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Frank Hartmann (Hg.)

Wilhelm Ostwald. Farbenlehre, Formenlehre. Eine kritische Rekonstruktion

(Forschung Visuelle Kultur 4), Hamburg 2017, Avinus, 183 Seiten mit Abbildungen, meist farbig
Rezensiert von Silke Kral
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 22.06.2018

Mit der vorliegenden Publikation rufen die Autoren Thomas Hapke, Frank Hartmann, Markus Krajewski, Rolf Sachsse, Karl Schawelka, Gunnar Schmidt und Jan Willmann die modernen Medientheorien des außergewöhnlichen Physikochemikers Wilhelm Ostwald (1853–1932) in „ambivalente Erinnerung“ (19). Die sieben renommierten Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum diskutierten in der Reihe „Forschung Visuelle Kultur“ an der Fakultät Kunst und Gestaltung der Bauhaus-Universität Weimar das philosophische Betätigungsfeld des Farben- und Formenlehren-Pioniers Ostwald. Sie unterzogen sein diesbezügliches Schaffen – gleichermaßen in seinen Bann gezogen sowie seine Irrungen und Fehlanalysen erhellend – einer kritischen wissenschaftlichen Einordnung und Würdigung (19).

So zeichnet sich für die visuelle Kommunikation, moderne Ästhetik und Kunsttheorie mit Wilhelm Ostwalds damaligen Erkenntnissen der Codierungsweisen einer „Tiefengrammatik des Visuellen“ in Malerei, Fotografie und Film (als Kunstformen der Moderne) – mit zunehmender Bedeutung computergesteuerter Automatismen – ein neuer diskussionswürdiger Stoff nach der formalen Berechenbarkeit von Farbe und Form ab (7, 14).

Die Autoren des 2017 vorgelegten Bandes

- reflektieren die Farbenlehre Wilhelm Ostwalds im Kontext von Moderne und Pädagogik („Malen nach Zahlen“: Rolf Sachsse, Hochschullehrer an der Hochschule der Bildenden Künste, Saar, 21–38);

- untersuchen die ästhetische Ordnung am Beispiel der Ostwaldschen Farborgeln („Ein Blick zurück auf Ostwalds Farbsystem“: Karl Schawelka, Emeritus für Geschichte und Theorie der Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar, 39–82);

- verdeutlichen die Problematik einer verwissenschaftlichten Ästhetik bei Wilhelm Ostwald sowie sein dogmatisches Betonen eines Harmonie-Bestrebens („Die neuen seelisch-technischen Mittel der Kunst“: Gunnar Schmidt, Professor für Theorie und Praxis des Intermedialen an der Hochschule Trier, 83–116);

- hinterfragen Ostwalds wissenschaftliches Weltsprachenprojekt, welches Weltformat beanspruchte („Röhrende Hirsche. Wede, Ido, Volapük“: Markus Krajewski, Professor für Medientheorie und Mediengeschichte an der Universität Basel, 117–146);

- erläutern die Absage an die Idee der genialen Schöpfung des vorangegangenen Jahrhunderts („Digitale Kombinatorik: Daten, Empirie und Partizipation“: Jan Willmann, Juniorprofessor für Theorie und Geschichte des Designs an der Fakultät für Kunst und Gestaltung, Bauhaus-Universität Weimar, 147–164);

- und widmen sich wissenschaftsorganisatorischen Fragen, die Wilhelm Ostwald systematisch über Projekte, wie zum Beispiel seine Wissenschafts-Möbel, stellte („Formieren, Formatieren und Informieren“: Thomas Hapke, Fachreferent für Verfahrenstechnik und Chemie an der Technischen Universität Hamburg, 165–181).

Überblicken wir den Inhalt der Publikation, so lässt sich grobmaschig herausstellen:

Den unbedingten wissenschaftlichen und technischen Fortschritt sah der in Riga/Lettland geborene Wilhelm Ostwald Anfang des 20. Jahrhunderts (übrigens beeinflusst vom Glauben an eine finale geothermische Katastrophe) im Zeitalter der Erfindungen hauptsächlich darin, Ordnung in die Welt zu bringen. Er rationalisierte die Dinge in der Schaffung transparent gehaltener Ordnungssysteme und Normierungen.

Sein Ziel? Die Welt und die Wissenschaftskommunikation (über Formen, Formate und industriell begründete Typisierungen) zu verbessern sowie Weltverkehr, Weltpost, Normierungsbehörde und Universalbibliothek (einschließlich „Weltdeutsch“), einheitliches Geld und eine einheitliche Registratur für das Wissen der Welt zusammenzuschließen [1].

Sein Zielpublikum? Die Bevölkerung bzw. letztlich jedermann. Ostwalds vielfältige Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften unterstreichen das aktive Hineinwirken in die breite Masse und das Beeinflussen der Menschen im Hinblick auf neueste industriell wirksame Technologien.

Wilhelm Ostwald überließ nichts dem Prinzip Zufall. Ausgehend von einer Ordnungsstruktur der Mathematik, Geometrie und Mechanik als Modelle begann er in seinen philosophischen Überlegungen mit dem System des Chemikers Farben und Formen zu berechnen und (in einem grundlegenden Harmoniegesetz) systematisiert abzubilden.

Zwar sorgen seine mit zweifelhaften Vorschlägen besetzten, fehlerhaften naturwissenschaftlichen Analysen beziehungsweise die formale Berechenbarkeit von Farbe und Form in Kunst und Gestaltung bis heute für eine gespaltene Aufmerksamkeit. So macht beispielsweise Rolf Sachsse deutlich, dass die Ostwaldschen Farbtechniken wie die chemischen Komponenten seiner Farben nicht lichtecht sind; damit konnten Ostwalds „Ewigkeits-Postulate“ nicht erfüllt werden (33). Weiter wurde und wird insbesondere Ostwalds prophetisch vorgetragene physikalische Farbenlehre im damals als elitär beschriebenen Kunstbetrieb – jenseits industrieller Normierungen – als höchst maßregelnd interpretiert. Tatsächlich erprobten jedoch vor allem Praktiker in den unterschiedlichsten Wirkungsfeldern seine wissenschaftlichen Theorien und wertschätzten die Ergebnisse bereits zu seinen Lebzeiten: Farbstoffe der chemischen Industrie aller Art zum Beispiel ließen eine vollkommen neue Textilindustrie entstehen. Wilhelm Ostwald bot diesem Industriezweig und weiteren sein Farb-System über Farbkarten an, welche gerade auf Messen und Märkten stark nachgefragt waren, weil es zur damaligen Zeit noch keine visualisierten Farbspektren gab. Unter „Pelikan-Normfarben“ („Original-Ostwaldfarben“) wurden um 1920 die „richtigen der Ostwaldschen Farbenlehre angepassten Farben“ produziert und ausgeliefert (116). Und gerade Berufsgruppen wie die Restauratoren profitieren noch immer von Ostwalds in der Praxis erprobten materialtechnischen Analysen, so etwa im Bereich der Kunstfälschungen.

Um die Diskussion weiter zu befördern, werden die vorgetragenen Inhalte des Bandes von Rezensenten-Seite um Nuancen erweitert:

Als Vorreiter und industrieller Trendsetter in der Farben- und Formenlehre fordert der Physikochemiker Ostwald bis heute alle Disziplinen heraus, die mit dieser Materie zu tun haben. Seine damaligen Forschungs-Erkenntnisse erlangten internationale Anerkennung und sind bei genauerer Betrachtung niemals völlig ignoriert worden [2].

Ostwald verstand es, sich in seinem Weltverständnis selbst zu verorten. Innerhalb des Selbststudiums der Philosophie sprach er in einer bemerkenswert selbstreflektierten Weise über sein Grenzgängertum als Chemiker: „Nicht ohne Zögern wage ich mich zu den Männern zu gesellen, welche die Philosophie zu ihrem Lebensinhalt und -beruf gemacht haben. Denn ich muss bekennen, dass ich die Philosophie nicht um ihrer selbst willen getrieben habe, sondern als Mittel zum Zweck, erstens meine auf anderen Gebieten liegende fachwissenschaftliche Arbeit zu erleichtern und zu verbessern und zweitens, eine gleiche Erleichterung und Verbesserung bei der Gestaltung meines inneren und äußeren persönlichen Lebens zu erzielen. Nach beiden Richtungen hat mich mein Vertrauen in die Möglichkeit, solches auf dem Wege philosophischen Denkens zu erreichen, nicht getäuscht, und der Wunsch, meine Mitmenschen des gleichen Gewinns teilhaftig zu machen, mag als Rechtfertigung dafür gelten, diese zunächst persönlichen Dinge der Allgemeinheit mitzuteilen.“ [3]

Seine Farben- und Formentheorien band Wilhelm Ostwald an Experimente – ausgehend von einem selbst auferlegten regelmäßigen Tagesrhythmus in einer streng strukturierten Selbst-Organisation und Selbst-Disziplinierung innerhalb des selbst erschaffenen „Familienmanagement-Systems“ – in seinem im Landkreis Leipzig gelegenen Farblabor in Großbothen bei Grimma.

Mittels selbst erstellter Rezepturen gingen Ostwalds Produkte in einen kleinen Wirtschaftskreislauf, wie zum Beispiel Pastellkreiden auf Bestellung unter anderem ins Bauhaus nach Dessau. Im Sortiment waren weiter: Buntpapiere, Farbatlanten, Farbkreise und Übersichtstafeln, Farbkästen, Farbstifte und die so genannte Farborgel (mit allen 680 Farben seines Systems; malfertig als Pigmentstücke oder in flüssiger Form zum Anrühren oder Auftragen) [4].

Ostwald schien seine Erkenntnisse in höchster Konzentration (darf man sagen: wie kaum ein anderer Gelehrter seiner Zeit?) gutgläubig weitergetragen zu haben.

Sein (mit Fehlern behaftetes) Wissen teilte er Ende der 1920er Jahre den Menschen nicht nur über seine Selbstbiographie mit, sondern mit großem Eifer publizistisch über die damals zur Verfügung stehenden öffentlichen Medien, so dass der geistig Vorauseilende sich in dieser Transparenz vermutlich zusehends selbst angreifbar machte.

Es war dem Visionär Zeit seines Lebens bewusst gewesen, dass zum Beispiel in der Diskussion um die Weltformate „führende Männer“ gegen ihn „eine entschiedene Abneigung“ hegten [5].

Wurden damalige Farbbezeichnungen Ostwalds wie etwa Kreß, Veil, Ublau mitunter von seinen Zeitgenossen extrem belächelt, sind entsprechende Wort-Kreationen verschiedenster Farbbezeichnungen industriell gefertigter Produkte beispielsweise im saisonalen Kosmetikbetrieb heute nicht mehr wegzudenken – was diesen ja geradezu die Modernität verleiht.

Wir lernen anhand der vorgelegten Publikation, dass gerade Ostwalds populär gewordenen Erkenntnisse der Farben- und Formenforschung für die Medientheorien im Computerzeitalter sehr aufschlussreich sind.

Jedoch waren sie auch für die Teppich- und Gobelinfabrikation, die Lederfärberei, die Botanik, den Gartenbau (insbesondere die Rosenzucht) und die Bienenzucht, die Medizin, die Homöopathie, für Kanarienvogel-Züchter, für Drogisten, die Meteorologie, den Buchdruck und für die Kakao-Produktion bzw. die Lebensmittelherstellung hilfreich [6].

Seine Farbkunde aus dem Jahr 1923 – als Hilfsbuch verstanden wissend – hatte Ostwald explizit praktisch wirkenden Berufsgruppen gewidmet: Chemikern, Physikern, Naturforschern, Ärzten, Physiologen, Psychologen, Koloristen, Farbtechnikern, Druckern, Keramikern, Färbern, Webern, Malern, Kunstgewerblern, Musterzeichnern, Plakatkünstlern und Modisten [7].

In der Praxis scheint daher das Gesamtkunstwerk Wilhelm Ostwald „irgendwie“ weiter zu leben; es befindet sich sozusagen in fließender Anwendung als selbstverständliches, jedoch insgesamt wenig reflektiertes Wissen mitten unter uns [8]. Und dieses in den unterschiedlichsten Fachdisziplinen unter entsprechenden Fragestellungen „ganz“ erfassen zu wollen, erweist sich bei näherer Betrachtung von Ostwalds facettenreicher Beheimatung als ein Ding der Unmöglichkeit!

Meines Erachtens hätte es die Publikation (über Weimar hinausschauend) bereichert, den in den Fußnoten auffallend oft zitierten Kunsthistoriker und Pigment-Experten Albrecht Pohlmann (Referatsleiter Zentrale Restaurierung am Kunstmuseum Moritzburg, Halle/Saale) sowie auch den mit profunden Ostwald-Kenntnissen betrauten, inzwischen emeritierten Farbexperten Eckhard Bendin (u. a. Betreuer der Sammlung Farbenlehre an der TU Dresden) mit einem eigenen Beitrag zu berücksichtigen.

Ebenso wäre ein Querverweis auf die künstlerische Forschung zur niederländischen „De Stijl-Bewegung“ wünschenswert gewesen (Stichworte: Ostwald und die Graustufen; Ostwalds Einfluss auf Vilmos Huszár und George Vantongerloo). Denn es scheint bemerkenswert, dass Ostwald im Jahr 2017 – im 100. Jubiläumsjahr seiner Farbenfibel – in der Kunsthal KADE im niederländischen Amersfoort neben Johann Wolfgang von Goethe und Isaac Newton eine internationale kunsthistorische Würdigung erfuhr [9].

Insgesamt hinterlässt das Ergebnis des Vorhabens des Bandes, die fachinternen Diskussionen der Ostwaldschen Farb- und Formenlehre zwischen zwei Buchdeckel zu pressen, ein schales Gefühl. Und so ermuntere ich geradezu, Wilhelm Ostwalds Lehren – eingebettet in die verschiedensten zu konstruierenden interdisziplinären Kontexte; gerade in vielerlei Kombinationen geistes- und naturwissenschaftlicher Lesarten – weiter zu entdecken. Denn es bleibt lohnenswert, in das Quellenspektrum der Farben- und Formenlehre des bisher nicht systematisch aufgearbeiteten Ostwald-Nachlasses einzutauchen [10], um beispielsweise neben Wilhelm Ostwald gerade auch seine Tochter, die Künstlerin und Nachlassverwalterin Grete [11], zu Wort kommen zu lassen.

Abschließend stelle ich die kühne Behauptung auf, dass sich vermutlich ganze Generationsfolgen von (Nachwuchs-)Wissenschaftlern an den Ostwalds in Mitteldeutschland, ihren Biographien und diffizilen, zukunftsweisenden Betätigungsfeldern abarbeiten werden. Ein riesiger Fundus des Historien-Stoffes der Ostwald-Dynastie im Industriezeitalter (Wilhelm und Helene Ostwald mit ihren fünf Kindern) mit Verwicklungen und sich widersprechenden Tendenzen wartet – jenseits heldenhafter Glorifizierungen (welche Wilhelm Ostwald ein Gräuel gewesen sein dürften) – geradezu auf eine filmische Umsetzung.

 

[1] Vgl. Thomas Steinfeld: Deutsche Industrienorm. Das Maß aller Dinge. In: Süddeutsche Zeitung online, 27.2.2018.

[2] Es besteht Forschungsbedarf! S. beispielsweise Erich Fürchtegott Heeger: Handbuch des Arznei- und Gewürzpflanzenbaues: Drogengewinnung. Berlin 1956 (Reprint 1989), S. 178 f., mit der Erwähnung der Systematik Ostwaldscher Farben bei den Drogisten. S. auch Egbert Jacobson, Walter C. Granville u. Carl E. Foss: The Color Harmony Manuel. 3. Aufl. Chicago 1948.

[3] Wilhelm Ostwald. In: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 4. Leipzig 1923, S. 127-161, hier S. 127.

[4] S. Andreas Schwarz: Vorwort. In: Die Ostwaldsche Farbenlehre und ihre Anwendung in der Praxis. Jahreskalender zum 150. Geburtstag, 2003.

[5] Wilhelm Ostwald: Lebenslinien – Eine Selbstbiographie. Nach der Ausgabe von 1926/27 überarbeitet und kommentiert von Karl Hansel (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse 61). Stuttgart/Leipzig 2003, S. 521.

[6] S. verschiedene Kalenderblätter bei Schwarz (wie Anm. 4).

[7] S. Walter Roth (Hg.): Chemie und Technik der Gegenwart, Bd. 1. Leipzig 1923.

[8] An der Hochschule für Bildende Künste in Dresden wurde in jüngster Zeit das Gemälde „Um die Freiheit“ des Künstlers Sascha Schneider mit Pastellkreiden nach der Rezeptur der Malerbriefe Wilhelm Ostwalds restauriert (Quelle: Chemikerin Annegret Fuhrmann, Dresden).

[9] S. Marjory Degen u. Judith D. van Meeuwen (Hgg.): The Colours of De Stijl. Ausst.-Kat. Amersfoort 2017, S. 10 f., 42.

[10] Insbesondere: Archiv-Fundus im Haus Energie in Großbothen, Zentralarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin und Universitätsarchiv Leipzig.

[11] Grete Ostwald studierte zwischen 1905 bis 1907 in der Damenklasse von Prof. Sascha Schneider Kunst an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar (http://www.wilhelm-ostwald.de/seiten/s21.htm).