Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Lucia Artner/Isabel Atzl/Anamaria Depner/André Heitmann-Möller/Carolin Kollewe (Hgg.), mit Fotografien von Thomas Bruns

Pflegedinge. Materialitäten in Pflege und Care

(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2017, transcript, 242 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Lydia-Maria Ouart
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.06.2018

Wer die Berufe und die soziale Praxis von Pflege/Care verstehen will, sollte sich mit den materialen Objekten in der Pflege beschäftigen. So lässt sich das Anliegen des hier vorgestellten Sammelbandes und des ihm zugrundeliegenden Forschungsprojektes kurzfassen. Ausgehend von der Feststellung, dass die Vielzahl von Dingen, die in Pflegesituationen zum Einsatz kommt, bislang weder theoretisch noch empirisch umfassend untersucht worden ist, wurden in dem Projekt unterschiedliche disziplinäre Perspektiven sowie historische und gegenwartsbezogene Analysen zusammengebracht. Entstanden sind dabei empirisch dichte Einzelstudien, die spannende Einblicke in den Alltag der professionellen Pflege geben und die in der Zusammenschau mehr als deutlich machen, wie fruchtbar die Beschäftigung mit der Materialität von Pflege sowohl für die Forschung als auch für die Pflegepraxis sein kann.

Der Sammelband gibt einen Überblick über die Arbeit des Forschungsprojektes „Die Pflege der Dinge – Die Bedeutung von Objekten in Geschichte und gegenwärtiger Praxis der Pflege“, das von 2014 bis 2017 an den Universitäten Heidelberg, Hildesheim und Osnabrück sowie am Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin durchgeführt wurde. Es brachte Forschende aus der Ethnologie und Kulturanthropologie sowie aus der Gerontologie, Geschichte, Pflegewissenschaft und Sozial- und Organisationspädagogik zusammen. Im Einleitungstext stellen die AutorInnen die Grundannahmen und den gemeinsam erarbeiteten theoretischen Rahmen des Projektes vor. Daraus leiten sie eine Definition von Pflegedingen ab, die bewusst vage gehalten ist, um als boundary object zwischen den verschiedenen Disziplinen und Zugängen vermitteln zu können: „Pflegedinge sind materiale Gegenstände, die sowohl historisch als auch gegenwärtig in sozialen Konstellationen und Konstruktionen von Pflege und Care vorkommen.“ (30) Unter dieser breiten Definition beschäftigten sich die Teilprojekte mit mehreren (durchlässigen) Kategorien von Pflegedingen: erstens Objekten, die speziell zur Nutzung in Pflege oder Care hergestellt wurden, zweitens Objekten, die der Selbstpflege dienen, bei deren Einsatz aber pflegende Personen unterstützend tätig werden, und drittens aus anderen Kontexten stammenden Objekten, die in Pflegesituationen integriert werden. Um den Austausch zwischen den disziplinär und theoretisch sehr unterschiedlich verankerten Teilprojekten zu erleichtern, wurden elf gemeinsame Analysefoci definiert, die zudem inhaltliche Querverbindungen sichtbar machten. Unter dem Stichwort „Nähe/Distanz“ wird beispielsweise gefragt, auf welche Weise die verschiedenen Dinge der Pflege die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen mitgestalten. Und mit dem Fokus „Standardisierung/Individualisierung“ analysieren die Forschenden, ob und wie Dinge dazu beitragen, dass Arbeitsprozesse in der Pflege bzw. Verhaltensweisen von Pflegenden und Gepflegten normiert oder an individuelle Alltage angepasst werden (32 f.). Zu den auf diese Weise zusammengebrachten theoretischen Ansätzen gehören Hans Peter Hahns Dingtheorie und die Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour, praxistheoretische Zugänge sowie Begriffe und Konzepte aus den Science and Technology Studies. Fotos und kurze Beschreibungen von zehn Objekten, die in den Teilprojekten untersucht wurden, bereichern die Darstellung, indem sie die Vielfalt von Dingen, die an Pflege beteiligt sind, sichtbar machen. Diese Objektfeatures stimmen auf die jeweils folgenden Aufsätze ein: Sie fordern die Lesenden auf, sich zuerst auf den visuellen Eindruck der Dinge einzulassen, deren Gestalt zu betrachten und sich über ihre Nutzung oder über Besonderheiten ihrer Materialität zu informieren, bevor sie von den AutorInnen in deren Analysen mitgenommen werden.

Isabel Atzl beginnt ihren Beitrag mit der Feststellung, dass Pflege in medizin-historischen Sammlungen und Museen kaum als eigenes Thema behandelt wurde. Sie führt dies zum einen darauf zurück, dass es auf Seiten der Museen bislang eine Priorisierung der ärztlichen Professionen über die pflegerischen gab. Zum anderen habe es auf Seiten sowohl der Pflegewissenschaft (und -geschichte) als auch der Geschichtswissenschaft erst spät eine Aufnahme des material turn gegeben, so dass historisch in der Pflege verwendete Dinge selten im Forschungsinteresse standen. Atzl definiert Pflegedinge in Sammlungen als „all jene Objekte [...], die Pflegende selbst in der Hand hatten und mit denen pflegerische Tätigkeiten vollzogen wurden“ (58). Durch die Forschung im Projekt hat Atzl Sammlungen und Bestände entdeckt, die hochwertig sind und erforscht werden sollten. An zwei Beispielen diskutiert sie, welches Potential eine historische Pflegeforschung hat, die Dinge in den Blick nimmt. Sowohl ein aufblasbarer Sitzring als auch das Fieberthermometer könnten Auskunft über die Entwicklung von Hierarchien zwischen den an Care beteiligten Disziplinen geben sowie Rückschlüsse auf die Interaktionen der beteiligten Personen und auf konkrete Nutzungspraktiken zulassen. Damit lässt sich, so Atzl, anhand von Dingen nicht nur der Wandel von Selbstverständnis und Außenwahrnehmung des Pflegeberufes rekonstruieren, sondern es lassen sich auch Einblicke in die Pflegepraxis zu je unterschiedlichen historischen Zeitpunkten gewinnen. Der Text ist ein starkes Plädoyer für die Beschäftigung mit der Geschichte und dem „materialen Erbe“ (79) der Pflege, die sowohl einer Reflexion der gegenwärtigen Situation der Pflege als auch der Korrektur von Klischees zur Vergangenheit von Pflege dienen kann.

Carolin Kollewes Studie basiert auf Feldforschungen bei zwei Anbietern von sensorbasierten Hausnotrufsystemen, von denen einer der Prävention und der andere der Erkennung von Notfällen dient. Kollewe arbeitet heraus, dass bei den betreuenden Pflegediensten die eingehenden Informationen Prozesse des sense making in Gang setzen: Die durch Sensortechnik generierten Informationen benötigen eine (Re-)Kontextualisierung, die PflegedienstmitarbeiterInnen vornehmen, indem sie zusätzliche technische Daten, Alltagswissen und spezifisches Wissen über die pflegebedürftigen Personen zusammenbringen. Kollewe zeigt, dass die von ihr untersuchten Technologien auf Kategorien basieren und solche auch hervorbringen. Diese Kategorien sind normativ und haben performative Effekte. Kollewe diskutiert dies am Beispiel der Kategorie „Aktivität/Inaktivität“, die ein wesentliches Strukturmerkmal der Sensortechnik ist. Die Kategorie vermittelt konkrete gesellschaftliche Werte, insbesondere in Bezug auf ein höheres Lebensalter, und wirkt in die Lebensgestaltung der NutzerInnen hinein. Beispielsweise kann eine Mittagsruhe von den Sensoren als „Inaktivität“ gedeutet werden und Kontrollanrufe durch die PflegedienstmitarbeiterInnen motivieren. Die empirischen Beobachtungen zeigen, dass die NutzerInnen Strategien entwickeln, um solche „Ruhestörungen“ durch die Technik zu verhindern. Laut Kollewe zeigt sich hier eine Disziplinierung durch Technik, die eine Reflexion über die in sie eingeschriebenen Normen veranlassen sollte.

André Heitmann-Möller und Hartmut Remmers legen in ihrem Aufsatz dar, auf welche Weise die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Bruno Latour pflegewissenschaftliche Arbeiten bereichern könnte. Im Fokus des Textes steht die Darstellung der Grundannahmen der Theorie, und Heitmann-Möller und Remmers erläutern mögliche empirische Anwendungen am Beispiel des Pflegebettes. Aus Sicht der Autoren kann ANT mindestens in zweierlei Hinsicht fruchtbar für die Pflegewissenschaft sein: Erstens könne sie den forschenden Blick öffnen, indem sie die Handlungsträgerschaft von Dingen in Pflegesituationen überhaupt erst sichtbar mache. Zweitens liefere ANT Argumente für eine Kritik am reduktionistischen Verständnis von Pflege als technisch-rationales Handeln.

Der Beitrag von Lucia Artner und Daniela Böhringer basiert auf der Grundannahme, dass soziale Ordnung kontinuierlich und situativ herstellt werden muss. Die Beteiligung von Dingen an diesem Prozess sei in der Forschung noch kaum diskutiert worden. Zur Etablierung von sozialer Ordnung gehört laut Artner und Böhringer ganz wesentlich der Umgang mit Schmutz. Pflegesituationen und die an ihnen beteiligten Dinge versprächen hierzu besonders interessante Einsichten, denn Pflege sei in vielerlei Hinsicht mit dem Entfernen von „Schmutz“ und der Herstellung von Sauberkeit beschäftigt und müsse sich im Extremfall den Ausscheidungen von pflegebedürftigen Menschen zuwenden. Hier im Beitrag fokussieren die Autorinnen auf den Toilettenstuhl, der über eine spezifische Form und Materialität verfüge, in der gesellschaftliche und berufsspezifische Vorstellungen etwa zu Hygiene verkörpert seien. Anhand von Beobachtungen diskutieren Artner und Böhringer, dass sich in situativen Interaktionen mit dem Toilettenstuhl eine Reihe von teils gegensätzlichen Normen widerspiegelt, beispielsweise von Privatheit, Selbstbestimmung, guter Pflege und Effizienz. Die Ausscheidung mithilfe eines Toilettenstuhls könne vor allem deshalb „veralltäglicht“ (192 ff.) werden, weil der Stuhl aufgrund seiner Materialität ein multifunktionales Objekt sei. Einleuchtend stellen die Autorinnen dar, dass durch ein geschicktes Arrangement von Dingen, Personen und Handlungen verschiedene Bedürfnisse gleichzeitig erfüllt werden können – etwa der Wunsch nach Distanz, der durch die Herstellung von Privatheit während der Nutzung des Toilettenstuhls erfüllt wird, und ein Sicherheitsbedürfnis der pflegebedürftigen Person, dem durch die ständige Erreichbarkeit der Pflegenden entsprochen wird.

Anamaria Depner beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit „diskreten Dingen“ der Pflege, also mit Dingen, die aus Alltagskontexten stammen und in der Pflege genutzt werden. Anhand von Beobachtungen in zwei verschiedenen Heimen zeigt Depner, dass gleichlautende Pflegeleitbilder sich auf unterschiedliche Objekte stützen und diese pflegetheoretisch begründen können. Die hier untersuchten Heime, die mit Menschen mit dementiellen Erkrankungen arbeiten, stützen sich beide auf das Konzept der Biografiearbeit. Dafür verwendet eine der Einrichtungen Dinge, die spezifisch für pflegebedürftige Menschen hergestellt wurden (etwa spezielles Geschirr aus Kunststoff), während die andere Einrichtung auf Dinge zurückgreift, die aus anderen Kontexten stammen (etwa gewöhnliche Handtücher, die als Kleidungsschutz umgenutzt werden). Depner argumentiert, dass biografische Dinge sich in kulturell-biografische Dinge und persönlich-biografische Dinge unterscheiden lassen. Welche von ihnen in der Arbeit mit Menschen mit Demenz zur Anwendung kommen, kann Konsequenzen für ihre Wirkung haben. Geschickt integrierte Dinge können professionelle Pflege erleichtern und stützen, aber diese Art der Objektarbeit ist nach Depner bislang zu wenig konzeptualisiert und durch eine Dingtheorie fundiert. Würden Dinge als „Diener“ verstanden, die stets zweckgebunden seien, so werde ihr Gebrauch obsolet, sobald der Zweck (beispielsweise eine Arbeitstätigkeit) entfalle. Begreife man – so Depner – Dinge hingegen als „Vermittler“, die persönliche Vergangenheit in einer gegenwärtigen Situation manifestierten, so könne ihr Einsatz in der Pflege dementiell erkrankten Menschen helfen, indem sie deren Identität bestätigen, ein Sicherheitsgefühl vermitteln und damit auch Vertrautheit und Wohlbefinden in einer stationären Pflegeeinrichtung herstellen.

Der Sammelband spiegelt ein gelungenes Forschungsprojekt wider. Wenn nach offengebliebenen Wünschen gefragt wird, so lässt sich allenfalls anmerken, dass sich die Rezensentin stellenweise ausführlichere Analysen und Interpretationen des empirischen Materials gewünscht hätte, um weiterführende Einsichten in das „Wie“ der Pflege zu gewinnen. Allerdings bestätigt dieser Wunsch genau das Argument des Projektes, nämlich, dass sich aus der Beschäftigung mit der materialen Seite von Pflege neue und interessante Erkenntnisse über Care gewinnen lassen. Der Sammelband hat insofern sein selbst gesetztes Ziel voll erfüllt: Er öffnet ein neues Spektrum an Theorien für das Thema Pflege und macht neugierig auf zukünftige Forschungen, die diesen Zugängen folgen und weitere Pflegedinge und deren Beteiligung an Pflege in den Blick nehmen. Hoffentlich trägt dies darüber hinaus auch zu dem großen Projekt bei, die Anerkennung für die Berufe und für die Tätigkeiten des Pflegens und Sorgens zu steigern.