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Tobias Scheidegger

„Petit Science“. Außeruniversitäre Naturforschung in der Schweiz um 1900

Göttingen 2017, Wallstein, 707 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
Rezensiert von Michael Markert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 12.06.2018

Analysen des breiten Grenzfeldes zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, in dem Bürger*innen zugleich Produzierende wissenschaftlichen Wissens sind, haben Konjunktur. Trotzdem überrascht die vorliegende Dissertation zu einer „Petite Science“ floristischer und faunistischer Lokalforschung in Schweizer Kleinstädten um die vorletzte Jahrhundertwende: Weder wurde sie aus einer genuin wissenschaftshistorischen Perspektive geschrieben noch analysiert sie ihren historischen Gegenstandsbereich schlicht als Beleg für die Potentiale bildungsbürgerlich produzierter wissenschaftlicher Daten. Vielmehr fragt Tobias Scheidegger vor allem nach der Eigenständigkeit und Eigenmacht der „Petite Science“ gegenüber ‚professionalisierter, akademischer Wissenschaft‘. Seine institutionellen Voraussetzungen – als Volkskundler während der Promotion Mitglied des Züricher Graduiertenkollegs am „Zentrum Geschichte des Wissens“ und nun Oberassistent für Alltagskulturen an der Universität Zürich – scheinen dafür geradezu ideal. Nur leider wurde der hohe transdisziplinäre Anspruch – so viel sei vorweggenommen – nicht konsequent umgesetzt.

Ein Blick in den Aufbau des massigen und dichten Werks offenbart die vielfältigen Anknüpfungspunkte, die Scheidegger für Vertreter*innen verschiedener Disziplinen bereithält. In einem ersten Kapitel wird die spezifisch Schweizer „Petite Science“ von anderen Kategorien wie der alten „Populärwissenschaft“ und der neuen „Bürgerwissenschaft“ abgegrenzt und eine Struktur für die folgende Untersuchung entworfen. Diese bewegt sich grob von den Alltagspraktiken der kleinbürgerlichen Akteure über deren infrastrukturelle Rahmenbedingungen zu den gesellschaftlich überraschend breiten Effekten. Das zweite Kapitel widmet sich dabei der Liste als zentralem Wissensformat bzw. -system und beschreibt die unterschiedlichen Zwecke, Gestalten und Einsatzbereiche tabellarisch organisierter Informationen in der „Petite Science“. Im Anschluss stehen die sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren im Fokus, was an der Mobilisierung und Mobilität floristischer und faunistischer Belege exemplifiziert wird. Die durch diese und andere Mittel etablierten Sozialgefüge, die Machtverhältnisse, Hierarchien und Abgrenzungsdiskurse werden an einem ‚kleinwissenschaftlichen‘ Streit zwischen zwei sogenannten „Zentrumsakteuren“ im vierten Kapitel aufgezeigt. Bei diesem Akteurstyp handelt es sich Scheidegger zufolge zumeist um Personen an Schlüsselstellen im kleinstädtischen Gefüge, mithin institutionelle Knoten des lokalwissenschaftlichen Netzwerks, dessen Mechanismen im fünften Kapitel an den Organisationsformen Museum, Schule und Verein dargestellt werden.

Dem ‚Innen‘ der Gebäude voller naturhistorischer Belege und Listen wird abschließend – und dies ist zweifellos der stärkste Teil der Studie Scheideggers – das ‚Außen‘ des Feldes gegenübergestellt: Kapitel sechs konzentriert sich auf die Landschaftswahrnehmung und -konstruktion durch die Akteure der Schweizer „Petite Science“ auf Exkursionen und in den ersten Aktivitäten einer Naturschutzbewegung. Weiter weg von der Natur- und hin zur Volkskunde führt das siebte und letzte Kapitel, welches die Produktion von Heimat durch die Lokalforscher fokussiert, die beispielsweise durch floristische Kartierung nicht nur die natürliche Umwelt als spezifisch schweizerische bzw. regionale erschlossen. Parallel führten sie auch Studien bäuerlicher Kultur und touristischer Umweltveränderungen durch und waren damit konstitutiv für den kleinbürgerlichen Blick auf diese Heimat. Diese beiden letzten Kapitel zu Landschaft und Heimat sind sowohl als dichte Beschreibung als auch argumentativ besonders überzeugend, was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie am ehesten Scheideggers ‚disziplinärer Heimat‘ entsprechen.

Das umfangreiche und komplexe Textprogramm basiert auf einer weitläufigen Quellenlektüre. Scheidegger hat eine enorme Anzahl von Nachlässen und institutionellen Archiven auf seine Akteure hin analysiert und berichtet entsprechend fundiert von den Ereignissen, die seine „Petite Science“ konstituieren und beeinflussen. Vergleichbar belesen ist Scheidegger auch in Hinblick auf Ansätze zu einer konzeptionellen Rahmung der dargestellten Ereignisse und Prozesse. Er bedient sich eines breiten Fundus von Disziplinen und streut in den einzelnen Kapiteln theoretische Exkurse ein, mit denen beispielsweise die Zirkulation botanischer und zoologischer Belege als Tausch und Gabe verstanden werden, während er an anderer Stelle die floristische Feldforschung Schweizer Kleinbürger mit Bruno Latour zu fassen versucht. Neben ungewöhnlichen Einsichten, die diese Abschnitte bieten, stellen sie auch gut lesbare Einführungen in die einzelnen Konzepte und Denkstile dar.

Zugleich bringt der konzeptionelle Eklektizismus über disziplinäre Grenzen hinweg aber auch eine zentrale Schwierigkeit mit sich, nämlich die eines unscharfen eigenen Forschungsprogramms. Beispielsweise rückt Scheidegger den botanisierenden Bürgern in der Provinz mit der historischen Epistemologie ‚konventioneller‘ Naturwissenschaft zu Leibe, betont gleichzeitig aber immer wieder die Verschiedenheit beider Modi. Als Wissensforscher charakterisiert er außerdem das wissenschaftliche Sammeln und die Anlage von Listen, verzichtet als Volkskundler aber auf eine Auseinandersetzung mit dem Sammeln als Kulturtechnik und benennt die Nähe zu anderen bürgerlichen Sammlungsfeldern nur, statt die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu analysieren.

Diese Schieflage gründet vielleicht in der spürbaren Faszination, die die historischen Akteure auf Scheidegger ausüben und die zu einer Überbewertung von deren wissenschaftlicher Praxis und Relevanz zu führen scheint. Regelmäßig wird auf unterschiedliche Weise die – im Detail übrigens nie wirklich ausgeführte – Anschlussfähigkeit der kleinbürgerlichen Aktivitäten an universitäre bzw. akademische Wissensproduktion betont. So nutzt Scheidegger im Kapitel „Ordnung Macht Zugehörigkeit“ über einen Streit zweier „Zentrumsakteure“ der „Petite Science“ den soziologischen Terminus „boundary work“, der die Demarkationsarbeit professionalisierter Wissenschaft gegenüber einer auszuschließenden Nicht-Wissenschaft charakterisiert. Damit entsteht der Eindruck, die Zentrumsakteure wären Teil einer wissenschaftlichen Gemeinschaft im konventionellen Sinne oder würden auf vergleichbare Sozialstrukturen zurückgreifen.

Leider wird die Zugehörigkeit der historischen Akteure zu ‚ihrer‘ „Petite Science“ an keiner Stelle des Werkes systematisch ausgeführt oder diese selbst als eine Art ‚paradisziplinäre‘ Institution begründet. Man erfährt zwar von diversen Akteuren des Zentrums und der Peripherie, ihrem Status und ihrer Vernetzung, aber nur auf Basis einer dem Text vorausgegangenen und nicht dargestellten Auswahl Scheideggers im Dienste der Gesamterzählung. Daran ändert auch eine ausführliche alphabetische Liste aller genannten Akteure im Anhang wenig, die trotz kurzer biographischer Informationen keinen Einblick in die institutionellen Formationen bieten kann. Vor allem vermisst man jedoch eine Verortung der „Petite Science“ in einer Globalgeschichte der Lokalforschung, die die schwergewichtige Studie aus dem kleinteiligen Schweizer Kontext heraushebt, womit die Andersartigkeit der von Scheidegger charakterisierten Wissenschaftspraktiken aber sicher relativiert würde.

Trotz der genannten Schwächen ist es das Verdienst Scheideggers, die spezifischen Beiträge historischer Akteure in der Provinz zu Selbst- und Weltkonstruktionen einer ganzen Gesellschaft herausgearbeitet zu haben. In den hier beschriebenen Kleinbürgern muss man wegen dieser Qualität nicht zusätzlich noch ‚kleine Wissenschaftler‘ sehen, wo sie doch schon als ‚bloße‘ Wissensproduzenten – über Landschaft und von Heimat – völlig überzeugen. Da heute der um 1900 angestoßene Heimat- und Landschaftsschutz im biologistisch argumentierenden Schweizer Lebensraumdiskurs und der „Initiative gegen Einwanderung“ instrumentalisiert wird, ist Scheideggers historiographische Studie darüber hinaus auch eine gesellschaftspolitisch relevante Arbeit.