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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Reinhard Jakob (Hg.)

Flucht. Flüchtlinge und ihre Habseligkeiten. Von 1945 bis heute

(Jexhof-Heft 32), Fürstenfeldbruck 2016, Landratsamt Fürstenfeldbruck, 182 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Henrike Hampe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.06.2018

Der ansprechend gestaltete und bebilderte Band erschien zur gleichnamigen Ausstellung des Bauernhofmuseums Jexhof in Schöngeising bei Fürstenfeldbruck. Museumsleiter Reinhard Jakob hat für seine Publikation nicht nur ausgewiesene Migrationsforscher als Autoren gewonnen, sondern auch mit wenigen Mitarbeiterinnen und vielen ZeitzeugInnen ein breites Spektrum an biografischen Erzählungen zusammengetragen.

Angeregt durch die Flüchtlingskrise 2015 sollte die Ausstellung ursprünglich, so Jakob, „in diachroner Blickrichtung das Phänomen Flucht erfassen“ (9). Ein Sammelaufruf des Museums im Kreis Fürstenfeldbruck erbrachte jedoch vor allem Fluchtbiografien des Zweiten Weltkriegs; symptomatisch für den ungeminderten Aufarbeitungsbedarf innerhalb der Kriegskindergeneration, vielleicht aber auch für die Schwierigkeit der später Gekommenen, ebenfalls einen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung zu beanspruchen.

Das Buch ist zweigeteilt. Der erste Abschnitt versammelt auf 48 Seiten fünf wissenschaftliche Aufsätze zur Thematik, der zweite 23 Fluchtbiografien; mit 112 Seiten Umfang ist er das Herzstück der Publikation. Beide Teile sind locker miteinander verbunden, die Schwerpunkte der Aufsätze decken sich teilweise mit denen der Fallbeispiele.

Zunächst bietet Jochen Oltmer (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien [IMIS] der Universität Osnabrück) mit „Migration – eine Begriffsklärung“ (16-27) eine Neufassung seines 2012 erschienenen Artikels „Migration“ im Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Ein schneller Überblick mit globaler Perspektive und Fokus auf die Neuzeit: Bewegungsmuster, Motive, Kommunikationswege und Typen von Migration, unter denen Gewaltmigration am ausführlichsten behandelt wird. Zentrale Begriffe finden sich übersichtlich in Tabellen, zwei Kartengrafiken (wohl eine Ergänzung der Redaktion) zeigen die Herkunftsgebiete der deutschen Vertriebenen, die nach 1945 nach Bayern gekommen sind.

Auch der Beitrag „Aussiedler/Spätaussiedler“ (28-37) von Jannis Panagiotidis (ebenfalls IMIS, Osnabrück) dient einer Begriffsbestimmung. Diese ist eng verflochten mit der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte; die vergleichsweise kleine Gruppe der „Übersiedler“ in der DDR wird kurz mitbehandelt. Der Autor beschreibt vier Phasen des (Spät-)Aussiedlerzuzugs mit jeweils wechselnder Rechtslage in den Ausgangsländern und in Deutschland. Die Phasen unterscheiden sich hinsichtlich des Umfangs, der Herkunftsgebiete und der Integrationsfortschritte der Ankommenden, aber auch der öffentlichen Meinung der Aufnahmegesellschaft. Dem aufschlussreichen Beitrag hätte lediglich ein Glossar historischer und wissenschaftlicher Begriffe (wie KSZE-Prozess, segmentierte Integration) gutgetan.

Matthias Schmidt-Sembdner (Kulturanthropologe/Europäischer Ethnologe an der Universität Göttingen) befasst sich in zwei Beiträgen mit aktuellen Fragen. „Die Europäisierung der Migrationspolitik – von der Idee einer europäischen Außengrenze bis zum Sommer der Migration“ (28-45) behandelt die Etappen, in denen Flucht und Migration seit den 1980er-Jahren zum Handlungsfeld der EU geworden sind. Im Wesentlichen lässt sich dieser Prozess an Verträgen und Abkommen verfolgen, teils als rechtliches Nachspiel dramatischer Ereignisse. Tendenziell, so der Autor, versuche die EU Migration innerhalb ihrer Grenzen zu steuern, während sie die von außerhalb kriminalisiere. Im zweiten Aufsatz „Die langen Fühler der Migrationskontrolle: Europas Migrationspolitik in Marokko, Mauretanien und Mali (46—53) behandelt Schmidt-Sembdner die negativen Folgen für außereuropäische Staaten, die Teil der EU-Politik geworden sind. Eine Kartengrafik veranschaulicht die Schlüsselrouten von Afrika nach Europa.

Der abschließende Aufsatz der Historikerin Angelika Schuster-Fox (Bayerisches Nationalmuseum, München) fußt wesentlich auf ihren 1998 veröffentlichten Forschungsergebnissen. „Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen im Landkreis Fürstenfeldbruck nach dem Zweiten Weltkrieg“ (54-63) widmet sich dem räumlich-zeitlichen Rahmen, dem die meisten nachfolgenden Fluchtbiografien zuzuordnen sind. Der Beitrag beschreibt – teils mit Blick auf ganz Bayern - Anfangsschwierigkeiten und schrittweise Integration der Angekommenen, vor allem in den Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Mit 24 % lag ihr Bevölkerungsanteil in der Region 1950 knapp unter dem Landesdurchschnitt, in einzelnen Dörfern jedoch bei 30 %. Wie ganz Bayern profitierte die vormalige Agrarregion vom innovatorischen Potential der Nachkriegsflüchtlinge. Der Aufsatz wechselt zwischen Lokalgeschichtsschreibung (mit gutem Bildmaterial und Grafiken) und bayerischer Landesperspektive; die Beschränkung auf Ersteres hätte ihm möglicherweise gutgetan und eine noch differenziertere Darstellung erlaubt.

Im nun folgenden Hauptteil des Buchs finden sich 23 biografische Erzählungen, chronologisch geordnet nach dem jeweiligen Zeitpunkt der Flucht. Dabei impliziert die Gliederung in zwei Abschnitte die Existenz zweier Flüchtlingsgruppen: Unter dem Titel „Erlebtes“ sind Geschichten von elf Frauen und fünf Männern versammelt, die zwischen 1945 und 1982 nach Deutschland kamen. Der Abschnitt „Flüchtlinge heute“ enthält sieben Fluchtgeschichten aus den Jahren 2014 bis 2016. Diese Trennung entspricht der derzeitigen gesellschaftlichen Wahrnehmung, bestätigt aber vielleicht auch die von Schmidt-Sembdner für die EU-Politik konstatierte klare Unterscheidung von Migration innerhalb und von außerhalb der EU-Grenzen.

Im Abschnitt „Erlebtes“ erzählen überwiegend die ZeitzeugInnen selbst. Der individuelle Sprachduktus ihrer Texte wurde weitgehend belassen. Häufig gehen die Schilderungen über eigene Erlebnisse hinaus, Erinnerungen und Familiengedächtnis haben sich untrennbar miteinander verwoben. Einzelne AutorInnen unterfüttern ihre Erzählung mit Erläuterungen zum historischen Hintergrund. Sechs der Beiträge sind keine Ego-Dokumente im engen Sinn; so werten beispielweise Nachkommen Tagebuchaufzeichnungen ihrer Mütter aus. Elf Geschichten handeln von der Flucht der Deutschen 1945/1946 aus Böhmen und Mähren, Oberschlesien, Schlesien und Ostpreußen. Erzählt werden auch eine DDR-Flucht (1951), drei Fluchtgeschichten aus der Tschechoslowakei nach dem Ende des „Prager Frühlings“ (1968–1969) und schließlich eine Flucht vor der Diktatur in Rumänien (1982). Wie der Ausstellungs- und Buchtitel erwarten lässt, geht es in etlichen Erzählungen auch um „Habseligkeiten“ – gerettete Dinge, verlorene Dinge. Die Spanne reicht von „was ich auf dem Leib trug“ bis zu wertvollen Erbstücken. Und hier liegt ein großer Reiz des Bandes: Er dokumentiert Flüchtlings(-erfolgs-)geschichten im Zusammenhang mit teils wunderbaren Exponaten: das Rehgeweih, das die Grenze als Schmuggelgut passierte, bevor seine Besitzer selbst gehen mussten; das Kaffeeservice vom Erbhof einer lebenslang trauernden Bauerntochter; die Teddybären, die die Mutter in Paketen heimlich in den Westen vorausschickte, bevor sie mit ihrer Tochter hinterher floh. Aber auch Fluchtgepäck-Klassiker fehlen nicht, wie Schlüsselbund und Gepäckstücke. Zu letzterer Objektkategorie gehört auch die karierte Tasche, die als Umschlagmotiv gewählt wurde, und die geöffnet und leer präsentiert wird – was einerseits den Blick auf das Innenfutter lenkt, in das die Flüchtende ihr Diplom eingenäht hatte, aber andererseits auch auf ein wesentliches Moment von Fluchtgeschichten verweist: Flucht heißt Verlust.

Der Abschnitt „Flüchtlinge heute“ zeichnet knapp und sachlich, wenn auch mit Empathie, sieben Fluchtbiografien in einzelnen Kapiteln nach. Den Texten liegen Interviews (Audio/Video) zu Grunde, die die MuseumsmitarbeiterInnen zuvor geführt hatten, teils mit Unterstützung von Flüchtlingshelfern. Bei den Flüchtlingen handelt es sich um zwei Familien, ein Ehepaar, zwei Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 19 und 50 Jahren. Ihr Weg führte sie aus Eritrea, Senegal, Afghanistan, Iran und Syrien innerhalb der letzten zwei Jahre nach Bayern. Man erfährt etwas über ihre Fluchtgründe, ihre Route und ihre aktuelle Lebenssituation, aber auch, welche Dinge sie mitgebracht haben. Bei den meisten lautet die Antwort: nichts – denn wenn sie anfangs noch etwas mit sich trugen, fiel es dem schwierigen Fluchtweg zum Opfer. Ein paar Dokumente, etwas Schmuck – für die Ausstellung sehr wenig und vom Wenigen sicherlich auch nur das gerade Entbehrliche. So sind die sieben Geschichten nicht (wie die vorherigen 16) reich mit Objektfotografien oder alten Familienbildern illustriert, sondern mit aktuellen Porträts, überwiegend in Schwarz-Weiß. Eine Ausnahme bildet der Schnappschuss eines syrischen Ehepaars in Rettungswesten, den die beiden unterwegs mit ihrem Handy aufgenommen haben. Ein virtuelles Exponat, das wir womöglich bald als ebenso typisch für die derzeitige Gewaltmigration ansehen wie den Handwagen von 1945 für die damalige?

Solche Fragen nach Verbindendem und Trennendem, letztlich nach der Vergleichbarkeit von Fluchtbiografien, entstehen beim Lesen des Bandes fast zwangsläufig. Dass die AutorInnen hierzu keine fertigen Interpretationen liefern, dürfte wohl nicht nur an der Schwierigkeit dieser Aufgabe liegen, sondern auch an den Rahmenbedingungen und Zielvorgaben einer Ausstellungskonzeption. Insgesamt handelt es sich jedenfalls um einen gelungenen und sorgfältig redigierten Band, der sein Thema facettenreich präsentiert und weit über Fürstenfeldbruck hinaus interessierte LeserInnen verdient.