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Evelyn Gillmeister-Geisenhof

Kleidungskultur in Mittelfranken am Beispiel der weiblichen Kopfbedeckungen im 19. Jahrhundert

(Schriftenreihe der Trachtenforschungs- und -beratungsstelle Bezirk Mittelfranken 10), [Ansbach] 2016, Trachtenforschungs- und -beratungsstelle Bezirk Mittelfranken, 147 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, meist farbig
Rezensiert von Thekla Weissengruber
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.06.2018

Klassische volkskundliche Studien zur Realienkunde, insbesondere zu Trachten, sind rar geworden im Themenkanon des Vielnamenfachs Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie, wenngleich doch seit einigen Jahren ein Trend zur objektbasierten Forschung sehr deutlich erkennbar ist [1typo3/]. Die vorliegende Publikation von Evelyn Gillmeister-Geisenhof fasst in hervorragender Art und Weise die über 30-jährige Forschungsarbeit zur Kleidungskultur in Mittelfranken zusammen. Als ein Kompendium zum Erkunden der mittelfränkischen Haubenkultur im kulturhistorischen Kontext will die Autorin ihr Werk verstanden wissen, was auch in beispielloser Art detailreich umgesetzt wird. Dabei baut Evelyn Gillmeister-Geisenhof als gelernte Damenkleidermacherin, diplomierte Textildesignerin und an Geschichte, Politologie und Volkskunde Interessierte auf ihren Forschungen aus den 1980er Jahren auf, die wesentlicher Bestandteil der täglichen Arbeit als Leiterin der damals neu gegründeten Trachtenforschungs- und ‑beratungsstelle des Bezirks Mittelfranken seit 1986 waren [2typo3/]. Eben diese Ergebnisse der Feldforschungs- und Zeitzeugengespräche bereichern die Studie um Hinweise, die heute nicht mehr nachzuholen wären, da die meisten Gewährsleute inzwischen längst verstorben sind. Daneben bedient sich Evelyn Gillmeister-Geisenhof der historischen Originalstücke der Trachtenberatungsstelle bzw. von Museen und Privatpersonen, Bildquellen aller Art und Archivalien.

Die Beschäftigung mit Kopfbedeckungen, insbesondere mit regionalspezifischen Kopfbedeckungen, führt naheliegend zur Erkenntnis, dass auf die kommunikative Funktion dieser Traditionsgüter eingegangen wird, stellen doch Hauben immer etwas Besonderes im kollektiven Kleidungsverhalten des jeweiligen Lebensumfeldes dar. „Kleidung allgemein und Kopfbedeckungen im Besonderen sprechen über ihre Formen, Gestaltung und Farben eine nonverbale Sprache, die wie jedes Kommunikationssystem funktioniert. Die Zeichensprache, die von einer Kopfbedeckung gesendet wird, muss von dem Empfänger dechiffriert und verstanden werden, denn nur so erhält der Hut, die Haube, das Kopftuch oder der Schleier seine Bedeutung.“ (17)

Obgleich in dieser Publikation ausschließlich Kopfbedeckungen des 19. Jahrhunderts vorgestellt werden, beginnt doch die Studie mit einem ausführlichen Kapitel über die Bedeutung der Haare und Kopfbedeckungen unter ausführlicher Zitation der Bibelstellen und einer Darstellung der sich daraus entwickelnden gesellschaftlichen Praktiken und Bräuche rund um Haar und Hauben. War in früheren Jahrhunderten noch das vollkommene Bedecken des weiblichen Haares allgemeiner von der Kirche geforderter gesellschaftlicher Usus, so wird doch im Betrachtungszeitraum des 19. Jahrhunderts das modebedingte Abgehen von dieser „Regel“ bemerkbar, wenn man die dargestellten Hauben betrachtet, die einen deutlichen Blick auf die Frisur und damit auf das Haar erlauben.

Die Darstellung der zu den Hauben notwendigen Gewerke in ihrer Geschichtlichkeit, samt der Lebensbilder der Haubennäherinnen und Haubenstickerinnen der Region, erweitern die Publikation wesentlich auch um sozialwirtschaftliche Aspekte. Sehr interessant auch der Ausblick in das 20. Jahrhundert und das offensichtlich durch die nationalsozialistische Ideologie gesteigerte Interesse am „Volksgut“ und die damit einhergehende Renaissance auch der fränkischen Trachten.

Es folgt ein sehr ausführliches Kapitel zur „Bänder-Bodenhaube“, das um zahlreiche technische Einzelheiten erweitert wurde und dem Leser neben der detailreichen Beschreibung der verschiedenen Varianten der mittelfränkischen Bänder-Bodenhaube auch die Möglichkeit bietet, die hier gewonnenen Erkenntnisse für Neuentwicklungen und Restaurierungen anzuwenden. Damit ergänzt Evelyn Gillmeister-Geisenhof durch ihre Publikation beispielsweise die Arbeiten von Franziska Rettenbacher typo3/[3] und Ursula Zirsch [4], die genau diesen Aspekt der Weitergabe des Wissens um die Herstellung der Haube gewählt haben. Für den mittelfränkischen Beobachtungsraum erkennt Evelyn Gillmeister-Geisenhof sechs verschiedene Haubenvariationen, wobei an evangelischen Beispielen die Bänderhaube in die südliche Region, die Zopfhaube in das westliche, die Zylinderhaube in das nördliche und die He(n)ninform der Bänderhaube in das östliche Mittelfranken zu situieren sind. Die katholische Spitzhaube und auch die Riegelhaube, die eine Sonderstellung einnimmt, ordnet die Autorin dem katholischen Bistum Eichstätt zu. Die Bezeichnung „Henin“, die wohl auf die Spitzhaube „Hennin“ des 14./15. Jahrhunderts verweisen soll, verwundert ein wenig, liegen hier doch einige Jahrhunderte dazwischen. Auch die Bezeichnung Radhaube, die Kostümhistoriker eher für die Gold- und Spitzenhauben der Bodenseeregion verwenden würden, erscheint seltsam als Bezeichnung für manch abgebildete Spitzenschirmhaube aus Franken. Hier wäre hilfreich, wenn auf die Geschichte dieser Terminologie eingegangen werden könnte. Ist doch insgesamt die Typologie der Bezeichnungen für Kopfbedeckungen ein wichtiges Hilfsmittel für Museen und Sammlungen [5typo3/]. Der Entscheidung, zwei defekte evangelische Bänder-Bodenhauben aus dem Raum Weißenburg aus den 1870er und 1880er Jahren zu zerlegen, verdankt der Leser/die Leserin eine detaillierte Foto-Dokumentation auch zum Inneren und zum Aufbau der Hauben, wobei hier wunderschöne Stoffe, vorwiegend Baumwolldruckstoffe, zum Vorschein kommen, die noch mehr Beachtung finden könnten. Auch wenn sich Stoffe über den Handel oft weiträumig verteilt haben, würde hier interessieren, ob nicht doch ein Produzent oder eine Quelle nachweisbar wäre, sind doch die Stoffproduktionen durch die Musterbücher der einzelnen Produzenten bestens dokumentiert. Auch die namengebenden Bänder der Bänderhauben, ihre Qualitätsunterschiede und ihre Verbreitung würden eine Darstellung in einer weiterführenden Publikation verdienen.

In einem ausführlichen Kapitel geht Evelyn Gillmeister-Geisenhof auf das Haubenbodensticken und auf die Geschichte der „Leonischen Industrie“ in Nürnberg, Weißenburg und Treuchtlingen, auf die Materialien, das Werkzeug, auf die Bezugsquellen und die Technik ein. Der Hinweis, dass die Metallstickerei auf den regionalen Hauben erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftaucht, könnte um die doch kostümgeschichtlich wichtige gesetzliche Beschränkung der sogenannten Kleiderordnungen ergänzt werden. Galt doch bis Ende des 17./Mitte des 18. Jahrhunderts das Gesetz, „dass keine Frau, noch jung noch alt, noch burgerin noch Handwerk irgendein Perlin, kein genähtes Gold, noch Borten noch Seide an irgendeinem Gewand fürbaz nicht tragen soll“ [6typo3/]. Dies erklärt die zarte, fast versteckte Stickerei am Haubenboden der fränkischen Kopfbedeckungen als Nachwirkung dieser Luxusgesetze. Im Kapitel „Historische Muster, Ornamente und Motive“ wird auf die Geschichte der Stick-Muster auf den Kleidungsstücken, Textilien und Haubenböden eingegangen. Der Hinweis auf die „Modellbücher“, insbesondere auf das Nürnberger Musterbuch des Johann Sibmacher von 1604, erklärt sehr schön die Wiederholung und Verbreitung mancher Motive. Auch hier ist der Band mit Fotodokumentationen und Graphiken so gestaltet, dass nicht nur die Historizität dargestellt wird, sondern auch Nacharbeitungen ermöglicht werden. „Die Symbolik in den Stickmustern“ lässt sicherlich noch Raum für weitere Interpretationen.

Das Kapitel der „Beschreibung der einzelnen Haubentypen in ihrem Verbreitungsgebiet“ bietet nun eine ausführliche Darlegung der über 30-jährigen Forschungsergebnisse von Evelyn Gillmeister-Geisenhof unter Zuhilfenahme der eingangs erwähnten Quellen, insbesondere der Physikatsberichte der Landgerichte aus den 1850er Jahren. Nehmen wir an und hoffen wir, dass die Bezirksärzte tatsächlich ortsansässig waren und auch die tatsächlichen Zustände vor Ort und nicht die ihrer eigentlichen Herkunftsregion beschrieben haben, wie dies bei anderen statistischen Erhebungen durchaus der Fall gewesen sein mag. Auch sie werfen den städtischen Blick des Bildungsbürgers auf das Land und seine Bewohner, wie dies ja auch die einzelnen Reiseschriftsteller und frühen volkskundlichen Forscher getan haben. Die Erfahrung im Umgang mit Bild- und Schriftquellen zeigt doch, dass hier – wie Evelyn Gillmeister-Geisenhof auch richtig bemerkt - ein kritischer Blick vonnöten ist, sind doch viele „beschönigende“ und „harmonisierende“ Beispiele inzwischen längst bekannt geworden [7typo3/]. Auch die Bildbelege des Georg Eberlein (1819-1884) scheinen doch eher „die schöne heile fränkische Welt“ abzubilden.

Der Einschub zu den „Hauben im Leben“ mit Hinweisen auf die Bräuche rund um Trauer und Hochzeit und die damit vermittelte nonverbale Kommunikationsstruktur ist sicherlich für die weitere Kenntnis rund um die Haubenkultur in Mittelfranken sehr hilfreich. Ebenso wie die jeweils mit Verbreitungskarte und genauen Bildbelegen dokumentierte Haubenlandschaft in Mittelfranken von evangelischen Bänder- oder Bödeleshauben, gestellt und gelegt, über Radhauben, Zopfhauben oder Patschhäubchen, Zylinder- oder „Gauhauben“, die Bänderhaube in „Hen(n)inform bis zu katholischen „Spitzhauben“, Riegelhauben und „Winterhauben“. Diese Darstellung bietet eine willkommene Handreiche zur Bestimmung der einzelnen Hauben der Region. Der Überblick ist dabei mit zahlreichen Abbildungen ergänzt, auf denen auch die dazugehörigen Kleidungsstücke zu sehen sind – und so ein optischer Eindruck von der mittelfränkischen Kleidungskultur insgesamt entstehen kann. Das Beispiel der Riegelhaube verweist auf eine überregionale modische Komponente in der Haubenregion Mittelfranken, war doch der Siegeszug der Münchner Riegelhaube unaufhaltbar [8typo3/]. Der Hinweis auf die Nutzung der Riegelhaube von der privilegierten bürgerlich mittelständischen Schicht ist daher wichtig.

Der nun vorliegende Band 10 der von Evelyn Gillmeister-Geisenhof begründeten Publikationsreihe der Schriften der Trachtenforschungs- und -beratungsstelle des Bezirks Mittelfranken liefert einen weiteren Baustein zur zeitgemäßen Sachkulturforschung. Einziger Kritikpunkt und sicherlich begründet durch die begrenzten Mittel der Trachtenberatungsstelle ist die Graphik der Publikation, die an manchen Stellen verbesserungswürdig wäre.

Evelyn Gillmeister-Geisenhof hat in jedem Fall das von ihr postulierte Kompendium zu den weiblichen Kopfbedeckungen der mittelfränkischen Kleidungskultur des 19. Jahrhunderts abgeliefert und bietet damit einen umfassenden Überblick und eine Handreiche für Trachtenbegeisterte und Trachtenforscher. Hoffen wir auf einen zweiten Teil, der die Aspekte der Erneuerung der Haubenkultur in Mittelfranken, der Trachtenerneuerung insgesamt und der ideologischen Vereinnahmung, besonders aber den Umgang mit den Traditionsgütern in den 1930er/1950er und 1970er Jahren sowie auch während der Arbeit der Autorin selbst zusammenfasst. Dies sollte als Auftrag für einen möglichen Band 2 der Kleidungskultur in Mittelfranken im 20. Jahrhundert gesehen werden [9typo3/].

 

[1] Das Junge Forum für Sammlungs- und Objektforschung der Georg-August-Universität Göttingen (2017) bzw. die Publikation von Annette Caroline Cremer u. Martin Mulsow (Hgg.): Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Köln/Weimar/Wien 2017, seien hier beispielhaft genannt.

[2] Ausführlich zum Lebenslauf s. Richard Bartsch: Evelyn Gillmeister-Geisenhof. Verabschiedung in den Ruhestand und 30 Jahre Trachtenforschungs- und -beratungsstelle des Bezirks Mittelfranken. In: SH 105 (2016), S. 320 f. Katrin Weber sei für diesen Hinweis herzlich gedankt.

[3] Franziska, Karl u. Georg Rettenbacher: Goldstickerei. Ein Bilder- und Werkbuch. Bd. I: Goldhauben und verwandte Trachtenhauben. Simbach am Inn/München 2002; Bd. II: Riegelhauben, Kranl, Schmuck und Taschen. München/Simbach am Inn 2005; Bd. III: Bestickte und verzierte Mieder. Simbach am Inn 2013.

[4] Ursula Zirsch: Das Gold- und Perlhauben-Stickkurs-Buch. Eigenverlag 2014.

[5] Vgl. Gitta Böth, Manfred Hartmann, Viktor Pröstler u. Wolfgang Stäbler (Red.): Kopfbedeckungen. Eine Typologie für Museen und Sammlungen (MuseumsBausteine 15; Materialien aus dem Westfälischen Museumsamt 6). Berlin/München 2013. Leider ist diese Typologie alphabetisch geordnet und sehr unbefriedigend, was regionalspezifische Kopfbedeckungen anbelangt, da diese in dem Kapitel „Trachtenhauben“ zusammengefasst werden, was nicht auf alle Kopfbedeckungen, die auch unter dem Namen Hauben kursieren, zutrifft. Auch hier versteht sich unter dem Begriff Radhaube eine Trachtenhaube mit einer am Hinterkopf aufragenden Scheibe. Nicht alle von Evelyn Gillmeister-Geisenhof abgebildeten und bezeichneten Radhauben würden in diese Definition passen.

[6] Zitiert aus einer Kleiderordnung aus Ulm 1411 (fol. 138b, Nr. 428). Ähnlich die Nürnberger „Kleiderordnung für Frowen und Junckfrowen. Sie sollen nyt tragen guldine, silberine, samatein, adtlassin unnd annder Seyden Gewanndt oder Gestycke“. Abgedruckt bei Joseph Baader: Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII.-XV. Jahrhundert. Stuttgart 1861, S. 95. S. hierzu auch Veronika Baur: Kleiderordnungen in Bayern vom 14. bis zum 19. Jahrhundert (Miscellanea Bavarica Monacensia 62). München 1975.

[7] Lioba Keller-Drescher: Bilder lesen. Trachtenbilder im Kontext. In: Helge Gerndt u. Michaela Haibl (Hgg.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft (Münchner Beiträge zur Volkskunde 33). München 2005, S. 299-310.

[8] Rita Seibert-Sülzenfuhs: Die Münchnerinnen und ihre Tracht. Geschichte einer traditionellen Stadttracht als Spiegel der weiblichen Bürgerschicht. Dachau 1997; Katrin Weber: „... von Gold, mit ächten Perlen gestickt“. Die Regensburger Riegelhaubenstickerinnen. In: Tobias Appl u. Johann Wax (Hgg.): Tracht im Blick. Die Oberpfalz packt aus (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Oberpfalz 1). Regensburg 2016, S. 252-275.

[9] In Ansätzen wurde das bereits dargelegt: Evelyn Gillmeister-Geisenhof: Wie viel Tracht braucht der Mensch? Eine ganz persönliche Standortbestimmung einer Trachtenbeauftragten. In: Schönere Heimat 92 (2003), Sonderausgabe: Heimatpflege heute: Grundsätzliches und Aktuelles. Hans Roth zum 65. Geburtstag, S. 84-90, bzw. die Publikationen zur Tracht in Mittelfranken. Eine Publikationsliste findet sich auf der homepage der Trachtenberatungsstelle Mittelfranken www.trachtenforschung.de.