Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Andrea Brait/Anja Früh (Hgg.)

Museen als Orte geschichtspolitischer Verhandlungen. Ethnografische und historische Museen im Wandel/Lieux des négociations politiques de l’histoire. L’évolution des musées d’ethnographie et d’histoire

(Itinera. Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte 43), Basel 2017, Schwabe, 181 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Gesa Büchert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.06.2018

Spätestens mit der breit rezipierten Habilitation des Historikers Edgar Wolfrum über die Geschichtspolitik in der Bundesrepublik hat sich Ende der 1990er Jahre im deutschsprachigen Raum die Geschichtspolitik als Forschungsfeld etabliert. Damit rückten auch die „Museen als Resonanzräume und Kondensationspunkte für Geschichtspolitik“ (Joachim Baur) in den Fokus wissenschaftlicher Analysen.

Davon ausgehend konzentriert sich der interdisziplinär und transnational angelegte Sammelband auf die Untersuchung von historischen und ethnografischen Museen vor allem im deutsch- und französischsprachigen Raum als „Generatoren“ und Instrumentarien nationaler und transnationaler Geschichtspolitik. Konkret wird dargestellt, wie in staatlichen und überregionalen Museen bzw. von Museumsinitiativen im 20. und 21. Jahrhundert kollektive Gedächtnisse produziert und verhandelt wurden.  

Hervorgegangen ist der Sammelband aus zwei wissenschaftlichen Tagungen: der Wiener Konferenz „Museumsanalyse im deutschsprachigen Raum“ im Jahr 2011 und dem Panel „Schauplätze des Wandels. Museen als Gegenstand vergleichender und transnationaler historischer Forschung“ im Rahmen der „Schweizerischen Geschichtstage“ im Jahr 2013 – wobei über die Hälfte der Beiträge von Autoren außerhalb des Referentenkreises stammt.

Der Band enthält zehn Aufsätze in deutscher, französischer und englischer Sprache. Trotz verschiedener Zugriffe und ganz unterschiedlicher topografischer und thematischer Schwerpunktsetzungen dominieren in den Fallstudien die institutions- und sammlungsgeschichtlichen Zugänge.

Laurent Dedryvère aus Paris behandelt in seinem Beitrag die Sammlungs- und Ausstellungspraktiken des deutschnationalen österreichischen Vereins „Deutsche Heimat“, der zwischen 1908 und 1910 vergeblich versuchte, im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie ein deutschösterreichisches Nationalmuseum zu gründen, das gesamtdeutsche Identität und lokalen Patriotismus in Einklang bringen sollte.

Die Schweizer Ethnologen Audrey Doyen und Serge Reubi analysieren die Sammelpolitik, die Erwerbsstrategien und die vielfältigen Netzwerke der ethnografischen Museen in Basel, Neufchâtel und vor allem in Genf während der ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts. Aber nicht nur die Auswahl der Objekte, sondern auch deren Kategorisierung stellt eine wichtige geschichtspolitische Handlung dar. Franka Schneider von der Berliner Humboldt-Universität zeigt am Beispiel der „Dingpolitik“ des Museums für deutsche Volkskunde in Berlin, wie im Depot und damit unbemerkt von der Öffentlichkeit fortwährend eine „Interpretation und Aktualisierung von Vergangenheit“ stattfand.

Ein Beispiel für Vergangenheitsinterpretation zur Formierung und Festigung der sowjetischen Identität zeigt der Leipziger Doktorand Christian Ganzer mit seiner Analyse des im Museum der Verteidigung der Brester Festung präsentierten Narrativs von der heldenhaften Verteidigung der Festung im Jahr 1941 gegen die deutsche Wehrmacht. Er arbeitet dabei die geschichtspolitischen Ziele des sowjetischen Regimes heraus und zeigt, wie an diesem zentralen Ort der sowjetischen Erinnerungskultur der Heldenmythos trotz kleiner Veränderungen in der Ausstellung systemübergreifend auch nach dem Zerfall der Sowjetunion bis in die Gegenwart fortgeschrieben wird.

Dass den Akteuren im Museum auch während der SED-Diktatur Handlungsspielräume blieben, belegen Christian Sammer aus Münster und Lioba Thaut aus Hamburg in ihrer Fallstudie zur mehrfachen Uminterpretierung und Neukonstruktion der Traditionsgeschichte des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden.

Die Schweizer Professorin Christina Späti untersucht in ihrem Beitrag die Aufarbeitung und museale Repräsentation des Holocaust in der Schweiz vor dem Hintergrund des Gedenkens in den europäischen Ländern und in den USA. Dabei zeigt sie auf, dass trotz der übernationalen „Kosmopolitisierung der Erinnerung“ die staatliche Identitätspolitik die museale Aufarbeitung bis heute nachhaltig prägt.

Im transnationalen Vergleich analysiert Mitherausgeberin Andrea Brait vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck die öffentlichen museumspolitischen Debatten, die in den letzten Jahren die Bestrebungen zur Gründung bzw. Neuausrichtung von Nationalmuseen in Frankreich, der Schweiz und Österreich begleitet haben. Dabei wird deutlich, dass trotz ganz unterschiedlicher Gemengelage in allen drei Ländern Museen zur Begründung einer nationalen Identität sowie das Erzählen von „Masternarrativen“ abgelehnt wurden.

Schließlich behandeln verschiedene Beiträge den Wandel von französischen Museen im 21. Jahrhundert. Der französische Ethnologe Fabrice Grognet zieht in seiner Studie das Fazit, dass die Museen in Frankreich noch niemals so abhängig von der Politik waren wie heute. Er belegt dies mit seiner Analyse der grundlegenden Neuausrichtung des Musée de l’Homme in Paris, das im Jahr 2015 neu eröffnet wurde. Die massive Abhängigkeit von Entscheidungen der französischen und der europäischen Politik behandelt auch Bjarne Rogan, emeritierter Professor der Universität Oslo, der die Institutionengeschichte des 2013 in Marseille neu eröffneten Museums der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers nachvollzieht.

Auch Mitherausgeberin Anja Früh, Doktorandin an der Universität Freiburg/Schweiz, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem neuen Marseiller Museum. Im Vergleich mit dem Museum Europäischer Kulturen in Berlin untersucht sie, wie seit der Jahrtausendwende die Europäisierung der beiden Institutionen durch die Etablierung transnationaler Kooperationen erfolgte und dort in Abstimmung mit den staatlichen Außenpolitiken geschichtspolitische Diskurse „mitgeneriert“ werden.

Die vielfältigen, durchgehend mit hoher Kompetenz verfassten Beiträge belegen, dass der Wandel und die Neuausrichtungen von Museen vor allem aufgrund von (geschichts-)politischen Dynamiken erfolgten. Wie die beiden Herausgeberinnen in ihrer profilierten Einleitung herausstellen, spielen diese Einflüsse bei Veränderungen häufig eine wesentlich wichtigere Rolle als wissenschaftliche Erkenntnisse.

Der Band leistet mit seinen ganz unterschiedlichen Fallbeispielen einen differenzierten, innovativen Beitrag zur transnationalen Erforschung von Museen als Produkten geschichtspolitischer Verhandlungen und als Produzenten von Geschichtspolitik. Gleichzeitig bietet er, wie auch die beiden Herausgeberinnen betonen, vielfältige Anregungen für die zukünftige historische bzw. vergleichende historisch-kulturwissenschaftlich-praktische Erforschung von Museen.