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Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Hg.)

Matthias tanzt. Salzburger Tresterer on Stage. Kunst und Wissenschaft im Dialog. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde in Zusammenarbeit mit dem Salzburger Landesinstitut für Volkskunde und dem Verein zur Förderung des Salzburger Landesinstituts für Volkskunde vom 18. November 2016 bis 19. Februar 2017

(Kataloge des Österreichischen Museums für Volkskunde 103/Salzburger Beiträge zur Volkskunde 24), Wien/Salzburg 2017, Österreichisches Museum für Volkskunde/Salzburger Landesinstitut für Volkskunde, 176 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zumTeil farbig
Rezensiert von Heidi Christ
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 18.06.2018

Im Dezember 1939 holten Herbert Lager und Ilka Peter den angeblich letzten Tresterertänzer Matthias Eder nach Wien ins Phonogrammarchiv. Fünf Tonaufnahmen und drei Filme des brauchgebundenen Männertanzes entstanden, letztere in einem sterilen Raum vor hellem Vorhang. „Matthias Eder vulgo Höller Hias, 64 Jahre, Kleinbauer, Holzknecht, Melker, aus Uttendorf im Oberpinzgau, Salzburg“ (46), der kein eigenes Kostüm mehr besaß, trug zu den Filmaufnahmen ein Kostüm des Uttendorfer Bauernsohns Georg Schieder, welcher zwar zwei Trestererkostüme besaß, aber selbst nicht tanzen konnte.

75 Jahre später, im Dezember 2014, wurde im Salzburger Künstlerhaus/Kunstverein Salzburg erstmals die Installation „Matthias“ des aus Golling bei Salzburg stammenden Künstlers Thomas Hörl gezeigt. Hörl, der in einer künstlerischen Bearbeitung des historischen Films in ein Hanswurst-Kostüm geschlüpft ist und sich in den Film hineinkopiert hat, tritt dabei mit Matthias Eder in einen tänzerischen, ästhetischen wie „autoerotischen“ Dialog (vgl. 18, 31). Diese Installation wurde zu einem mehrjährigen Projekt und gipfelte unter dem Titel „Matthias tanzt. Salzburger Tresterer on Stage“ vorläufig in einer Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde in Zusammenarbeit mit dem Salzburger Landesinstitut für Volkskunde (SLIVK) und dem Verein zur Förderung des Salzburger Landesinstituts für Volkskunde vom 18. November 2016 bis 19. Februar 2017.

Das dazu erschienene Begleitbuch versammelt neben einer Beschreibung aller Exponate (85-128) Beiträge von Ulrike Kammerhofer-Aggermann und Kathrin Pallestrang zur Geschichte des Faches Volkskunde/Ethnologie und zu aktuellen Forschungsergebnissen rund um den Tresterertanz sowie zur Konzeption und Architektur der Ausstellung von Lisi Breuss und Vitus Weh. Viele Abbildungen von Exponaten und Ausstellungsansichten belegen das Motto vom Dialog zwischen Kunst (Installationen, Collagen und Objekte von Thomas Hörl) und Wissenschaft (Vitrinen und Tableaus mit wissenschaftlichen Dokumenten). Thomas Hörl, um dessen Installation „Matthias“ das Ganze kreist, ergänzt die Publikation durch ein Kalendarium zur Präsentation seines Projektes, „das an jedem Präsentationsort neue Erweiterungen und auch neue Zusammenarbeiten erhielt“ (41), sowie eine „Werkliste der Ausstellung im Volkskundemuseum Wien“ (42-44). Abgerundet wird die Veröffentlichung durch kurze Angaben zu den Autorinnen und Autoren (133-135), die auch die beiden Tonkünstler Markus Hausleitner alias das_em und Karin Fisslthaler alias Cherry Sunkist einschließen. Obgleich als Vorzugsausgabe mit Vinylsingle gekennzeichnet, war der Tonträger im Rezensionsexemplar nicht enthalten, sodass im Folgenden lediglich das Printmedium besprochen werden kann.

Schon im Vorwort (17-19) weist Ulrike Kammerhofer-Aggermann darauf hin, dass der Brauch des Tresterns keine lineare Geschichte in sich trage, sondern mit seinen Wandlungen und Brüchen die Geschichte des Faches Volkskunde und die mit der Zeit wechselnden Ansprüche an eine Brauchhandlung widerspiegle.

Kathrin Pallestrang, die im Rahmen der Ausstellung an der Auswahl der Abbildungen und der Gestaltung der Texte beteiligt war (vgl. 84), umreißt in einem kurzen Beitrag (21 f.) holzschnittartig Brauch, Quellenlage und Rezeptionsgeschichte bis hin zu Hörls Installation, seinen Collagen und Objekten. Wer sich mit den volkskundlichen Aspekten nur flüchtig beschäftigen, seine Aufmerksamkeit möglicherweise hauptsächlich der Kunst Hörls widmen will, erhält an dieser Stelle alle relevanten Informationen zur wissenschaftlichen Dimension der Ausstellung, wird sensibilisiert für die Fragilität der Theoreme und Narrative („Von NS-Volkskundlern erfundene Ursprungstheorien bestimmen noch heute das Selbstbild der Tresterergruppen und dienen der Verklärung und Überhöhung in einem Bedeutungszusammenhang, in dem der bloße Spaß an der Freud‘ oder nachvollziehbare Motivationen wie Identitätsstiftung oder Schaffung von Alleinstellungsmerkmalen zu anderen touristisch relevanten Gebieten nicht akzeptiert werden“, 21). Der Betrachter wird aufgefordert, selbst Teil des Ganzen zu werden (Hörl offeriert seine Arbeit „mit der Aufforderung zum Mittun“, 22).

Mittels der Ausstellungsarchitektur soll der Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft, der in der Verbindung zwischen Kunstobjekten und wissenschaftlichen Dokumenten die Basis für die Ausstellung bildet, direkt in der Schau weitergeführt werden. Lisi Breuss schildert, wie in Anlehnung an den Aufführungsort „Bühne“ die Besucherinnen und Besucher auf unterschiedlichen Bühnenebenen und -konstruktionen erfahren, wo und wie sich die Inhalte der Schau begegnen, wie Geschichte und Gegenwart miteinander verbunden sind: „Historische Objekte werden mit künstlerischen Interventionen unterbrochen, ergänzt oder widerlegt.“ (26) Die im Zentrum stehende Kunstinstallation „Matthias“ wird auf einer Bühne präsentiert, welche gestaltet ist „wie ein Catwalk, ein gangartiges Roundabout, auf dem Ausstellungsbesucher und Ausstellungsbesucherinnen auftreten können: Musik zweier DJ Bearbeitungen alter Tonaufzeichnungen unterstützen das Publikum bei den Darstellungen.“ (23)

Insgesamt bespielt die Schau vier Räume. „Durch die verschiedenen Stationen wird die ‚Matthias‘-Ausstellung zu einem Parcours, der sowohl Ähnlichkeiten mit dem Ziehen einer Tresterergruppe von Haus zu Haus hat, als auch die wissenschaftliche und künstlerische Spurensuche als einen Gang durch viele Orte spürbar macht.“ (34) Vitus Weh erläutert den künstlerischen Aspekt der Ausstellung (29-34). Mit ihr werde eine lange Reihe von Kunstproduktionen fortgesetzt, in der sich Künstler von ethnografischen und volkskundlichen Sammlungen inspirieren ließen. Mit seinem Konzept habe Hörl „diese Strategie gleichsam in eine Kapriole überführt: Er hat lokale Brauchforschung betrieben, sie mit persönlichem Reenactment erfüllt und zugleich in die popkulturelle Gegenwart katapultiert.“ (29) Seinen Zugang zum Thema über eine Videodokumentation zu Winterbräuchen mit einem kleinen Ausschnitt aus dem historischen Film und seine Intention, den Charakter der alten Aufnahme in die Club-Kultur zu bringen, erklärt der Künstler selbst in einem Video (https://vimeo.com/114962751 [28.2.2018]), das zur Ausstellung „Matthias“ im Salzburger Kunstverein (13.12.2014 bis 1.2.2015) entstanden ist.

Für den tänzerischen Dialog mit dem Tresterer Matthias Eder hat Hörl das Kostüm des Hanswurst gewählt, einer Figur, die zur Gruppe der Perchten gehört und für die Tresterer den Tanzplatz mit einer Wurst „ausschlägt“. Das bunte Rautenmuster des Kostümstoffes begleitet die Ausstellungsmöblierung bis in den Raum mit den historischen Originalkostümen, sogar bis in die Vitrinen hinein. Diese Originalkostüme „zählen heute zu den Highlights des [Österreichischen] Museums [für Volkskunde] und sind wichtige Quellen für die Erforschung des Tresterns in seiner historischen Dimension“, urteilt Kathrin Pallestrang (72). Sie stellt den Orientalisten Wilhelm Hein (1861-1901), seine Sammeltätigkeit und insbesondere den Erwerb zweier Trestererkostüme aus Krimml 1894 vor, erläutert den Umgang mit diesen und weiteren Kostümen im Verlauf der Präsentationsgeschichte im Österreichischen Museum für Volkskunde und beschreibt die einzelnen Bekleidungsstücke (63-73). „Die Gründung und die weitere Entwicklung des Vereins [für österreichische Volkskunde] und seines Museums hängen eng mit der Aufsammlung der Trestererkostüme zusammen und beides wiederum mit der Forscherpersönlichkeit Wilhelm Heins“ (63), so Pallestrang. Beauftragt durch Franz Heger, den Leiter der anthropologisch-ethnografischen Abteilung des Naturhistorischen Museums, habe Hein 1894 den exotisch erscheinenden Masken und ihrer Verwendung in Salzburg und Tirol nachgespürt. Wohl im Zeitgeist der frühen Volkskunde mit ihren Ideen von der „Stufenleiter der Kultur“ (64) nahm Hein jedoch „nicht von vorneherein eine lange Kontinuität der Masken und Volksschauspiele an, auf die er während seiner Forschungsreise traf, und er setzte auch nicht alle Phänomene gleich. Er setzte auf eine Quellenforschung und zog keine voreiligen Schlüsse. Außerdem legte er seine Gewährspersonen offen [...] und subjektivierte und personalisierte damit ‚das Volk‘, das bei anderen Forschern häufig als Kollektiv auftrat.“ (65) Während die Quellenlage bezüglich der durch Hein erworbenen Kostüme sehr gut sei, fehlten deutliche Angaben für das dritte Gewand. Die Präsentation der Trestererkostüme im Maskensaal des Museums bis ins Jahr 2012 werfe ebenso Fragen auf wie der Verbleib einzelner Kostümbestandteile im Vergleich zum Inventarbuch. Abgerundet wird Pallestrangs Beitrag durch genaue Beschreibungen der ausgestellten Kleidungsstücke inklusive textilspezifischer Erläuterungen.

„Herkunft und Entwicklung des Tresterer-Brauches in Salzburg“ erläutert Ulrike Kammerhofer-Aggermann (77-132). Sie beleuchtet zunächst die gegenwärtige Praxis, wonach der Tresterertanz sowohl als Bestandteil eines lokalen Faschingslaufs ausgeübt wird als auch als unterhaltendes Bühnenspektakel außerhalb des eigentlichen Brauchzusammenhangs und allgemein als Identifikator für die Region und als Alleinstellungsmerkmal betrachtet wird. Sie erläutert, dass die Trennung von Tanz und Brauchzusammenhang zum Zeitpunkt der Dokumentation durch das Wiener Phonogrammarchiv 1939 längst erfolgt war. Die durch die NS-Forscher geschehene Aufladung eines „Mythos“ mit nationalem Pathos sei nun aber durch die – offenbar kontrovers diskutierte (vgl. 80) – künstlerische Auseinandersetzung Hörls gebrochen worden. Kammerhofer-Aggermann erklärt, wie der Tresterertanz, so wie viele andere ländliche Bräuche, im 19. Jahrhundert vom städtischen Bildungsbürgertum als Projektion der Sehnsucht nach ursprünglichen, heilen, schönen Idealen diente, wie die Ethnografie und die junge Volkskunde ihn wahrnahmen und ausdeuteten, wie er um 1900 wieder aufs Land zurückkehrte und nun in Vereinen wiederauflebte. Sie zeigt die bis heute in den Einzelheiten letztendlich ungeklärten Verbindungen zu den Tanzschritten und Maskenbräuchen auf beiden Seiten der Alpen auf und fasst zusammen: „Mit den Wiederaufnahmen wurde von Ausführenden und Wissenschaftlern behauptet, dass der Tresterertanz ‚uralt‘ und ein kultisches Ritual sei, ein Fruchtbarkeitstanz, ein Aufwecken der Vegetation [...]. Damit begann der Kampf um die Deutungshoheit und die Anwendungsbereiche. Eine wissenschaftliche Spurensuche dagegen stößt über schriftliche Dokumente, Grafiken und Fotografien auf verschiedene Einflussbereiche, auf viele Brüche und Bedeutungsverschiebungen sowie den aktiven Gestaltungswillen einzelner Menschen und Epochen. Stets bedeutete die Aneignung von ‚Tradition‘ und Geschichte eine Angleichung an die Sichtweisen der jeweiligen Gegenwart.“ (84)

In der Ausstellung ist die Geschichte der Tresterer mit ihren Bedeutungsänderungen und „blinden Flecken“ auf acht Tableaus inszeniert, deren Inhalte zu einem Textkompendium verändert in der Publikation wiedergegeben werden (vgl. 84 f.). Die acht Tableaus sind auf den Seiten 150-176 abgebildet, und zwar so, dass die auf den Seiten 85-128 abgedruckten Texte deutlich zu lesen und die größer abgedruckten, über die gesamte Publikation verteilten Fotos, Illustrationen und Dokumente an den ihnen zugedachten Plätzen zu sehen sind. Ein weiterer Kunstkniff ist darin zu beobachten, dass die Tableaus nicht mit dem Buchformat korrespondieren, sondern über je zwei Seiten hinweg präsentiert sind und somit noch einmal die Brüche und blinden Flecken verdeutlicht werden.

Die Dokumente aus den Archiven des Salzburger Landesinstituts für Volkskunde und des Volkskundemuseums in Wien werden in der Ausstellung ebenso wie die Kunstwerke Thomas Hörls dergestalt beleuchtet, dass schnell deutlich wird: Es handelt sich um ein mehrdimensionales Puzzle, bei dem, je nach Perspektive, nahezu jedes Teil an jeder Position eingepasst oder verworfen werden kann. Den Besucherinnen und Besuchern bleibt es an jeder Station überlassen, welche Perspektive sie einnehmen möchten, bis hin zur Frage, ob sie ihren bisherigen Standpunkt relativieren wollen (vgl. Exponat „Zeitungsausschnitt mit einer Karikatur und einer Kolumne, 2012“, 129). Gleiches gilt für Leserinnen und Leser der Begleitpublikation.

Es wäre einige Überlegungen wert, das historische Filmmaterial von 1939 und vielleicht sogar die Videoinstallation Thomas Hörls interessierten Personen – möglicherweise (frei zugänglich) auf einer Internetseite oder als (kommerzielle) DVD – zur Verfügung zu stellen. Interessant wäre auch gewesen, Informationen darüber zu erhalten, inwieweit das Ausstellungspublikum die interaktiven Angebote genutzt hat, oder ob man sich gegebenenfalls entschieden hat, gerade diesen Aspekt der Ausstellung nicht zum Gegenstand von Beobachtung und Rezeptionsstudien zu machen. Wer Lust auf über die Publikation hinaus führende Impressionen von der Schau hat, dem seien folgende Videos empfohlen: museumsfernsehen.de/singlesalon-matthias-tanzt-salzburger-tresterer-on-stage/ – Über die Ausstellung, die bis 16. Februar 2017 im Volkskundemuseum Wien zu sehen war; Upload 18. Juli 2017 [28.2.2018] und museumsfernsehen.de/brauchsalon-matthias-tanzt-salzburger-tresterer-on-stage/ – Vorführen des Tresterns, Buchpräsentation und Podiumsdiskussion, Upload 13. März 2017 [28.2.2018]. Die Ausstellung selbst wird, ergänzt um Trestererkostüme aus dem Salzburg Museum, vom 24. März 2018 bis 4. November 2018 im Volkskunde Museum Monatsschlössl Hellbrunn in Salzburg zu sehen sein (http://www.salzburgmuseum.at/index.php?id=2261 [28.2.2018]). Man darf gespannt sein, welche neuen Erweiterungen und Zusammenarbeiten das Projekt an diesem Standort erhält.