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Sarah Willner

Geschichte en passant. Archäologisches Wandern in den Alpen als wissenskulturelle Praxis

(Edition Historische Kulturwissenschaften 2), Münster/New York 2017, Waxmann, 328 Seiten mit 38 Abbildungen
Rezensiert von Barbara Sieferle
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 18.06.2018

In ihrer Ethnographie über das archäologische Themenwandern in den Alpen, welche die veröffentlichte Version ihrer Dissertation darstellt, gelingt es der Autorin Sarah Willner, einen lebensnahen Einblick in die Praktiken und Erfahrungen des Wanderns zu geben, durch welche Wissen über historische Lebenswelten produziert wird. Die performativen Geschichtskonstruktionen, welche Willners Erkenntnisinteresse anleiten, beziehen sich auf das neolithische Zeitalter. Ötzi gilt sowohl als zeitlicher als auch geografischer Referenzpunkt – Willner fokussiert sich vor allem auf die alpinen Wanderwege rund um die Ötzi-Fundstelle an der Grenze von Südtirol/Italien zu Tirol/Österreich.

Die Autorin nimmt die Leser und Leserinnen im Aufbau ihres Buches mit auf eine archäologische Themenwanderung durch die Alpen. Beginnend mit den Kapiteln „Gepäck“ (Forschungsstand) und „Vor-Gehen“ (Methodik), führt sie im Hauptkapitel „Themenwandern“ durch die verschiedenen Phasen und Stationen einer Bergwanderung. Die Arbeit endet mit einem Kapitel über die Zeit nach der Wanderung („Wieder zu Hause“) und finalen Schlussbetrachtungen („Interpretamente“).

Willner fragt nach den „Modi der Wissensaneignung auf archäologischen Themenwegen und Prozesse[n] der Wissenszirkulation“ (45) und interessiert sich vor allem für deren performative Dimensionen. Um diese kulturwissenschaftlich zu verstehen, verbindet sie Ansätze der Living History Forschung mit analytischen Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Emotions- und Raumforschung, welche sie im ersten Kapitel „Gepäck (Forschungsstand)“ (15-44) darstellt. Während sich die Living History Forschung vorwiegend mit den intentionalen Praktiken der Wissensaneignung beschäftigt, legt Willner ihren Fokus auf ein vernachlässigtes Feld dieses Forschungszweiges: auf die erfahrungsbasierte und vielfach implizit ablaufende Konstruktion des Wissens über historische Lebenswelten (22). Sie stellt damit eine praxisorientierte Geschichtskonstruktion und ‑vermittlung in ihr Erkenntnisinteresse und argumentiert für die Berücksichtigung der „leiblichen Beteiligung“ (18) von Akteuren und Akteurinnen in der Erfahrung historischer Lebenswelten während des Wanderns. Aus der Emotionsforschung übernimmt Willner das Konzept der „emotionalen Stile“ (27), um auf die Heterogenität und Subjektivität von Wanderpraktiken und hieran anschließend auf die pluralen „Umgangsweisen der Wanderer mit geschichtsträchtigen Orten“ (27) zu verweisen. Aus der Raumforschung greift Willner den aktuellen Diskurs um die Erfahrungsqualität und performative Konstruktion von Räumen auf und verbindet dies mit einer Diskussion und Kritik des Konzeptes der Atmosphäre. Willner arbeitet im Verlauf ihrer Studie heraus, dass der analytische Fokus durch die Verwendung des Konzeptes der Atmosphäre lediglich auf die Raumwahrnehmung gelenkt und die performative Dimension von Räumen vernachlässigt wird (225). Auch hier rekurriert sie auf das Konzept der emotionalen Stile, um die raumbezogenen Praktiken und Erfahrungen des historischen Themenwanderns kulturwissenschaftlich zu verstehen.

Bereits in diesem ersten Kapitel zum Forschungsstand beschäftigt sich Willner mit methodologischen Fragen des Zugangs zu Geschichtspraktiken und ‑erfahrungen. Sie bleibt hier jedoch auf einer abstrakten Ebene und wendet sich erst im folgenden zweiten Kapitel „Vor-Gehen: Kulturelle Praktiken der Ethnografie“ (45-79) ihrer konkreten methodischen Vorgehensweise zu. Diese zeichnet sich durch eine hohe Methodenpluralität aus: Willner verbindet Medien- und Fotoanalysen, Interview- und Gesprächsführung mit teilnehmender und autoethnografischer Beobachtung (46-50), um sich dem performativ erzeugten Wissen und den Erfahrungen der Wanderer und Wanderinnen auf historischen Themenwegen zu nähern.

Im Hauptkapitel „Themenwandern: Emotionale Stile und Praktiken der Wissenszirkulation“ (80-149) setzt sich die Autorin mit den Praktiken des Themenwanderns und den Erfahrungen, welche die Wanderer und Wanderinnen dabei machen, auseinander. Das Kapitel beginnt mit der Darstellung der Entstehung und Konzeption der archäologischen Themenwege rund um die Ötzi-Fundstelle, mit der Beschreibung der musealen Darstellung des neolithischen Zeitalters, mit dem Packen des Rucksacks, der Routenplanung sowie dem Aufbruch zur Wanderung (81-107). Diese stellt die Autorin als Praktiken heraus, durch welche das „neolithische Theming der Wege“ (105) vorbereitet wird. In den hieran anschließenden Unterkapiteln nimmt Willner anhand des Berganstiegs (108-125, 140-171), anhand von Pausen (125-140) an „geschichtsträchtig ausgewiesenen Destinationen“ (125), dem Aufenthalt am Wanderziel (175-199), der Einkehr und Übernachtung in Wanderhütten (200-212) sowie des Bergabstiegs (212-217) performative Praktiken der Geschichtskonstruktion in den analytischen Fokus. Durch detaillierte ethnografische Beschreibungen zeigt sie, dass das Wissen über das neolithische Zeitalter und das Alltagsleben dieser historischen Zeit auf körperlich-sinnlichen Erfahrungen und den emotionalen Wanderstilen (von der Urlaubs- bis hin zur Forschungsreise) der Forschungsakteure und -akteurinnen aufbaut. Geschichtserzählungen und Interpretamente über das Wandern in den Alpen und die neolithische Lebenswelt, welche in Gesprächen unter Wanderern und Wanderinnen entlang des Weges, während Pausen und beim Zusammensein in Wanderhütten geführt und generiert werden, erlangen Evidenz durch die während des Wanderns gemachten körperlich-sinnlichen Erfahrungen (125). Diese bilden die Grundlage der Produktion des Wissens über neolithische Lebenswelten (168). Im folgenden Kapitel „Wieder zu Hause“ (218-249) geht Willner auf die „Performanzen des Erinnerns“ (244) ein und stellt heraus, dass besonders einprägsame Geschichtserfahrungen, welche die Wanderer und Wanderinnen während ihres Aufenthaltes in den Alpen machten, als starke Sinneseindrücke kommuniziert werden (245). Sie hebt damit die Verwobenheit von Körperlichkeit/Sinnlichkeit, Erinnerung und Geschichtswissen hervor. In ihren Schlussbetrachtungen (250-264) greift Willner das Wissen, welches die Forschungsakteure und -akteurinnen vom neolithischen Zeitalter durch ihre Wander- und Raumperformanzen generiert haben, zusammenfassend auf. Für die Wanderer und Wanderinnen zeichnet sich das Alltagsleben im neolithischen Zeitalter durch Überlebenskampf und Konkurrenzdruck, durch ein im Vergleich zur Gegenwart überschaubareres und ökologischeres Leben sowie durch Komplexitätsreduktion und Ursprünglichkeit aus. Was genau sich für ein Wissen über das neolithische Zeitalter generiert und wie genau der durchwanderte Raum als historischer Raum erfahren wird, ist von den jeweils unterschiedlichen emotionalen Stilen der Wanderer und Wanderinnen abhängig. Das hierbei produzierte Geschichtswissen, so konstatiert Willner, ist zu begreifen als „Abfolge von Sozialisation, Artikulation, Kombination und Internalisierung, die implizite und explizite Ebenen“ (262) aufweist und „individuell wie kollektiv bedeutsam“ (262) ist. Die Autorin zeichnet hierdurch ein heterogenes Bild des performativ produzierten Wissens über das neolithische Zeitalter und der Koexistenz unterschiedlicher emotionaler Wanderstile (108).

Von Anfang an betont Willner die leibliche und sinnliche Fundiertheit von Geschichtskonstruktionen und Raumerfahrungen. Es überrascht daher, dass sich Willner nicht ausführlicher mit körper- und sinnestheoretischen Ansätzen der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften auseinandersetzt. Willners Interpretationen hätten hierdurch kulturanalytisch stärker fundiert werden können und ihre Argumentation hätte an Aussagekraft gewonnen, beispielsweise durch die Diskussion der Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge der von ihr verwendeten Konzepte Leib, Körper, Praxis und Erfahrung. Auf methodischer Ebene erkennt die Autorin zwar die Schwierigkeiten und Herausforderungen des Zugangs zu performativen, körperlich-sinnlichen und erfahrungsbasierten Geschichtskonstruktionen in ihrem Forschungsfeld. Und sie liefert mit der eigenen Teilnahme an Wanderungen und der Nutzung des „Forscherkörpers [...] als Erhebungsinstrument“ (68) gute Ausgangspunkte, um sich den performativen Geschichtskonstruktionen der Wanderer und Wanderinnen anzunähern und damit die Methodenreflexion über die Zugänge zu körperlich-sinnlichen Dimensionen spezifischer Lebenswelten weiterzuführen. Im Forschungsprozess konzentriert sie sich jedoch leider zu sehr auf die Erhebung verbal-sprachlicher Daten. So konstatiert sie zum Beispiel, dass „[d]ie Teilnehmer [...] immer wieder irritiert [waren], wenn sie nach ihren körperlichen Techniken gefragt wurden“, und es „[w]ährend des Gehens [...] daher kaum möglich [war], Interviews über das Gehen als Mobilitätspraktik zu führen“ (60). Trotz der offensichtlichen Irritiertheit der Forschungsakteure und -akteurinnen berücksichtigt sie nur unzureichend, dass kulturelle Bedeutungen nicht immer in Worte zu fassen sind, in den ausgeführten Praktiken selbst liegen und daher oftmals nicht über Sprache vermittelt werden können. Abgesehen von diesen kleineren theoretischen und methodischen Schwächen bereichert die Arbeit die Europäische Ethnologie um ein bislang weitestgehend unbehandeltes Themenfeld und die Living History Forschung um den Einbezug kulturanthropologischer Ansätze der Emotions- und Raumforschung. Die Stärken der Arbeit liegen ganz klar in der detaillierten Präsentation des empirischen Materials, durch welche bei den Lesern und Leserinnen ein eindrückliches Bild der Praktiken und Erfahrungen des archäologischen Themenwanderns aufkommt. In ethnografischem Detail vermittelt Willner einen lebensnahen Eindruck vom Wandern auf historischen Themenwegen in den Alpen. Sie zeigt damit, wie akteurszentrierte und mikroperspektivische Forschung einseitigen und vorschnellen Interpretationen entgegenwirkt und auf die Komplexität und Heterogenität soziokultureller Wirklichkeiten aufmerksam macht.