Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Martina Winkler

Kindheitsgeschichte. Eine Einführung

Göttingen 2017, Vandenhoeck & Ruprecht, 240 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Heidi Rosenbaum
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 12.06.2018

Bei dem Buch handelt es sich ganz überwiegend um einen Überblick über die Geschichte der Wahrnehmung von und der Diskurse über Kindheit anhand der Forschungsliteratur, also um den sich verändernden Blick auf das Kinderleben und dies vor allem in Westeuropa und Nordamerika, nicht, wie man auch vermuten könnte, um eine Geschichte des Lebens von Kindern.

Das Buch ist großenteils chronologisch aufgebaut. Es beginnt mit Kindheiten im Mittelalter und endet mit dem 20. Jahrhundert. Entsprechend der differenten Quellen- und Forschungslage handelt es sich um unterschiedlich umfangreiche Kapitel, in denen die wichtigsten Erkenntnisse und theoretischen Debatten nachgezeichnet werden. Daneben gibt es fünf Kapitel zu ausgewählten Einzelthemen, beispielsweise „Dualistische Kindheitskonzepte“, „Kinderliteratur“, „Globalgeschichte der Kindheit“. In einer längeren Einleitung erläutert Martina Winkler die Begrifflichkeiten und Intention ihrer „Einführung“. Grundlegend für die Darstellung ist die Auffassung von Kindheit als einer sozialen und kulturellen Konstruktion (10), die dem historischen Wandel unterliegt und in allgemeine historische Prozesse eingebettet ist (48). Dieser Gedanke wird in den einzelnen Kapiteln immer wieder aufgenommen. Vorgeschaltet vor die chronologische Darstellung ist ein Kapitel über den „Gründervater“ der Kindheitsgeschichte: Philippe Ariès. Winkler referiert seine zentralen Thesen und die Positionen seiner Kritiker. Mit ihnen geht sie davon aus, dass Ariès‘ These, die Menschen des Mittelalters hätten „kein Verhältnis zur Kindheit“ gehabt (19), nicht zutrifft. Dennoch wird auch in Winklers eigener Darstellung die tiefgreifende Veränderung sichtbar, die seit dem 17., mehr noch dem 18. Jahrhundert im Denken über Kinder und der Beschäftigung mit Kindern stattgefunden hat. Dazu beigetragen haben wichtige Entwicklungen. Winkler nennt hier vor allem den Buchdruck, durch den Diskussionen über Erziehung angeregt und verbreitet wurden, die Reformation mit ihrem Bildungsimpetus, aber auch das Interesse des in diesem Zeitraum entstehenden modernen Staates an seiner Bevölkerung. Im 18. Jahrhundert bildeten sich für Kinder zuständige Experten heraus: nicht nur Lehrer und Erzieher, sondern auch Mediziner, die dann im 19. Jahrhundert großen Einfluss erlangten. Das Kapitel über „Das lange 19. Jahrhundert“ startet mit einer, angesichts der Bedeutung für die weitere Entwicklung, sehr knappen Skizze der bürgerlichen Familie und der bürgerlichen Kindheit. Viel Raum nimmt die Kinderarbeit ein, zu der Winkler eine differenzierte Position entwickelt. Das Kapitel über das 20. Jahrhundert ist am längsten, aber auch heterogen. Eine Darstellung von Ellen Keys Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ öffnet den Blick für Fragen nach dem „Wert des Kindes“ sowie nach dem Verhältnis von Staat bzw. Nation zu Kindern. In diesem Zusammenhang werden der Nationalsozialismus, Kriege und Vertreibungen sowie die Nachkriegszeit behandelt. Ein längerer Abschnitt befasst sich mit Kindheit in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten. Da es sich bei dem Buch vor allem um eine Einführung für Studierende handelt, gibt es immer wieder grafisch hervorgehobene Blöcke im Text, die kurze Informationen zu wichtigen Autoren, theoretischen Konzepten und Begriffen enthalten, beispielsweise „Schwarze Pädagogik“, „gute Policey“, „Kameralismus“, „Romantik“, „Reformpädagogik“. Erfreulich sind weiterhin die Hinweise auf die für die Kindheitsforschung wichtigen sozialwissenschaftlichen Theorien von Michel Foucault und Norbert Elias; auch andere Autoren werden vorgestellt. Insgesamt gibt der Band einen nützlichen Überblick für alle diejenigen, die sich der Geschichte der Kindheitskonzepte nähern wollen.

Winkler arbeitet sehr stark mit englischsprachiger Literatur. Das ist kein Fehler. Leider kommt aber meines Erachtens die umfängliche deutschsprachige Literatur zu kurz. Für eine mögliche Neuauflage sollte die Zitation überarbeitet werden. Sofern es sich nicht um wörtliche Zitate handelt, gibt Winkler oft nur einen generellen Hinweis auf die entsprechende Veröffentlichung. Das ist wenig hilfreich, wenn man gezielt weiterlesen will. Leider fehlt gelegentlich auch bei wörtlichen Zitaten die Seitenangabe. Diese Ungenauigkeiten, die man Studierenden nicht durchgehen lassen würde, muss sich auch das Lektorat anrechnen lassen.