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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Lioba Meyer/Florian Nikolaus Reiß (Hgg.)

Höchste Eisenbahn. 150 Jahre Zugverkehr in Oldenburg. Katalog zu den gleichnamigen Ausstellungen im Museumsdorf Cloppenburg und im Stadtmuseum Oldenburg

(Materialien & Studien zur Alltagsgeschichte und Volkskultur Niedersachsens 47), Cloppenburg/Oldenburg 2017, Museumsdorf Cloppenburg/Stadtmuseum Oldenburg, 324 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Andreas Kühne
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.06.2018

Das hier zu besprechende Buch entstand anlässlich zweier Ausstellungen zum Jubiläum „150 Jahre Zugverkehr in Oldenburg“ im Museumsdorf Cloppenburg und im Stadtmuseum Oldenburg. Der Begleitband enthält 16 Beiträge und gibt einen facettenreichen Einblick in das Thema Eisenbahn im ehemaligen Großherzogtum Oldenburg aus historischer, aber auch aus kulturwissenschaftlicher Sicht.

Einige Beiträge seien hier etwas näher erläutert. Lioba Meyer („150 Jahre Eisenbahn im Oldenburger Land“, 22-69) stellt umfassend die historische Entwicklung dar und setzt mit dem relativ späten Start des Eisenbahnzeitalters ein, das erst 1864 mit der Gründung der „Großherzoglich Oldenburgischen Eisenbahn G. O. E.“ begann, also gut 30 Jahre nach der Fahrt der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Der Bahnbau scheiterte zunächst unter anderem am politischen Widerstand des benachbarten Königreichs Hannover. Die „Erfolgsgeschichte“ der Staatsbahn ließ sich jedoch nicht mehr aufhalten: Die Wirtschaft des Landes nahm einen großen Aufschwung, Handel und Industrie profitierten von dem neuen Verkehrsmittel, das nun den Anschluss an die „große Welt“ darstellte. Die Infrastruktur wurde ständig an den wachsenden Verkehr angepasst, auch kamen immer modernere Fahrzeuge und Waggons zum Einsatz. Die Anzahl der Fahrgäste und transportierten Güter nahm stetig zu. Die Residenzstadt Oldenburg wurde nun zu einer „Eisenbahnerstadt“: Die Hauptverwaltung der G. O. E. und spätere Reichsbahndirektion hatte ihren Sitz in unmittelbarer Nähe des repräsentativen Bahnhofs, ebenso entstanden ein großes Ausbesserungswerk, zahlreiche Eisenbahnerwohnungen sowie ein Rangierbahnhof vor den Toren der Stadt. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung der Weimarer Republik ging die G. O. E. gemeinsam mit den anderen Länderbahnen in der Deutschen Reichsbahn Gesellschaft auf. Ab 1937 wurde sie in eine reine Staatsbahn (Deutsche Reichsbahn) umgewandelt und direkt dem NS-Staat unterstellt - und damit schließlich als logistische Grundlage zur Kriegsführung und für die Deportationen benutzt. Infolge des Krieges wurden auch die Oldenburger Bahnanlagen durch Fliegerangriffe teilweise zerstört. In den drei westlichen Besatzungszonen kam es ab 1949 zur Gründung der Deutschen Bundesbahn, die mit der hohen Schuldenlast und maroden Infrastruktur schlechte Startbedingungen hatte. Außerdem war die Konkurrenz des Autoverkehrs schon bald so groß, dass die Rationalisierung des Bahnverkehrs im Vordergrund stand. Besonders in den 1970er Jahren wurden zahlreiche Strecken und Bahnhöfe in der Region stillgelegt; das Ausbesserungswerk und der Rangierbahnhof wurden geschlossen. Ab 1985 wurde Oldenburg durch Streckenelektrifizierung zum Intercity-Bahnhof. Eine gewisse Renaissance erlebten zunächst von der Stilllegung bedrohte Strecken, die infolge der Bahnreformen ab 1994 nun durch private Anbieter betrieben werden konnten.

Die Auswirkungen des Bahnbaus auf die Entwicklung des ländlichen Umfeldes nimmt der Beitrag von Florian Nikolaus Reiß („Eine Eisenbahn fürs Land“, 70-89) in den Fokus. Das Umland wurde durch Neben- und Schmalspurbahnen neu erschlossen. Das neue Verkehrsmittel ermöglichte es nun den Bauern, ihre Produkte (Schweine, Milch) leichter zu verkaufen, und sorgte für einen deutlichen Aufschwung in der Landwirtschaft.  

Für die vielen Menschen, die bei der Bahn arbeiteten, entstand eine entsprechende soziale Infrastruktur wie Gewerkschaften, Krankenkassen, Pensionskassen (s. Lioba Meyer: „Vereins- und Organisationswesen der Eisenbahner und betriebliche ‚Wohlfahrtseinrichtungen‘“, 98-121).

Der Eisenbahnarchitektur widmen sich drei Beiträge: Während bei Dieter Ostendorf („Thunlichste Einfachheit bei möglichster Zweckmäßigkeit – Eisenbahnarchitektur der G. O. E.“, 136-159) die Bahnhofsarchitektur in ihren unterschiedlichen Stilformen im Mittelpunkt steht, widmet sich Michael Schimek in seinem Beitrag („Leben nach Fahrplan – Vom Umgang mit Bahngebäuden“, 160-199) eher dem praktischen Nutzen dieser landschaftsprägenden Bauten (Bahnwärterhäuser, Bahnhöfe) und damit den Eisenbahnern und Passagieren, die in und mit diesen Gebäuden leb(t)en. Dabei bringt er Details, wie zum Beispiel über die Konstruktion der Bahnwärterhäuser des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich stark an den regional üblichen Bauernhäusern orientierten, denn zur bäuerlichen Selbstversorgung waren Ställe vorgesehen. Friedrich Precht nimmt in seinem Beitrag einen Bahnhof im Wandel der Zeit näher unter die Lupe („Der Bahnhof in Hude“, 200-213).

Besonders hinzuweisen ist hier auf den Beitrag von Lioba Meyer über „Die Deutsche Reichsbahn, die Ausplünderung der Ukraine und die Zwangsarbeit“ (214-240). Lange Zeit wurde dieses dunkle Kapitel der deutschen Eisenbahngeschichte in der Forschungsliteratur ausgeblendet, deswegen ist es umso lobenswerter, dass auf der Grundlage zahlreicher erhaltener Quellen die direkte Beteiligung der Reichsbahn und ihrer Mitarbeiter (in diesem Fall aus Oldenburg) an der Ausplünderung der Ukraine untersucht wurde, vor allem der Raub und Abtransport landwirtschaftlicher Güter und Lebensmittel aus den von der deutschen Wehrmacht eroberten Teilen der Ukraine, wobei man den Hungertod der dortigen Bevölkerung billigend in Kauf genommen hat. Gleichzeitig wurden willkürlich Frauen als Zwangsarbeiterinnen nach Westen (ins „Altreich“) verschleppt, um dort fehlende Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie, Landwirtschaft oder auch bei der Reichsbahn zu ersetzen. Die Zeitzeugenberichte über die menschenverachtenden Bedingungen des tagelangen Transports in Güterzügen sowie die Schikanen unter unvorstellbaren Arbeitsbedingungen sind erschütternd.  

Der Begleitband zeichnet sich insgesamt durch gewissenhafte redaktionelle Arbeit sowie ein gelungenes Layout bei gleichzeitiger großer Lesefreundlichkeit aus: Zitate finden sich in Extrakästen; die Anmerkungen am Ende des jeweiligen Beitrags. Die Abbildungen sind gut reproduziert und mit Bedacht ausgewählt worden. Inhaltlich gibt dieser Band einen umfassenden Einblick in den „Mikrokosmos Eisenbahn“, der kulturell in der Region tief verwurzelt ist. Ein sehr empfehlenswertes Buch – besonders für alle kulturhistorisch interessierten Leser!