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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Christoph Rauhut

Die Praxis der Baustelle um 1900. Das Zürcher Stadthaus

Zürich 2017, Chronos, 437 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Herbert May
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2018

Die vorliegende Publikation ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung der an der ETH Zürich angenommenen Dissertation des Verfassers und entstand im Kontext eines Forschungsprojektes zum Thema „Verwissenschaftlichung des Bauwissens“. Christoph Rauhut befasst sich hier mit dem Bauprozess des Zürcher Stadthauses, 1898-1901 errichtet von dem Architekten Gustav Gull, der im ausgehenden 19. Jahrhundert das Zentrum Zürichs mit zahlreichen Neubauten geprägt hat. Ertragreiche Abhandlungen zur Praxis des historischen Bauens sind vergleichsweise rar gesät. Gewissermaßen zu den Klassikern zählt Günther Bindings 1993 erschienenes Werk zum „Baubetrieb im Mittelalter“. Einen großen Stellenwert nimmt der Baubetrieb auch in dem fünfbändigen, von Achim Hubel und Manfred Schuller herausgegebenen Opus Magnum zum Regensburger Dom ein (2010-2016, in der Reihe „Kunstdenkmäler in Bayern“). Die historische Hausforschung hat sich dem Thema unter anderem in zwei Publikationen angenähert, die sowohl den Norden wie auch den Süden Deutschlands im Blick haben: zum einen mit dem von Heinrich Stiewe 2005 herausgegebenen Werk „Auf den Spuren der Bauleute. Historische Bau- und Ausstattungsgewerke in Nordwestdeutschland“ und zum anderen mit dem Band „Unter Dach und Fach. Häuserbauen in Franken vom 14. bis ins 20. Jahrhundert“, das 2002 von Konrad Bedal und Herbert May herausgegeben wurde.

Der Bau des Zürcher Stadthauses, das Christoph Rauhut beschäftigt, fällt in eine spannungsreiche Zeit, in der die Folgen des industriellen Zeitalters auch auf der (Groß-)Baustelle erfahrbar sind: Neue Baustoffe und Baugeräte sind auf dem Markt, die Haustechnik entwickelt sich entscheidend weiter und die Baugesetzgebung wird neu geschrieben. Wir kennen und schätzen die zahllosen städtischen „Gründerzeitviertel“ oder die historistischen Büro- und Geschäftshäuser, erfreuen uns am qualität- und oft phantasievollen Baudekor dieser Gebäude, doch über den einstigen konkreten Ablauf auf der Baustelle wissen wir wenig. Oder besser gesagt: wussten wir wenig, denn nach der Lektüre des vorliegenden Bandes ist unser Kenntnisstand ein ganz anderer. Rauhuts ungemein materialreiche Arbeit fußt auf einer exzellenten Quellenlage, zu der neben den Bauakten auch das Bautagebuch des Stadthaus-Neubaus gehört. Nach zwei einleitenden Kapiteln, die sich mit der architektonischen Einordnung des Stadthauses, dem Bauablauf vom Herbst 1897 bis Herbst 1901, der Quellenlage und dann mit den Strukturen und Veränderungen in der Baugesetzgebung, der beruflichen Situation der Bauhandwerker und dem umfassenden Aufgabengebiet des „Bauführers“ im 19. Jahrhundert befassen, geht es in den drei folgenden Hauptkapiteln um die Arbeitspraktiken auf der Stadthaus-Baustelle, die Bauausführung und schließlich um den Einsatz von Baugeräten und Maschinen. Dem anschließenden Resümee folgt – in Auswahl – ein Katalog geplanter und ausgeführter Bildhauerarbeiten am Stadthaus, illustriert durch zeitgenössische Fotos und Skizzen sowie durch aktuelle Aufnahmen des Autors.

Schon allein die im Buch präsentierte Dokumentation der Gewölbekonstruktionen des Stadthauses (197-201), die nur einen sehr kleinen Teil des Gesamteinblicks ins Baugeschehen auf der damaligen Zürcher Baustelle ausmacht, verdeutlicht bereits den Wert der Darstellung: Detailliert wird die Errichtung der Gewölbe beschrieben, „wie also eine bautechnische Praxis der Wiederentdeckung funktionierte“ (197), wobei zunächst die Gewölberippen versetzt und dann die Gewölbefelder gemauert wurden, was durchaus der gotischen Bautradition entspricht – im Gegensatz zu der von Rauhut ermittelten Vorproduktion der Bauteile auf einem Firmengelände und nicht in der Steinhauerhütte auf der Baustelle. Womit die „neue Zeit“ trefflich gekennzeichnet ist: Wir haben es mit einem aufregenden Amalgam von – auch formentypologischer – Bautradition und noch nie dagewesenen neuen technischen und baustofflichen Möglichkeiten beim Bauen zu tun. Nicht nur die Errichtung der Gewölbe ist mit historischen Aufnahmen auch fotografisch bestens dokumentiert: Noch selten hat man eine derart umfangreiche, den Bauprozess begleitende Serie zeitgenössischer Baustellenaufnahmen gesehen.

Nicht nur auf der Baustelle des Stadthauses, auch generell konstatiert Rauhut für das 19. Jahrhundert eine Dominanz der Maurer (102: „Die Maurer als Nucleus der Baustelle“), da Holz als Baustoff eine immer geringere Rolle spielt, wobei angemerkt sei, dass die „Versteinerung“ im ländlichen Hausbau oft schon deutlich früher einsetzte. Das Steinmaterial hat man auf der Zürcher Baustelle mit der Kniebelhebel-Steinzange gehoben und versetzt, bei der Greifbacken den Stein „in die Zange“ nehmen, obwohl diese gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete Art des Steintransports auf der Baustelle unter den Aspekten des Arbeitsschutzes schon damals als höchst bedenklich eingestuft wurde.

Die Fülle der durch Rauhut vermittelten Detailinformationen zum Bauprozess erscheint schier unendlich und stets kontextualisiert der Autor diese Informationen mit zeittypischen Entwicklungen und Tendenzen am Bau, auch wenn er dabei bisweilen etwas sehr allgemein formuliert, wenn es zum Beispiel heißt, dass die Tapete um 1900 „zum Standardrepertoire des Innenausbaus“ gehörte (239). Im ländlichen Raum hat die Tapete oft erst in den 1960er Jahren Einzug in die Bauernhäuser gehalten und die bis dahin gängige Schablonen- und Walzenmalerei verdrängt. Bestens nachvollziehbar ist auch die Lieferung der 124000 Dachziegel (plus 1050 Firstziegel) für das Stadthaus durch zwei Firmen, da die gesamte Menge von einer Firma kaum fristgerecht zu produzieren gewesen wäre und die Trennung der Aufträge ein nicht unübliches Verfahren als Absicherung gegen Produktionsausfälle darstellte. Die Materialkontrolle erfolgte nicht auf der Baustelle, sondern am Anlieferungsort, dem Zürcher Vorbahnhof, von dort brachte ein Fuhrunternehmen die Ziegel zur Baustelle, das Um- und Aufladen besorgten Arbeiter einer Maurerfirma – all das ist in den Quellen festgehalten.

Rauhut verfolgt den Bauprozess von der Ausschreibung bis zur Ausführung, stellt dabei ganz vereinzelt auch Subunternehmertum fest (159 f.), was im Falle der Stadthaus-Baustelle eigentlich nicht zulässig war, und manchmal erfolgte die Vergabe auch ohne Ausschreibung – so bei den Dekorationsmalerarbeiten (134). Rauhut belässt es nicht bei der Darstellung des Wirkens der am Bau beteiligten Firmen, sondern er erzählt ganze Firmengeschichten, zeigt die Entwicklungen dieser Betriebe auf und deren Beteiligungen an weiteren Baumaßnahmen in Zürich und anderswo. Ein (kleiner) Wermuttropfen liegt in der bisweilen etwas akademisch-schwerfälligen Sprache Rauhuts, auch sind manche Schlussfolgerungen recht naheliegend und bieten keine Überraschung, wenn beispielsweise die Diskrepanz zwischen der praktischen Handhabung auf der Baustelle und den geltenden Vorschriften oder der Vorgaben in den Lehrbüchern hervorgehoben wird (115, 201): Die reine Lehre wird selten vollständig umgesetzt, so war es früher, so ist es heute.

Aber das sind zu vernachlässigende Marginalien, viel wichtiger ist, dass die tiefen Einblicke in die Prozesse auf einer Baustelle um 1900 das Buch von Christoph Rauhut zur Pflichtlektüre eines jeden Haus- und Bauforschers mit Interesse für diese – auch für das Bauwesen geltende – Umbruchzeit machen sollten. Denn es ist ja immer noch so, dass die Erkenntnisse der historischen Haus- und Bauforschung über den Hausbau des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit fast umfangreicher sind als über das Bauen in der jüngeren Vergangenheit. Aber schrittweise ändern sich die Schwerpunkte der Hausforschungs-„Zunft“ und Rauhuts Buch, das auch hinsichtlich der Gestaltung und selbst der Papierqualität keine Wünsche offen lässt, setzt diesbezüglich einen gewichtigen Akzent.