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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Thomas E. Hauck/Stefanie Hennecke/André Krebber/Wiebke Reinert/Mieke Roscher (Hgg.)

Urbane Tier-Räume

(Schriften des Fachbereichs Architektur Stadtplanung Landschaftsplanung der Universität Kassel 4), Berlin 2017, Reimer, 144 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Thorsten Benkel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.06.2018

Bei urbanen Tier-Räumen handelt es sich um Raumanordnungen, die von und für Menschen planerisch gestaltet wurden – und die Tiere sich aneignen. Dieser außerplanmäßige Eroberungsfeldzug erfolgt nicht allein von Seiten domestizierter Spezies, die der menschgemachten Ordnung der Dinge (mehr oder minder aus eigenem Antrieb) Folge leisten. Auch Vertreter ungezähmter Tierarten bevölkern die vorgefundene, aber nicht unberührte ‚künstliche Natur‘ der Städte und wissen sie für ihre Überlebenszwecke zu nutzen. Die Bandbreite reicht vom im Stadtpark nistenden Vogel bis hin zur Ameisentruppe zwischen den Bodenfugen.

Die Herausgeber des vorliegenden Bandes finden darüber hinaus symbolische Komponenten der Mensch-Tier-Verbindung in Figuren wie dem Maskottchen, welches sich aber bei näherem Hinsehen als eine die sozialen Elemente herauskitzelnde und zuspitzende Variation des Wappentieres entpuppt. Aus konstruktivistischer Sicht sind Tiere zu keinem Zeitpunkt außerhalb menschlicher Funktionsräume lokalisiert gewesen: Ihr Dasein jenseits humaner Zugriffe galt so lange als inexistent, bis sie katalogisiert, eingesperrt und studiert, mithin also: begriffen wurden. Die Kulturgeschichte sowohl der Domestizierung wie auch des Zoowesens spricht Bände über die besonderen Formen des Für-, Mit- und Gegeneinanders, das Menschen und Tiere seit Jahrtausenden ebenso verbindet wie voneinander abstößt.

Entscheidend ist die einseitig bestimmte und gesteuerte Distanz: Nicht alleine als Transportmittel, sondern vor allem als Rohstofflieferanten sind Tiere zwar für den Lebenserhalt einer dereinst durchgängig carnivoren Gesellschaft unerlässlich – gerade deshalb durften sie aber lange Zeit nicht als selbstzweckhafte Sozialpartner agieren, deren Nähe man um dieser Nähe willen sucht. Die animalische Moderne beginnt da, wo differenziert wird zwischen rationalistischer und bedingungslos-emotionaler Beziehungspflege. Friedrich II. hat diese spezifische Intimität im innigen Verhältnis zu seinen Hunden (italienische Windspiele) gewissermaßen in aristokratischer Ausprägung vorgelebt. Hund und Katze und viele andere Tiergattungen sind mittlerweile Okkupanten derselben Räume, die ihre menschlichen Besitzer benutzen und beleben. Verbunden ist die engere soziale Nähe mit einem gehobenen Anpassungsaufwand, mit einer Adaption an artifizielle und eben nicht naturwüchsige Umgebungen.

Das Nutztier dagegen? Es verharrt im Zwischenstadium: Der Stall als Behausung, der Landwirt als fürsorglicher, aber irgendwann vielleicht auch erbarmungsloser Schicksalsgestalter ist nie ganz fern, auch aber nicht wirklich nah. In urbanen Räumen sind diese Tiere rar; in ländlichen Regionen gelten sie dagegen als visuelle Markenzeichen.

Übrig bleibt eine dritte Gruppe, die der unbehelligten Tiere. Ihr ontologischer Status ist weitgehend unhinterfragt; sie sind da, weil sie da sind. Das gilt insbesondere für kleine und kleinste Lebewesen. Die Spinne an der Zimmerdecke beispielsweise erfüllt durchaus eine ‚Funktion‘, die ihr aber nicht aufgetragen wurde, sondern die sich im Zuge globaler Verhäuslichungs- und später Verstädterungsprozesse gewissermaßen als arachnoide Lebensführungsoption herauskristallisiert hat. Das Tier hat sich der Urbanität also anzupassen gewusst, ohne dass dies im Prozess der Urbanisierung je intendiert oder auch nur reflektiert worden wäre.

Spannungsreich sind jene Orte, an denen sich verschiedene Bedeutungszuweisungen an die Tierwelt überlappen. Sie werden in dem von Thomas E. Hauck, Stefanie Hennecke, André Krebber, Wiebke Reinert und Mieke Roscher herausgegebenen Buch thematisiert. Einer im Jahr 2000 im Zeichen der ‚Urban Animal Geography‘ postulierten Differenzierung zufolge lässt sich differenzieren zwischen ‚animal spaces‘ und ‚beastly places‘: Der legitim(iert)e tierische Raum wäre demnach beispielsweise ein Zoo; eingerichtet und betrieben von Menschen, lässt er Tiere insofern Tiere sein, als das artifizielle Setting zumindest vordergründig doch etwas über den ‚Naturhabitus‘ gerade jener Tiere zu vermitteln verspricht, die – zumindest in der je vorliegenden Kultur – nicht den Lebensraum der Menschen mitbevölkern. Bestialisch sind hingegen solche Plätze, die von Tieren gemäß autonomer Intentionalität erobert werden – wie der Fuchs, der den Hühnerstall zum Schlachtfeld macht, oder, dies ist das Beispiel der Herausgeber, wie der Waschbär, der seinen Appetit ungefragt mit den Inhalten von Kasseler Mülltonnen stillt.

Bestien sind diejenigen, die einem nicht begegnen sollen. Sie halten schlichtweg keinen sozialpsychologischen Mehrwert parat, wie die niedlichen, die dressierten Tiere es tun. „Der Nutzen von Hunden und Vögeln“, heißt es denn auch lapidar, sei heute „auf den emotionalen Gewinn reduziert“ (20). Unangepasste Tiere sind dagegen Störfaktoren wider die Ordnung der Dinge, zumal jener ungeschriebenen Regel, dass städtische Räume sich für animalische Kolonisation nur bedingt eignen. Und selbst dort, wo die Anpassungsfähigkeit sich durchsetzt – man denke an Großstadttauben oder daran, dass in Brüssel die Friedhöfe von sich selbst ‚ausgewilderten‘ Papageien bevölkert sind –, wird dies üblicherweise nicht als Gewinn deklariert, sondern als Missstand. Krankheiten, Ekel oder schlichtweg das Abweichen von der Norm brandmarken urbane Tiere als Grenzgänger, wenn nicht als Störfaktoren. So ging es einst selbst den Katzen (vgl. 26). Heute geben marodierende Wildschweine (oder das, was man dafür hält) ein dankbares animalisches Feindbild ab (der offizielle Berliner ‚Wildtierreferent‘: „Anrufer sind oft verärgert, weil ein Wildtier plötzlich bei ihnen im Garten auftaucht“; 47). Wer weiß: Vielleicht liegt der eigentliche Makel des urbanisierten Tiers darin, sich von seiner außerstädtischen Natur so dezidiert entfernt zu haben?

Wie aber wären dann Kleintier- und Brieftaubenzucht zu interpretieren? Werden Fell und Feder an Straßen und Bauten angepasst oder laufen hier zwei Strömungen zusammen: das Beherrschen des Raums und des Tieres, die beide als Dominanzstreben über die ‚Natur‘ gelten können? Immerhin, mit der Zuchtkultur wird das Verhältnis von Mensch und Tier partnerschaftlicher. Bereits im 19. Jahrhundert, so berichtet der Band, wurde das Schlachten zunehmend unsichtbar gemacht; die blutroten Flecken, welche die Beziehung zwischen Nutztier und Ausnutzenden kennzeichnen, konnten so besser verschwiegen werden. Es fällt nicht schwer, die Parallele zu erkennen, die Michel Foucault in seiner Studie zu „Überwachen und Strafen“ aufspannt: Moderne bedeutet hier unter anderem, die Hinrichtungen von Verbrechern nicht mehr als öffentlichen Event auf dem Marktplatz, sondern klammheimlich hinter Gefängnismauern vorzunehmen. Dass heute im Zoo viele Spezies gleichsam hinter Gitter ziehen, sei nur am Rande angemerkt.

Ob nun Schädling oder wundersamer Anblick, Tiere im urbanen Raum tauchen dort auf, wo sie Bedingungen finden, die (halbwegs) mit ihren Bedürfnissen korrelieren (vgl. 73). Je mehr Zustimmung für und Bau von Grünanlagen, desto wahrscheinlicher der Besuch unerwarteter Gäste. Gerade das Wildtier ist, als ‚ungelenkes‘, nicht-domestiziertes Wesen dort, wo es in Parks auf den folgsam gezüchteten Dackel trifft, eine Komplementärfigur, die sich als Staffage und buchstäbliches Kuscheltier nicht eignet. Das wilde Tier ist das andere Tier. Seine Wildheit ist sein Problem und zugleich sein Mehrwert. Dabei sind die Impulse, die bei menschlichen Beobachtern ausgelöst werden, wohl recht unterschiedlich; sie dürften von Akzeptanz bis zum Jagdaufruf reichen. Die spannende Frage ist, ob es denn überhaupt zwischen Menschen und Tieren in humanen Lebensräumen ohne „Demarkationslinie“ funktionieren könnte (91) – ob also eine Balance der Inanspruchnahme jener Räume sich etablieren ließe. Der Stöckchenwurf im Park zum Pläsir des Hundes gilt weithin nicht als Überschreitung; das Taubenfüttern dagegen ist an demselben Ort, und eigentlich überall, eine Hygienegefahr. Sind die Kategorien also im Kern dichotom – hier das gute Tier, dort das schlechte Viech?

Diese immanente Konfliktstellung lässt sich nicht ohne Einbeziehung von Verdrängungsstrategien nachvollziehen: „Menschen haben lange versucht, Tiere aus den urbanen Räumen zu verdrängen – mental und physisch.“ (94) Tiere wiederum haben erfolgreiche Gegenmanöver gestartet und damit den Diskurs überhaupt erst begründet, der dem vorliegenden Band und vielen weiteren Arbeiten im Zeichen der ‚Human-Animals-Studies‘ zugrunde liegt. Das perfekt assimilierte Tier im urbanen Raum ist längst jenes, welches nicht mehr auffällt. Beachtet und damit häufig genug problematisiert werden jene Spezies, die im städtischen Feld dem dort aktiven Menschenrudel überhaupt noch als ‚fremd‘ auffallen. Im eigenen Haushalt findet sich nichts Fremdes: Hund, Katze und Wellensittich gelten als ‚durchschaut‘, ihnen werden Eigenschaften zugeschrieben, sie dürfen mithin also sogar ein wenig menschlich sein. Urbane Räume gehören ihnen auch, weil ihre Menschenfreunde ihnen Partizipation zugestehen. Dahinter steckt die zutiefst menschliche Vorstellung, vermutlich ist es tatsächlich eher ein Wunsch, dass auch Tiere intersubjektive Wesen seien. Denn dann kann man sie lieben und von ihnen geliebt werden, was aber auch bedeutet, dass man sie hassen und vice versa gehasst werden kann. Wären Tiere ‚verdinglicht‘ und gewissermaßen ‚interobjektiv‘ unterwegs, wären sie im Großstadtdschungel harmonisch eingegliedert. Dass sie immer stärker menschliche Gefühlswelten bevölkern, ist so gesehen das größte Hindernis auf dem Weg zur bedingungslosen Anerkennung dessen, was Tiere jenseits des Menschen sind.