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Aktuelle Rezensionen


Patricia Gloria Strauß

Kultur ohne Grenzen. Entstehung und Entwicklung von Barrierefreiheit am Beispiel des Münchner Kulturzentrums Gasteig

Marburg 2016, Tectum, 235 Seiten mit 6 Abbildungen, 2 Tabellen
Rezensiert von Elsbeth Bösl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.06.2018

Ausgangspunkt dieser ethnologischen Dissertation ist die Beobachtung der Autorin, dass die Umsetzung von Barrierefreiheit insbesondere seit ihrer gesetzlichen Verankerung im Nachgang auf die UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 in der Praxis deutlich hinter ihrem Anspruch und den politischen Bekundungen zurückbleibt. Vieles hat sich im Denken geändert – Barrierefreiheit wird beispielsweise heute weniger als moralische Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber Schwächeren verstanden, sondern vielmehr als Erfüllen der Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe von KlientInnen und KundInnen. Dennoch konstatiert Patricia Gloria Strauß merkliche Wissenslücken insbesondere bei politischen Akteuren, was Behinderung und Barrierefreiheit angeht. Dies betrifft unter anderem die Komplexität und Fluidität beider Begriffe, die eine endgültige Erledigung des Themas Barrierefreiheit, wie sie das „Sonderinvestitionsprogramm Bayern barrierefrei 2023“ suggerierte, unmöglich macht. Solche Wissenslücken deutet die Autorin wiederum als Zeichen für mangelnde Inklusion: Menschen mit Behinderungen finden noch nicht genügend Teilhabemöglichkeiten, um ihre Sicht und ihre Erfahrungen hör- und sichtbar zu machen und wirksam am Gestaltungsprozess mitzuwirken. Wissenslücken bei denen, die glauben, nicht betroffen zu sein, sind, so die These, ein Zeichen für Exklusion.

Das Forschungsprogramm der Verfasserin umfasst deshalb die ethnografische Untersuchung und kulturwissenschaftliche Einordnung jener Prozesse und Mechanismen, die die Entwicklung des Barriereabbaus an einer ausgewählten Kulturinstitution charakterisieren. Strauß geht es um Kausalbeziehungen. Barrierefreiheit untersucht sie als Thema, als Arbeitsfeld für Beschäftigte, ExpertInnen und Interessengruppen, als Umsetzung und konkrete Situation. Sie fragt nach den Akteurskonstellationen und der Wahrnehmung von Barrierefreiheit durch verschiedene Akteursgruppen.

Strauß‘ Beispiel ist das 1985 eröffnete Münchner Kulturzentrum Gasteig München GmbH, das seit einigen Jahren explizit an der Verbesserung seiner barrierefreien Angebote arbeitet. Mit ihrer Dissertation will die Autorin, die selbst am Gasteig beschäftigt ist, diesen Prozess reflektierend begleiten, darüber hinaus aber einen Beitrag zu den interdisziplinären Disability Studies leisten. Sie möchte dieses Feld für die Volkskunde erkunden, die in den Disability Studies bisher, wie Strauß richtig konstatiert, kaum eine Rolle spielt.

Wichtig ist es ihr, ihre eigene Subjektivität und Standortgebundenheit als Forscherin zu reflektieren. So legt sie bereits eingangs offen, dass sie sowohl in der untersuchten Einrichtung tätig als auch Mitglied des Münchner Behindertenbeirats ist (43-45), und diskutiert die methodischen Vor- und Nachteile dieser Feldzugehörigkeit.

Noch kann die Autorin nicht auf eine volkskundliche Theoriedebatte zurückgreifen. Sie muss deshalb entsprechende Angebote anderer Fächer, insbesondere der Soziologie, heranziehen. Den Disability Studies widmet sie sich infolgedessen in ihrem Einführungskapitel, in dem sie besonders ausführlich das noch junge kulturwissenschaftliche Modell von Behinderung darstellt: Darin geht es um die Kategorisierungsprozesse, in denen Behinderung hergestellt wird, um Wissensordnungen und Diskurse. Behinderung und Nicht-Behinderung werden als kontingente Kategorien aufgefasst, die in einem ständigen Wechselspiel zueinander stehen. In ihrem Plädoyer für eine Stärkung der volkskundlichen Komponente in den Disability Studies argumentiert Strauß, warum deren Zweig der Medizinkulturforschung aus ihrer Sicht zu kurz greift: Dieser nähere sich Behinderung weiterhin im Kontext von Krankheit und Normabweichung. Dieser Zugang eignet sich aus ihrer Sicht nicht, um Barrierefreiheit zu untersuchen, die Strauß gerade nicht im Kontext von Krankheit, Gesundheit und Medizin erforschen will.

Bereits in der Einleitung sowie nochmals zu Beginn des Empirieteils diskutiert die Autorin einleuchtend die Chancen und Grenzen der teilnehmenden Beobachtung, der von ihr geführten leitfadengestützten Interviews mit MitarbeiterInnen, die an der Entwicklung und Sicherung von Barrierefreiheit in der Gasteig München GmbH beteiligt waren, sowie mit Menschen mit Behinderungen, und der Artefaktanalyse auf der Basis von vier Gruppenbegehungen. Sie verweist auch auf das Quellenpotential von Beschwerdedokumenten.

Das folgende Kapitel „‚Kultur für Alle‘ – Behinderung, Barrieren und Barrierefreiheit in Kulturinstitutionen“, das überwiegend auf schriftlichen Quellen basiert und mit einigen Zitaten aus leitfadengestützten Interviews der Autorin angereichert wurde, befasst sich mit einer bunten Mischung an Begriffen und Situationen. Ob die Autorin dabei methodisch strikt im Sinne der Diskurstheorie vorgegangen ist, wie sie sich das einleitend vornimmt, bleibt dahingestellt. Sie präsentiert eher kursorisch historische und juristische Begriffe von Behinderung, geht auf sozioökonomische Lebensbedingungen und sozialstaatliche Zugänge zu Behinderung ein, um die Rahmenbedingungen zu charakterisieren, mit denen Menschen mit Behinderungen leben. Sie befasst sich dann alternierend mit politischen Konzepten und Maßnahmen, mit sozialwissenschaftlichen Begriffen (Inklusion, Exklusion) und Umsetzungen und Praxen von Barrierefreiheit in konkreten Fällen. Abschließend stellt sie vergleichend die jeweiligen webbasierten Informationsangebote großer Kultureinrichtungen weltweit vor, die vor einem Besuch zur Orientierung über den Stand der Barrierefreiheit herangezogen werden können, denn, wie die Autorin ganz zutreffend konstatiert, der individuelle Informations- und Planungsbedarf von Menschen mit bestimmten Bedürfnissen oder Anforderungen an Barrierefreiheit ist erhöht: Aktivitäten müssen sehr sorgfältig geplant werden, spontane Besuche in bisher unbekannten Einrichtungen sind riskant. Das Kapitel liefert wichtige Informationen, ist wegen der Fülle seiner Themen und Dimensionen (Konzepte, Analysebegriffe, Praxen, konkrete Maßnahmen und Instrumente etc.) aber nicht leicht zu lesen und bleibt oft kursorisch.

Den Großteil ihrer Empirie präsentiert die Autorin im Kapitel „‚Gasteig – Kultur für München‘ – und alle Münchner?“ Nach einigen methodischen Vorbemerkungen, die auch in der Einleitung untergebracht hätten werden können, stellt sie die Geschichte der Kulturinstitution und des Unternehmens Gasteig vor. Dann folgt – was den Lesefluss unterbricht – ein Abschnitt über eine ältere Theorie des Soziologen Günther Cloerkes, die versucht, die kognitiven, sozialen und emotionalen Ursachen hinter bestimmten typischen Denk- und Verhaltensweisen zu bestimmen, mit denen nicht-behinderte Menschen auf Menschen mit Behinderungen reagieren. Dies soll dazu dienen, die Interviewäußerungen der Gasteig-MitarbeiterInnen besser zu verorten. Zunächst stellt die Autorin jedoch vor, wie der Gasteig über barrierefreie Angebote informiert, welche Stellen geschaffen wurden, um Barrierefreiheit zu verwirklichen oder sicherzustellen, und welche Maßnahmen das Unternehmen für die Zukunft plant. Damit will sie die offizielle Position des Unternehmens zur Barrierefreiheit darstellen. Ein im Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführter Unterabschnitt „Hinter den Kulissen“ soll dies mit der inoffiziellen Haltung der MitarbeiterInnen – der Geschäftsführerin, des Sicherheitsreferenten, der Beschwerdemanagerin, MitarbeiterInnen des Gebäude- und Veranstaltungsmanagements - kontrastieren. Im abschließenden Teil des Kapitels dokumentiert die Autorin die Ortsbegehungen, die sie mit Menschen mit Behinderungen durchgeführt hat. Sie verwebt diese Befunde aber stets unmittelbar mit ihrer Interpretation. Da diese nicht ohne anspruchsvolle differenzierungs- und diskurstheoretische Argumentationen auskommt, stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, in der Arbeit insgesamt stärker, d. h. kapitelweise, zwischen der Dokumentation der empirischen Befunde und der Interpretation und theoretischen Einordnung zu trennen.

Im Fazit fasst die Autorin die gewonnenen Ergebnisse zusammen, betont nochmals die Situativität und Relativität von Barrieren und mithin von Barrierefreiheit. Sie verweist auch darauf, dass der Nachteilsausgleich für die eine Gruppe neue Nachteile für andere Gruppen hervorbringen kann, Inklusionspostulat und Exklusionseffekte in der Praxis demnach eng verwoben sind.

Wenngleich Strauß‘ Studie keinen primär interventionistischen Anspruch hat, deutet die Autorin abschließend an, worin ihr Nutzen für die Stakeholder liegen könnte: Am konkreten Beispiel des Gasteigs entdeckte und aufgezeigte Dynamiken und Probleme können, fundiert mit dem theoretischen Gerüst der Disability Studies, Beiträge zu jenem Orientierungswissen liefern, das in Planungs- und Entscheidungsprozessen oft fehlt. Mit ihrer Studie möchte die Autorin demnach Lücken füllen und sensibilisieren – insbesondere dafür, dass bei Diskussionen über und Umsetzungsversuchen von Barrierefreiheit in Kultureinrichtungen bisher oft ein zu enger Behinderungsbegriff angesetzt wurde, was zu einer verkürzten Wahrnehmung der Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen führte.

Nützlich für die Praxis ist die Studie aufgrund ihrer empirischen Befunde in der Tat, denn es gibt noch nicht viele wissenschaftliche Untersuchungen über den Umgang mit und die Effekte von barreriefreiem Planen und Bauen in Kultureinrichtungen. Zwar existiert inzwischen eine Anzahl von Praxishandbüchern, Katalogen und Regelwerken, doch ist das Wissen über die Wahrnehmung von und die intendierten und unintendierten Folgen von solchen barrierefreien Lösungen noch sehr begrenzt. Die Studie von Patricia Gloria Strauß erweitert hier nicht nur den empirischen Kenntnisstand, sondern bietet zugleich auch die nötige theoretische Reflexion an. Inwieweit es gelingen wird, die Perspektive der Disability Studies in der Volkskunde zu stärken, wie die Autorin sich das ebenfalls zum Ziel gesetzt hat, bleibt allerdings abzuwarten.

Die Untersuchung entspricht in Scope und Reichweite den Erwartungen an eine solide wissenschaftliche Qualifikationsarbeit. Wie in vielen Dissertationen üblich, betreibt die Autorin ein umfangreiches Belegwesen und sichert Aussagen nach allen Richtungen ab. Das geht mitunter zulasten des Leseflusses, gehört aber gewissermaßen zum Genre. Insgesamt ist die Untersuchung aber knapp gehalten, methodisch nachvollziehbar und sprachlich-stilistisch durchaus zugänglich.