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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Wolfgang Meighörner (Hg.)

Hier zuhause. Migrationsgeschichten aus Tirol. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Tiroler Volkskunstmuseum, 2.6.-3.12.2017

Innsbruck 2017, Tiroler Landesmuseen–Betriebsgesellschaft, 256 Seiten mit Abbildungen, meist farbig
Rezensiert von Sebastian Gietl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.06.2018

Nicht erst seit den medial omnipräsenten Ereignissen der Flüchtlingskrise 2015, die die Gesellschaft hierzulande erstmals hautnah mit den Konsequenzen einer aus dem Ruder gelaufenen globalisierten Weltwirtschaft und mit ihr einer überforderten Weltpolitik konfrontierte und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihr zwang, ist das dringlicher werdende Phänomen der Migration essentieller Teil der interdisziplinären Geistes- und Sozialwissenschaft. Dieser tiefgreifende Erfahrungsschatz spiegelt sich im sehr empfehlenswerten Katalog zur gleichnamigen Ausstellung „Hier zuhause. Migrationsgeschichten aus Tirol“, die vom 2. Juni bis zum 3. Dezember im Tiroler Volkskunstmuseum in Innsbruck stattfand.

Hörte man sonst 2017 aus Österreich zum Thema Migration eher Verstörendes und konnte zumindest von Deutschland aus durch die Berichterstattung zum Wahlkampf und zur anschließenden Wahl zum Bundestag den Eindruck gewinnen, dass eine objektive Auseinandersetzung abseits politischer Polemik beim südlichen Nachbarn nicht mehr möglich ist, zeigt die vorliegende Publikation umso eindrücklicher, dass es auch ein anderes Österreich, ein differenzierteres, offeneres gibt, das sich ohne Polemik und Populismus den Tatsachen stellt und Lösungen finden will. Tirol ist, wie der Direktor der Tiroler Landesmuseen in seinem Vorwort so schön hervorhebt, obwohl „es auf den ersten Blick nicht so scheint“, seit jeher Transitland und von Migration geprägt worden. So seien ja auch weite Bereiche der heute dort ansässigen deutsch- und italienischsprachigen Gruppen der Europaregion Tirol erst durch Migration im Mittelalter heimisch in der Region geworden. Dabei ist eine Aufzählung all derer, die im Laufe der Geschichte durch das Land gezogen sind und ihre Spuren in Kunst und Kultur hinterließen, im Grunde gar nicht möglich, denn im „Zentrum der großen europäischen Trennlinie der Alpen gelegen, waren hier Durch- und Zuzüge die Regel – nicht die Ausnahme“.

Wie Wolfgang Meighörner zurecht feststellt, haben die „Möglichkeiten des Reisens [...] jedoch die Dimensionen der Mobilität in der Gegenwart verändert. Waren früher Zuwanderungen aus dem angrenzenden Umland gegeben, so weiteten diese Wanderungen sich über die europäischen Länder bis hin zu globalen Ursprungsländern aus. Auch die Ursachen für die Zuwanderung änderten sich: War die Völkerwanderung durch weit im Osten liegende Veränderungen der Gebietsansprüche und/oder Veränderungen der Wetterbedingungen und einem sich daraus ergebenden ‚Domino-Effekt‘ begründet, so führten in der jüngeren Vergangenheit politische (Fehl-)Entscheidungen zu gewollten Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung.“

Die regionalen Formen der Aushandlung und Folgen dieser globalen wirtschaftlichen und politischen Prozesse zu thematisieren, auszuleuchten und zu deuten, hat sich eine breitgefächerte Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des ZeMiT (Zentrum für MigrantInnen in Tirol), dem Land Tirol, der Stadt Innsbruck zusammen mit den Mitarbeitern des Tiroler Volkskunstmuseums zur Aufgabe gemacht.

Die Ausstellung ist Teil eines dreistufigen Projektes, das 2016 mit der Ausstellung „Alles fremd – alles Tirol“ begann und zur Aufbereitung der Komplexität des Themas zunächst Objekte aus der Sammlung des Museums im Hinblick auf „Kulturkontakt, Kulturkonflikt und Stereotype“ beleuchtete und so das Publikum langsam heranführte. Vervollständigt wird die Reihe dann durch eine mehrtägige, partizipative Veranstaltungsreihe im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum 2018.

Das vorliegende Projekt startete 2016 mit einem Sammelaufruf der Projektgruppe unter dem mehrsprachigen Motto „WIR SAMMELN! Migration ist Teil der Geschichte Tirols“, „TOPLUYORUZ! TOPLUYORUZ! Tirol'daki göçmenlerin hikayesini topluyoruz“ und „MI SAKUPLJAMO! Priče o migraciji u Tirolu“. Neben einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Erhebung von Ausstellungsmaterialien „wollte die Sammelaktion auch nachspüren, wie Migration von unterschiedlichen sozialen Gruppen erinnert wird und welche Deutungsmuster kursieren“. In diesem Ansatz verbirgt sich auch die Konzeption der Ausstellung. Es „sollten Objekte präsentiert, Zeitzeug_innen in Interviews zu Wort kommen und diese Informationen miteinander in Beziehung gestellt werden: Durch die vielen Meinungen und unterschiedlichen Erfahrungsberichte müsste deutlich gemacht werden, dass es keine eindeutige Migrationsgeschichte gibt.“ Dabei sollten Statements sowie Fragestellungen und Kommentare des Konzeptteams die individuellen Erinnerungen und Erzählungen begleiten. Das Konzept sah außerdem vor, sich in Form einer Konferenz zu präsentieren. So sollten verschiedene Erfahrungen gehört werden und Migrantinnen und Migranten mehrerer Generationen ebenso wie die Kuratorinnen und Kuratoren dann über historische Beziehungen, über Stereotype und Vorurteile oder über soziale Zusammenhänge nachdenken und diskutieren können.

Der Katalog spiegelt dieses sehr elaborierte Konzept auf allen Ebenen wider, wenngleich er natürlich nicht die Konferenzsituation aufnehmen kann. Aufgeteilt in drei große Bereiche „Perspektiven auf Geschichte und Politik“, „Perspektiven auf Stadt und Land“ und „Perspektiven auf Kunst, Kultur und Musik“, schafft er es – ohne den Anspruch darauf zu erheben – dennoch zu einem Standardwerk für Migration in Tirol zu werden. Mit einem sehr starken Fokus auf historische, soziale und gesellschaftliche Kontexte – ohne dabei das Potential ethnografischer, qualitativer Forschung aus dem Auge zu verlieren – schafft er es außerdem, auch den skeptischen oder arglosen Leser in seinen Bann zu ziehen und als „Wissenden“ wieder in die Welt zu entlassen, soweit er sich auf die doch so wichtige Thematik einlässt.

Auch im Nachgang zur äußerst sehenswerten Ausstellung bleibt dem Katalog nur zu wünschen, dass er Eingang in viele Bibliotheken bekommt und noch mehr Leser: im Bereich der Politik, in der Wirtschaft und vor allem in der breiten Bevölkerung. Macht die Augen auf, lest und versteht!