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Jochen Bonz/Katharina Eisch-Angus/Marion Hamm/Almut Sülzle (Hgg.)

Ethnografie und Deutung. Gruppensupervision als Methode reflexiven Forschens

Wiesbaden 2017, Springer VS, VIII + 450 Seiten mit 1 Abbildung
Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.06.2018

Fast dreißig Jahre nach der ersten Sitzung einer Bremer Deutungswerkstatt unter Maya Nadig, zwanzig Jahre nach dem Einrichten einer Supervisionsgruppe am Institut für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen (1998 durch Utz Jeggle) und vier Jahre nach einer vorbereitenden Tagung in Bremen erscheint der vorliegende Band, der nun das Grundlagenwerk zu diesem Verfahren darstellt. Weniger das runde Jubiläum von Tübingen, eher die große Attraktivität, zeitgenössische, komplexe Themen ethnografisch zu erforschen, haben die KulturwissenschaftlerInnen Jochen Bonz, Katharina Eisch-Angus, Marion Hamm und Almut Sülzle dazu veranlasst, ein Werk mit 24 Beiträgen von rund dreißig AutorInnen aus verschiedenen Disziplinen vorzulegen.

Mittelpunkt von „Ethnografie und Deutung“ ist die Darstellung und Anwendung eines Verfahrens, das sich, so die AutorInnen, bei der Auswertung empirischer Daten als überaus hilfreich erwiesen hat: die Präsentation der eigenen Forschung und anschließende (Selbst-)Reflexion der eigenen Rolle im Feld in Supervisionsrunden. Das vorliegende Sammelwerk zeigt anhand von Beispielen aus ganz verschiedenen Forschungsbereichen vor allem die Chancen des gemeinsamen Interpretierens von Forschungsdaten, das folgenden Regeln gehorcht: In geschützten, zum Teil fest über Jahre bestehenden Gruppen, die von einer einschlägig ausgebildeten Person geleitet werden, stellen die Teilnehmenden kurze Texte aus ihrem Forschungskontext vor, die zuvor der Runde zugänglich gemacht worden sind. Die anwesenden KollegInnen reagieren auf diese Texte spontan und in großer Offenheit, indem sie frei assoziieren. „Das sich in der Deutungsgruppe Artikulierende besitzt häufig eine triangulierende Funktion: Ein Phänomen, von dem die Forscherperson bereits wusste oder zumindest eine Ahnung hatte, das sich bislang jedoch nicht im Material dingfest machen ließ, tritt plötzlich im Assoziationsprozess der Supervision zutage“ (Jochen Bonz u. Katharina Eisch-Angus, 45). Auf diese Weise würden sich Fragen lösen und Fälle könnten neu betrachtet und interpretiert werden. Ziel der Gruppe sei es, das Datenmaterial so zu entfalten, dass es „der forschenden Person hilft, möglichst umfassend zu verstehen, was im Material an Informationen, an Aussagen über das Untersuchungsfeld enthalten ist“ (Jochen Bonz, 207). Die Supervisionsgruppen spannen ferner, so die HerausgeberInnen, einen „reflexiven Deutungsraum“ (6) auf, der sehr präzise auf die Subjektivität der Forschenden hinweist und zeigt, wie die „Wahrnehmungsweisen, Beziehungsformen und kulturelle Prägungen, die die forschende Person im Laufe ihres Lebens erworben hat“ (10), in die Forschung eingeflossen sind. Die HerausgeberInnen und VerfasserInnen plädieren mit Maya Nadig dafür, diese „subjektiven Verzerrungspotenziale“ (10) nicht zu eliminieren, sondern sie als sogenannte „Irritationen“ erkenntnisleitend einzusetzen und zu nutzen.

Die Einleitung umfasst die genaue Darstellung der Methode und deren historische Herleitung: die Wurzeln in der Ethnopsychoanalyse bei Georges Devereux, fußend auf dessen Konzept der Übertragung und Gegenübertragung, die Fortführung bei Florence Weis, Maya Nadig und Mario Erdheim und die Verästelungen in die Kulturwissenschaft vor allem zu Utz Jeggle. Dem Prinzip, problematische Fälle in einer Gruppe zu besprechen, liegen ferner die sogenannten Balint-Gruppen zugrunde, die auf den ungarischen Psychiater und Psychoanalytiker Michael Balint zurückgehen und von diesem seit den 1950er Jahren für den kollegialen Austausch entwickelt worden waren.

An die Einleitung schließen sich drei Großkapitel an, deren Inhalte aus Platzgründen hier nur angedeutet werden können. In „Methodologisches: Reflexive Subjektivität in der ethnografischen Feldforschung“ (27-227) geben VertreterInnen der Grazer, Tübinger, Bremer und Berliner Supervisionsgruppen Einblicke in ihre Arbeiten. Die vier Beiträge, die andernorts schon veröffentlicht worden sind, werden ergänzt durch grundsätzliche Aufsätze zu „Ethnopsychoanalyse als reflektierter Beziehungsprozess“ (Maya Nadig), zur „Bedeutung von Gegenübertragungen“ in Forschungsbeziehungen (Frank Müller), zum Problem der Gegenübertragungen (Bernd Rieken), zum grundsätzlichen Verständnis von „Interpretation“ (Brigitte Becker) und zum Erkenntnisprozess innerhalb der Supervisionsgruppen (Jochen Bonz). Eignen sich die oben genannten Beiträge eher für die SpezialistInnen, so stellt „Die reflexive Couch“ des AutorInnen-Teams der Tübinger Supervisionsgruppe eine vorzügliche Einführung dar. Hier wird am Beispiel einer Textpassage über eine teilnehmende Beobachtung bei einer Jubilarfeier das Verfahren vorgeführt, indem besonders auf die Assoziationen eingegangen wird, die der Text bei den Teilnehmenden ausgelöst hat. Die Leiterin der Gruppe, Brigitte Becker, bezieht Stellung zum Text und rekonstruiert die Reaktionen der Teilnehmenden bei der Sitzung; die Autorin, Ulrike A. Richter, schildert ihre Position; eine Teilnehmerin, Ute Karl, stellt ihre Assoziation vor, die Supervisorin kommentiert zusammenfassend und die Autorin zeigt auf, welche Auswirkung die Sitzung auf ihre weitere Forschung und Auswertung hatte. Die „Couch“ einer Supervisionsgruppe steht demnach „nicht für pathologisierende Bevormundung, sondern symbolisiert einen geschützten Raum, der Freiheit und Spielräume hervorbringt, sodass Abwehrhaltungen, Tabuisierungen und Blockaden gelöst werden können. Dieser geschützte Rahmen ist die Basis, um die Scham vor vermeintlichen Fehlern zu überwinden, neue Verstehenszugänge zu entdecken und somit Einblick in die Grundlagen der ethnografischen Arbeit zu geben.“ (76)

Das zweite Großkapitel, „Zur Methodenpraxis der Feldforschungssupervision: Erfahrungen und Ergebnisse“ (229-345), dem vor allem die Vorträge der Bremer Tagung von 2014 zugrunde liegen, stellt den Mehrwert der Methode in ganz verschiedenen Kontexten vor. Ob bei der Erforschung von Motiven bestimmter Gruppen, ob im Umfeld von Emotionen, in Gemeindestudien oder bei Interviews mit ZeitzeugInnen – die ethnografische Deutungswerkstatt scheint jeweils dann besonders angeraten, wenn es gilt, der Komplexität eines Forschungsfeldes und dem Anspruch – gerade bei Dissertationen – gerecht zu werden. Gruppensupervision hat sich ferner als probates Mittel bewährt, die eigenen Verstrickungen aufzulösen, wenn die Forschenden selbst Teil des Forschungsfeldes sind, wie Lydia Maria Arantes überzeugend vorführt. Bei ihrer Promotion über „Räume textilen Schaffens“ half ihr das Verfahren zum Beispiel, Distanz zum Feld aufzubauen, gleichzeitig aber die Subjektivität in der Beschreibung nicht aufzugeben und die Flucht in das quantitative Paradigma zu reflektieren.

Der Beitrag von Sebastian Kestler-Joosten sei noch besonders hervorgehoben, denn der Autor führt eindringlich vor, wie ihn die Bemerkungen der Teilnehmenden der Supervisionsgruppe zu dem von ihm geführten Interview irritiert haben. Ihm fiel es sehr schwer, die Deutungsmacht über die von ihm produzierten Texte abgeben zu müssen. Frustration und Verunsicherung machten sich breit. Erst diese lösten jedoch eine Selbstreflexion aus, die zu einer umfassenderen Auswertung des Materials beitrug.

Im letzten Kapitel, das den „Kontexten und Ausblicken supervidierter ethnografischer Interpretationsgruppenarbeit“ (347-438) gewidmet ist, finden sich wieder vermehrt grundsätzliche Beiträge, die ebenfalls alle bereits andernorts abgedruckt worden sind. Diese Aufsätze spannen den Bogen zurück zur Einleitung und zum ersten Teil des Buches. Sie reißen übergeordnete Fragestellungen an: Katharina Eisch-Angus erinnert an Utz Jeggle und seine zehn Thesen zur Feldforschung; Mario Erdheim schreibt über „Die Zukunft der Ethnopsychoanalyse“; Katharina Eisch-Angus und Marion Hamm loten aktualisiert die „Poesie des Feldes“ aus; Hans Bosse stellt gruppenanalytische Fallrekonstruktionen vor und Andrea Ploder und Johanna Stadlbauer betonen mit hoher Reflexivität das Gemeinsame von Autoethnographie und Ethnopsychoanalyse.

Ein Verzeichnis der Viten der fast dreißig AutorInnen, allen voran KulturwissenschaftlerInnen, aber auch PsychotherapeutInnen und PsychologInnen, beschließt den Band.

Für wen eignet sich „Ethnografie und Deutung“? Zweifellos handelt es sich um ein Standardwerk zu diesem Verfahren, das zahlreiche Anwendungsbeispiele enthält und auch durch die eher theoretischen Kapitel weiterführende Anregungen liefert. Zudem halten die ausführlichen Literaturangaben am Ende jedes Aufsatzes alles das fest, was im Umfeld des Themas veröffentlicht wurde. So deckt der Band das ab, was Fachleute von ihm erwarten; gleichzeitig bieten Einleitung und einzelne Artikel, wie die oben zitierten, auch eine gute Grundlage für EinsteigerInnen. Einige Beiträge wie jene sehr anschaulichen von Lydia Maria Arantes, Friederike Faust, Kiana Ghaffarizad und C. Grasmeier laden sogar dazu ein, das Verfahren auch im Bachelor-Studium vorzustellen.

So bleibt festzuhalten, dass hier ein Grundlagenwerk entstanden ist, dessen Lektüre sich für Versierte wie für AnfängerInnen lohnt.