Problematik in der Publizistik der deutschen Aufklärung sowie bei den Dichtern des Sturm und Drang und insbesondere bei Goethe. Außerdem werden die Sanktionen der weltlichen und geistlichen Obrigkeiten gegen verschiedene Formen außerehelicher Sexualität angesprochen. Dabei kann der Leser den Eindruck gewinnen, dass das reformierte Hessen-Kassel besonders rigide verfuhr, indem es noch im späten 18. Jahrhundert „antizipierten Beischlaf“ trotz inzwischen erfolgter Eheschließung mit Gefängnis bestrafte (23). Diesen Teil beschließen Ausführungen zu den Geburtshospitälern, die in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden; ausführlich hervorgehoben wird die in diesen Anstalten oft extensiv geübte Praxis operativer Geburtshilfe.

Kern des Buches (38-158) sind kurze Fallgeschichten aller Kindstötungen, die sich in den Gerichtsakten des Staatsarchivs Marburg finden. Angeordnet sind sie nicht chronologisch, sondern alphabetisch nach dem Nachnamen der Angeklagten. Während die Akten nicht selten einige hundert Seiten stark sind, umfassen die Regesten im Buch durchschnittlich eine gute Seite, manchmal wenige Zeilen, bisweilen vier oder fünf Seiten. Oft werden aussagestarke wörtliche Zitate aus den Prozessakten wiedergegeben. Der Leser, der diese düstere Galerie vollständig durchmustert, wird belohnt durch eine Fülle interessanter Hinweise zu vielen Aspekten des Problems, z. B. zu den mehr oder weniger erfolgreichen Strategien der Gebärenden, Schwangerschaft, Geburt, Kindstötung und –leiche zu verheimlichen. Offen bleibt bisweilen, ob die Frauen – es handelt sich ganz überwiegend um Mägde und Tagelöhnerinnen – nur ihrer Umgebung und dem Gericht weismachen wollten oder auch sich selbst einredeten, dass sie kein Kind erwarteten, sondern nur ihr ‚Monatliches stockte‘, dass sie kein Menschlein in die Welt setzten, sondern ein „Klumpen Geblüt“, eine „unbekannte Masse“ aus ihnen fuhr (115, 119). Auch die Paarbeziehung wird in ihrer Vielgestaltigkeit beleuchtet. Hier reicht die Bandbreite von der Vergewaltigung durch einen Unbekannten und der Nötigung durch den verheirateten Dienstherrn über mehr oder weniger dauerhafte Beziehungen zu Knechten, Gesellen oder Soldaten bis zu dem Paar, das fünf gemeinsame Kinder hatte, aber durch die Gemeinde mittels des restriktiven hessischen Ehe- und Heimatrechts an der Heirat gehindert wurde (58). Hier könnte die Literatur zum kurhessischen Armenwesen weitere Erhellung bringen [2]. Immer wieder kommt das Verhalten des Mitgesindes zur Sprache; es pendelt zwischen Denunziation, wie sie von der Obrigkeit gefordert war, und stillschweigender Solidarität, die eine im selben Zimmer schlafende Mitmagd leistete, indem sie nichts von der Geburt bemerkte (96). Ziel der Gebärenden war immer, die Niederkunft und das Neugeborene zu verheimlichen. Die Frauen, denen man in den Strafprozessakten begegnet, griffen zu diesem Zweck zum letzten Mittel und töteten ihr Kind. Wo Geburtshospitäler ihren Patientinnen Anonymität zusicherten und ein benachbartes Findelhaus die Kleinen aufnahm, wie etwa in Wien, Paris und zeitweilig Kassel, konnten Frauen mit Hilfe dieser Institutionen denselben Zweck erreichen – wobei die exorbitante Säuglingssterblichkeit der Findelanstalten für einen Großteil der Kinder zu einem ebenso fatalen Ergebnis führte. Wo kein solches Heim die Neugeborenen aufnahm, gewährte bisweilen eine Entbindungsklinik dem kleinen Kreis der bemittelten und zahlenden Gebärerinnen sowie den Vätern ihrer Kinder die ersehnte Heimlichkeit und half beim Verbergen der Kinder in Pflegefamilien [3].

Gegen Ende werden noch einige Aspekte zum Hintergrund der Kindstötungen skizziert, etwa die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, Bevölkerungsentwicklung, Unehelichenquote und Schulwesen in Deutschland und Hessen (164 ff.). Auch ein Exkurs zu dem viel diskutierten Problem der Historizität von Mutterliebe findet sich hier (208-215), freilich ohne vertiefte Interpretation der Anzeichen von Gefühlsregungen in den hessischen Fallgeschichten. War es Mutterliebe, wenn eine Frau ihrem Kind noch einmal die Brust gab, es „noch eine Viertelstunde“ herzte, bevor sie es ins Wasser warf, oder wenn sie das tote Kind eine volle Stunde auf dem Schoß hielt und „wohl 20mal“ küsste (45, 146, 222)?

Schließlich stellt die Autorin einige Exzerpte aus den Fallgeschichten zusammen zu Fragen nach dem Ort des Geschehens (201-207) sowie zum Verlauf der Ermittlungen und Prozesse (216-230).

Hier und da mag der Leser bedauern, dass die Verfasserin keine ergänzenden Quellen zu den Prozessakten benutzt hat (Ausnahme: 125). So hätte man gern gewusst, ob die Frau nach verbüßter Strafe in die Ehe zurückkehren konnte, die unmittelbar vor der Hochzeit entgegen umlaufenden Gerüchten von einem Mediziner für nicht schwanger befunden wurde, aber drei Monate danach das uneheliche Kind eines anderen gebar und wegen dessen Tötung zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde (109 f.). Trotzdem breitet das Buch ein reiches Material aus. Obwohl in einzelnen Fallgeschichten die eine oder andere Standardinformation fehlt (Datum, Alter u. a.), ist das Corpus der fast hundert Regesten durchaus auch für weiterführende Analysen geeignet. So ließen sich manche Aussagen durch Zahlen präzisieren, etwa die, dass „viele“ von den Kindsmörderinnen selbst unehelich geboren waren (169), dass „oft“ nicht das erste illegitime Kind getötet wurde, sondern erst ein späteres (170), dass „viele“ Kindsmörderinnen nicht einmal ihren Namen schreiben konnten (172), dass sie „oft“ nicht den vollen Namen des Kindsvaters kannten (184), dass „viele“ aussagten, Mittel zur Wiederherstellung der Menstruation gebraucht zu haben (187), und dass „viele“ von den Täterinnen in einem Geburtshospital entbunden worden waren (164). Über den Ausgang der Prozesse, die verhängten Strafen, Erfolg oder Misserfolg in der Berufungsinstanz und bei späteren Gnadengesuchen wäre ein quantifizierter Überblick ebenso zu begrüßen wie zu der Frage nach Veränderungen im Laufe des hundertjährigen Untersuchungszeitraums. Insgesamt liefert die Arbeit eine willkommene Ergänzung der bisherigen Literatur zur Geschichte des Kindsmords.

 

[1] Marita Metz-Becker: Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1997, bes. S. 287-303, 325-327.

[2] Susanne Grindel: Armenpolitik und Staatlichkeit. Das öffentliche Armenwesen im Kurfürstentum Hessen (1803-1866). Darmstadt 2000.

[3] Verena Pawlowsky: Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784-1910. Innsbruck 2001; Scarlett Beauvalet-Boutouyrie: Naître à l’hôpital au XIXe siècle. Paris 1999; Christina Vanja: Das Kasseler Accouchier- und Findelhaus 1763 bis 1787: Ziele und Grenzen „vernünftigen Mitleidens“ mit Gebärenden und Kindern. In: Jürgen Schlumbohm u. Claudia Wiesemann (Hgg.): Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751-1850: Göttingen, Kassel, Braunschweig. Göttingen 2004, S. 96-126; Jürgen Schlumbohm: Verbotene Liebe, verborgene Kinder. Das Geheime Buch des Göttinger Geburtshospitals 1794-1857. Göttingen 2018.