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Jürgen Schlumbohm

Verbotene Liebe, verborgene Kinder. Das Geheime Buch des Göttinger Geburtshospitals 1794-1857

(Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 296), Göttingen 2018, Wallstein, 192 Seiten mit 20 Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Waltraud Pulz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.06.2018

Seiner großartigen Monographie über das Göttinger Entbindungshospital [1], die aus langjährigen Forschungen zur Alltags-, Sozial- und Wissenschaftsgeschichte der Geburt und Geburtshilfe erwachsen ist, hat der international renommierte Historiker Jürgen Schlumbohm nun noch eine Analyse der in dieser universitären Institution praktizierten „heimlichen“ Geburten hinzugefügt. Hauptquelle ist ein erst kürzlich aus Privatbesitz aufgetauchtes „Geheimes Buch“, in das Friedrich Benjamin Osiander, Leiter des Göttinger Geburtshospitals, wie auch seine beiden Nachfolger 27 Fallberichte eintrugen. Die Aufzeichnungen stammen aus den Jahren zwischen 1794 und 1856/57. Zusammen mit einem zugehörigen Konvolut von Briefen und Belegen erhellen sie, vor welchem Hintergrund – neben der kostenlosen Versorgung unverheirateter und armer Gebärender zur Ausbildung von Medizinstudenten und Hebammen – auch Schwangere aufgenommen wurden, die für ihre Unterkunft (Einzelzimmer) und Betreuung erhebliche Gebühren zahlten und sich so das Privileg einer Entbindung unter Pseudonym erkauften. Verbunden mit dem Angebot der Geheimhaltung war nicht zuletzt die Freistellung von der Verpflichtung, als Übungsobjekt für die Studenten zu fungieren (Entbindung allein durch den Professor und die Hospitalhebamme), sowie die Möglichkeit, auch und insbesondere in der Personenstandsurkunde, dem Kirchenbuch, falsche Angaben zu machen und auf diese Weise die Abstammung des Kinds zu verschleiern.

Solche Diskretion stellt den Historiker, der nach den Motiven der geheim Gebärenden wie auch nach den Folgen einer heimlichen Geburt für Mütter, Väter und ihre verschwiegenen Kinder fragt, vor beträchtliche Herausforderungen, zumal Osiander bei seinen Einträgen die Personalien im Nachhinein durch Streichungen teilweise unleserlich gemacht hat. Jürgen Schlumbohm hat mit allen erdenklichen Techniken versucht, die – im offiziellen Dokument verschleierten, dem Hospitaldirektor jedoch häufig anvertrauten – persönlichen Daten zu entziffern: Als dies weder mit Quarzlampen noch mit Bildbearbeitung, Multispektralaufnahmen und den Tatortlampen der Kriminalpolizei gelang, blieb am Ende nur „das uralte Handwerkszeug des Historikers: Buchstabe für Buchstabe zu betrachten und zu vergleichen“ (13). Die Mühe hat sich, das sei hier vorweggenommen, unbedingt gelohnt: Das außergewöhnliche Quellenkorpus ermöglicht einen Einstieg in die Erforschung verborgener Lebenswelten, über welche die gewöhnlich verfügbaren Quellen keine Auskunft geben. Darüber hinaus ist der Einblick in einst bestehende, zunehmend eingeschränkte Freiräume für heimliche Geburten angesichts der heute stattfindenden Kontroversen um die „vertrauliche“ sowie die „anonyme“ Geburt auch von aktuellem Interesse.

 „Geduldige Analyse und mutiges Raten“ (24), ergänzt durch ebenso umfassende wie scharfsinnige (archivalische) Recherchen, bescherten in nicht wenigen Fällen (Be-)Funde, die beeindrucken – auch wenn, nein, gerade weil einige Geheimnisse gewahrt bleiben. Wie Perlen an einer Schnur reihen sich weit über die Informationen der Quellentexte hinaus rekonstruierte und in ihren jeweiligen Kontexten erläuterte Fallgeschichten aus ganz unterschiedlichen Milieus aneinander. Aufgrund des fest umrissenen Quellenkorpus war es möglich, bei der historischen Aufarbeitung des Einzelfalls in die Tiefe zu gehen und ihn dann aufgrund der ‚seriellen‘ Anordnung mit ähnlichen Fällen vergleichen zu können. Einfühlsam und mit Respekt vor vergangenen Lebensentwürfen werden sehr unterschiedliche Beziehungen der heimlich Gebärenden zu den Kindsvätern beleuchtet sowie die ausdifferenzierten, von der Handlungsmacht der historischen AkteurInnen zeugenden Geheimhaltungsstrategien. Sie reichen vom Aushandeln der diskreten Aufnahme ins Göttinger Hospital über zumeist männliche Mittler (Kindsvater, Verwandte, Ärzte) und dem Hinterlegen von Sicherheitsleistungen für den Fall eines Versterbens der Mutter bis zur Suche nach Pflegeeltern und der – ebenfalls über intermediäre Personen erfolgenden – Auszahlung des Pflegegelds. Lediglich hinsichtlich der gewöhnlich in Raten erfolgenden Bezahlung dieses Kostgelds insistierte man auf den richtigen Personalangaben einer Vertrauensperson. Das geschah freilich keineswegs im Sinne des gegenwärtig diskutierten Rechts des Kindes auf Informationen über seine Abstammung, sondern ausschließlich im Hinblick auf die Sicherung seines Unterhalts bis etwa zum 14. Lebensjahr.

Wie zu erwarten war, handelte es sich bei den heimlichen Entbindungen bis auf eine Ausnahme, bei der die voreheliche Zeugung verdunkelt werden musste, stets um außereheliche Geburten, die zur Rettung des eigenen Rufs und der Familienehre verborgen wurden. Die Schwangeren, keineswegs nur Opfer, sondern auch aktiv Handelnde, nutzten das Hospital für ihre Zwecke. Oft reisten sie von weit entfernten Orten an, nicht selten geraume Zeit vor dem Geburtstermin, um so die Schwangerschaft am eigenen Wohnort zu verheimlichen. Das Hospital hatte die Funktion, „Regelverstöße gewissermaßen einzuhegen. Die Norm war zwar durchbrochen, durch Verheimlichung aber zugleich bestätigt.“ (179) Vieles deutet darauf hin, dass die Väter zum Teil verheiratet waren und ihnen daher Geheimhaltung noch wichtiger war als den Müttern, denen die Trennung von ihrem Kind mitunter durchaus schwerfiel. Die in Pflege gegebenen Kinder – ihr Lebensweg konnte in einem Viertel der Fälle zumindest umrisshaft erhellt werden – wurden auch nicht immer komplett verleugnet, in Einzelfällen sogar zu einem späteren Zeitpunkt in eine inzwischen gegründete Familie aufgenommen.

Motive und Hoffnungen, deretwegen zahlungskräftige Männer und Frauen aus den mittleren Schichten der Gesellschaft das Angebot des Göttinger Hospitals annahmen, erweisen sich in Schlumbohms subtiler Analyse als durchaus vielfältig. Die mikrohistorische Perspektive gibt – Rekonstruktion ist immer auch Konstruktion – Mehrdeutigem Raum und verdeckt weder die Heterogenität der Fälle noch Leerstellen und offene Fragen. Sachlich und präzise wird abgewogen, inwieweit sich die auf der Mikroebene gewonnenen Erkenntnisse verallgemeinern lassen – das epistemische Potential von Fallstudien wird hier deutlich. Im Spannungsfeld zwischen Allgemeinem und Besonderem wie auch zwischen empirischem Bezug und – überaus gelungener – narrativer Darstellung zeichnet sich die Untersuchung von Jürgen Schlumbohm durch eine von außerordentlicher Transparenz und Selbstreflexion gekennzeichnete Forschungspraxis aus. Sie ist ein wissenschaftliches Vorbild.

 

[1] Jürgen Schlumbohm: Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830. Göttingen 2012.