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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Sabine Hess/Bernd Kasparek/Stefanie Kron/Mathias Rodatz/Maria Schwertl/Simon Sontowski (Hgg.)

Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III

Berlin/Hamburg 2017, Assoziation A, 267 Seiten mit 3 Grafiken
Rezensiert von Simon Goebel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.06.2018

„Der lange Sommer der Migration“ ist der dritte Band in der Reihe „Grenzregime“, der aus dem Umfeld des Netzwerks für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) entstanden ist. Der Zusammenschluss von Forschenden, AktivistInnen und KünstlerInnen soll im Sinne kollaborativer erkenntnistheoretischer Ansätze eine engere Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis ermöglichen. Auch Grenzregime III ist daher keine reine Ansammlung analytischer Texte, sondern beinhaltet zudem deskriptiv-journalistische Beiträge, und solche, die vorrangig als politische Statements gelesen werden können.

Die HerausgeberInnen legen einige theoretische Konzepte und Positionierungen zugrunde, denen die Beiträge überwiegend folgen: Im Zentrum steht das – durchaus umstrittene – Konzept der „Autonomie der Migration“. „Die Menschen kamen [...] weder als ‚Opfer‘ auf der Suche nach humanitärer Hilfe noch als billige Arbeitskräfte. Sie kamen als politische Subjekte, die ihr Schicksal gegen alle Widerstände und Widrigkeiten in die Hand genommen haben.“ (18) Als empirische Feststellung wäre diese Aussage sicher zu generalisierend und damit falsch. Als analytischer Ansatz verspricht sie hingegen eine Forschung mit und aus den Perspektiven von Geflüchteten zu leisten statt nur über sie. Sabine Hess und Serhat Karakayalı bekräftigen in ihrem Beitrag die „Autonomie der Migration“, indem sie die „migrantischen Widerstandspraktiken“ (26), die „Handlungsmacht der Migration“ (28) sowie „migrantische Agency“ (29) diskutieren und als Katalysatoren der „Transformation des sozialen Raumes und eine[r] Welt-schaffende[n] Praxis“ (32) begreifen. Als weitere erkenntnistheoretische Forderung ist der Beitrag von Johanna Neuhauser, Sabine Hess und Helen Schwenken zu verstehen, indem sie eine Verknüpfung von refugee studies und border studies mit gender studies proklamieren, auch um der „Unter- und Überbelichtung der Kategorie Geschlecht im fluchtbezogenen Diskurs“ (176) eine differenzierte Perspektive entgegenzusetzen.

Besonders erhellend für den wissenschaftlichen und den öffentlichen Diskurs sind die Beiträge, die den Alltag von MigrantInnen an den Rändern Europas aufzeigen. Beispielsweise erörtern Sarah Nimführ, Laura Otto und Gabriel Samateh eindrucksvoll die Situation von Geflüchteten in Malta, wo Geflüchtete aufgrund ihrer Seenotrettung angekommen sind, sich gleichwohl mit einer äußerst repressiven Exklusionspolitik konfrontiert sehen. Dass der Beitrag von Gabriel Samateh, der als Geflüchteter auf Malta lebt, mitverfasst wurde, zeigt, wie kollaborative Wissensproduktion gelingen kann.

Ebenso erkenntnisreich ist der Beitrag von Nina Violetta Schwarz, die die Migrationsbewegungen im Transitland Marokko untersucht und die zwischen Abschiebungen, Repression und räumlicher Segregation changierenden Politiken der marokkanischen Regierung darstellt. Sie analysiert die Einflussnahme der EU-Migrationspolitik auf Marokko in Form von „Aktionsplänen“ (65), die klandestinen und widerständigen Strategien von MigrantInnen sowie die schwierigen Bedingungen der öffentlichen Unterstützung und Solidarisierung von und für die MigrantInnen.

Auch andere Beiträge fokussieren die Praktiken und Kämpfe an den Rändern des europäischen Grenzregimes: Cavidan Soykan problematisiert den EU-Türkei-Deal und die Situation von Geflüchteten in der Türkei. Bernd Kasparek interviewt den Sozialanthropologen und Aktivisten Giorgos Maniatis aus Athen zur Positionierung der griechischen Politik gegenüber den Migrationsbewegungen nach, in und von Griechenland aus.

Einige AutorInnen nehmen die Routen und Wege der Migration in den Blick: Anna Mrozek, Simon Sontowski, Paolo Cuttitta, Lina Ewert und Bernd Kasparek beschreiben und analysieren in ihren Beiträgen die Situationen auf dem Mittelmeer wie die Zusammenarbeit der europäischen Küstenwachen mit Frontex, die Praktiken und politischen Positionierungen von Seenotrettungsorganisationen und die Umbrüche der Ordnungspolitiken während der Phase der Migration über die Balkanroute.

Mit Blick auf das Migrationsregime in Deutschland analysieren Helge Schwiertz und Philipp Ratfisch schlüssig die anti-migrantischen Diskurse und resümieren, dass in der Öffentlichkeit drei Positionen darum ringen, sich als hegemoniales Projekt durchzusetzen: das „national-neoliberale Projekt [...], das einem Standortnationalismus folgt“, das „national-konservative bis völkische Projekt [...], das einen völkischen Nationalismus propagiert“, sowie das „(post-)migrantisch-humanitäre Projekt“ (159). Alle drei Diskurse sind in der öffentlichen Auseinandersetzung präsent. Daran anknüpfend zeigt Maximilian Pichl, der die Asylrechtsverschärfungen der Jahre 2015 und 2016 rekapituliert, dass mit ihnen „national-konservative und völkische Ansätze in den hegemonialen Kompromiss integriert wurden“ (173).

Vor diesem Hintergrund fragen die eher aktivistisch orientierten Beiträge von Chandra-Milena Danielzik und Daniel Bendix sowie von Niki Kubaczek nach den Verhältnissen zwischen den Bewegungen um die „Willkommenskultur“, Geflüchteten-Bewegungen und linken Bewegungen sowie nach dem Mobilisierungspotential gegen das Migrationsregime. Schließlich zeichnen zwei Beiträge von Charles Heller und Lorenzo Pezzani sowie vom Projekt Moving Europe detailreich den „Sommer der Migration“ und die Transformationen des EU-Grenzregimes nach, die durch die als krisenhaft wahrgenommenen Migrationsbewegungen ausgelöst wurden. Krisenhaft, so konstatieren sämtliche AutorInnen des Bandes, ist jedoch in erster Linie das in seiner Widersprüchlichkeit zwischen Humanitarismus und (mitunter tödlicher) Flüchtlingsabwehr verworrene europäische Migrations- und Grenzregime selbst.

Innerhalb der 18 relativ kurzen Beiträge in Grenzregime III kommt es leider zu einigen inhaltlichen Überschneidungen, was sicher der engen zeitlichen Fokussierung des Bandes geschuldet ist. Gleichwohl werden wichtige Phasen und Räume des „langen Sommers der Migration“ thematisiert. Dem Band muss vor allem zugutegehalten werden, dass er diverse Kämpfe der Migration sichtbar macht, für die die Medien oft blind sind. Gängige Wahrnehmungen werden fundiert widerlegt und Kritik unterzogen. Beispielsweise sei die „regierungsamtliche[] Ausrufung der ‚Willkommenskultur‘“ (13) lediglich die „Bemühung nach nationalstaatlicher Rasterung und Glättung der mannigfaltigen Ereignisse, die 2015 stattfanden“ (208). Insofern ist der Band auch ein geeigneter Beitrag für den öffentlichen Diskurs.