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Aktuelle Rezensionen


Laura Gozzer

Zum Wohnen. Ethnographische Perspektiven auf eine geförderte Neubausiedlung in Wien

(Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien 41), Wien 2016, Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie, 186 Seiten mit 11 Abbildungen
Rezensiert von Matthias Möller
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.06.2018

Wohnen ist eine vielschichtige Angelegenheit. Sie beinhaltet Aspekte der Selbstverortung, des Sich-in-Beziehung-Setzens, der Repräsentation und Distinktion, der Verhandlung von Öffentlichkeit und Privatheit, der Vermarktung und noch vieles mehr. Angesichts steigender Mieten, städtischer Nachverdichtungen und Gentrifizierungstendenzen sind Fragen rund um den Wohnraum zudem wieder Bestandteil kontroverser gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Dies verdeutlicht mit aktuellem Fokus die 2016 erschienene Masterarbeit „Zum Wohnen. Ethnographische Perspektiven auf eine geförderte Neubausiedlung in Wien“ von Laura Gozzer.

Die Autorin geht mit ihrer Studie an den Anfang und untersucht, wie sich „Wohnen“ als Praxis in einer Neubausiedlung erst noch herausbildet. Geleitet von der Frage, was „sich vor Ort in den Neubaugebieten konkret abspielt“ (10), wählt sie eine Perspektive, die in der Lage ist, Aspekte des Wohnens vom Moment ihrer vielschichtigen Entfaltungen aus zu skizzieren. Für die Untersuchung wurde ein 800 Ar großes Areal einer 2002 geschlossenen Lebensmittelfabrik im Wiener Arbeiterbezirk Simmering gewählt, welches zwischen 2012 und 2015 neu überbaut wurde. Die in sich geschlossene Mautner-Markhof-Siedlung wird dabei als „eine spezifisch materialisierte, durch Diskurse und Praktiken ständig neu verhandelte Form von Wohnen [betrachtet], die so und nicht anders im Zusammenspiel eines zeitlichen und räumlichen Kontexts [...] entsteht“ (13).

Diese Kontextualisierung erfolgt zunächst in Form einer Übersicht über sozialen Wohnungsbau in Wien, der in der MieterInnenstadt auf eine lange Geschichte – insbesondere hinsichtlich kommunaler und genossenschaftlicher Wohnraumversorgung – zurückblicken kann. Anschließend werden die Rahmenbedingungen der untersuchten Bebauung umrissen, die auf gewandelte Paradigmen kommunaler Wohnungspolitik verweisen. So zielt die Wohnraumförderung Wiens heute hauptsächlich auf Angehörige der Mittelschicht, für die nicht die reine Versorgungsleistung, sondern deren Selbstverwirklichung in kleinteiligen, gemischten Nachbarschaften angestrebt wird. Auch tritt die Gemeinde seit 2004 nicht mehr selbst als Bauherr und Verwalter auf, sondern nimmt über Förderinstrumente Einfluss auf die Planung und Vermarktung. Auf Grundlage eines „Vorschlagsgerüst[s]“ (52) in Form eines auch über die untersuchte Siedlung hinaus praktizierten 4-Säulen-Modells werden stadtplanerische Richtlinien bezüglich Ökonomie, sozialer Nachhaltigkeit, Architektur und Ökologie umrissen, die von konkurrierenden Bauträgern unterschiedlich interpretiert werden können, was im Ergebnis einen Wandel von einheitlicher sozialstaatlicher Versorgung zu Vielfältigkeit auf Grundlage eines regulierten Wettbewerbs bedeutet. Dieser Bruch öffnet nicht nur Spielräume für ganz unterschiedliche Siedlungsentwürfe, sondern auch für die Erforschung ihrer nun offener zu Tage tretenden Aushandlungsprozesse.

Dazu nimmt Gozzer im zentralen dritten Kapitel „Wohnen als Praxis: Materialisierungen, Sozialitäten und Bezüge zur Umgebung“ unterschiedliche AkteuerInnen in den Blick, welche die Wissensordnung Wohnen als vielschichtigen Aushandlungsprozess hervorbringen. In Anlehnung an Andreas Reckwitz wird diese Wissensordnung als Zusammenspiel von Planungsdiskursen, Materialisierungen und lokalen Praktiken verstanden. Zentrale Frage ist dabei, „[w]elche Praktiken, Diskurse, Materialisierungen und Subjektivierungen [...] Wohnen im Kontext der öffentlich geförderten Mautner-Markhof-Siedlung [konstituieren]“ (22). Damit wird als Fokus nicht eine rückblickende Bilanzierung der Planungsideen, sondern „die Wissensordnung Wohnen im Hier und Jetzt“ (24) gewählt.

Zugang bieten Gozzer teilnehmende Beobachtungen, Planungsunterlagen und Gespräche beziehungsweise Interviews mit MieterInnen, die im Sinne einer Grounded Theory im wechselseitigen Bezug aufeinander analysiert werden. Dieses reichhaltige Material wird anhand von drei räumlich gegliederten Analyseebenen geordnet, die aufeinander aufbauend die Aneignungsprozesse des individuellen Wohnraums, die nachbarschaftlichen Beziehungen und die Bezüge der Siedlung zum umliegenden Stadtraum thematisieren. Diese Perspektive wird der Tatsache gerecht, dass die von unterschiedlichen Bauträgern errichteten Blöcke erheblichen Spielraum für Binnendifferenzierungen bieten, was auch durch detaillierte Betrachtungen von drei kontrastierenden Einzelprojekten Berücksichtigung findet. Besonders interessant ist dabei die gelungene Nachzeichnung, wie neue BewohnerInnen versuchen, sich mit ihrer Wohnung, ihrem Block, der neuen Siedlung und dem Bezirk ‚in Einklang‘ zu bringen, was eine mitunter widersprüchliche Einpassung der eigenen Subjektivität in Konstellationen bedeutet, die noch jung, fragil und deutungsoffen sind.

Bei der Einordnung dieser Prozesse greift Gozzer auf theoriegeleitete Deutungen zurück, die Orientierungen im dichten, vielschichtigen Material bereithalten. Dabei kommen jedoch alternative Interpretationen etwas zu kurz, so dass manche gezogenen Schlüsse weniger als Ergebnis von Erörterungen einer komplexen Empirie, sondern als Bestätigung von theoretischen Schlussfolgerungen anderer erscheinen – beispielsweise wenn Nachbarschaften mit Max Weber als Notgemeinschaften charakterisiert werden (134 f.) oder Unsicherheiten bei der Aneignung von Außenflächen mit Elisabeth Katschnig-Fasch zum Resultat einer ansozialisierten Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit werden, die keine Nutzung halböffentlicher Räume kennt (110).

Im bilanzierenden Schlusskapitel fasst Gozzer die raumgliedernden Erkenntnisse anhand der Leitlinien symbolisch, materiell und sozial ordnend zusammen, wobei auf die Skizzierung eines konsistenten Gesamtbildes verzichtet wird. Stattdessen entsteht auch hier der Eindruck eines vielschichtigen Ortes, „der ständig in Transformation ist“ (162).

Insgesamt liegt mit Gozzers Studie eine lesenswerte Momentaufnahme von Aspekten vor, die „Wohnen“ in einer zeitgenössischen Neubausiedlung konstituieren. Dass die untersuchte Siedlung am Ende mehr als Möglichkeitsraum denn als gefestigtes Ensemble erscheint, ist angesichts des gewählten Fokus und des behandelten zeitlichen Horizonts konsequent. Schließlich bezieht sich die facettenreiche Untersuchung auf eine städtebaulich gesehen äußerst kurze Phase, in der vieles erst im Entstehen ist.

Wofür das Wohnen in der Wiener Mautner-Markhof-Siedlung einmal stehen wird, wenn sich dort beziehungsweise darüber eine stabile Wissensordnung etabliert hat, lässt sich nach der Lektüre schwer abschätzen. Wie und unter welchen Voraussetzungen dafür zentrale Prozesse heute in der entscheidenden Phase der Erstbesiedlung eines urbanen Neubauquartiers ablaufen, dagegen umso besser.