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Marco Iwanzeck

Dresden à la carte. Entstehung und kulinarische Einordnung der Restaurantkultur 1800 bis 1850

(Land kulinarischer Tradition, Ernährungsgeschichte in Sachsen, Reihe C – historische Forschungen zur exquisiten Küche 3), Ostfildern 2016, Thorbecke, 279 Seiten mit 11 Abbildungen, 8 Tabellen
Rezensiert von Peter Peter
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.07.2018

Auch wenn der Autor auf Seite 49 einräumt, dass der untertitelgebende modische französische Fachbegriff Restaurant für Dresden erstmals 1851 belegt ist, stellt sein Werk eine vorzügliche Analyse des französischen Einflusses der Restaurant-Mode auf die Gastronomieszene der sächsischen Residenzstadt dar. Das gelingt auch dadurch, dass die Recherche auf konstitutive Aspekte des Restaurants fokussiert wird: die individuelle Freiheit, den Zeitpunkt des Essens zu bestimmen, und vor allem die Wahl der Gerichte und damit auch die Hoheit über das Budget, kurzum das Speisen à la carte. Dabei gelangt Marco Iwanzeck, um ein wichtiges Ergebnis vorwegzunehmen, zu dem doch leicht überraschenden Schluss, dass das Aufkommen von À la carte-Lokalen in Dresden keineswegs als bloße verspätete Nachahmung Pariser Speisesitten zu werten ist. Während in der Seine-Metropole das Restaurant in den 1760er Jahren als Elite-Institution startete und diesen Charakter auch während der Französischen Revolution wahrte, so dass volkstümlichere erschwinglichere oder gar ärmlichere Restaurants erst in den 1820ern häufiger wurden, scheint die Entwicklung in Dresden geradezu diametral entgegengesetzt verlaufen zu sein. Sicher, es gab wie in England Gesellschaften und Clubs, die ausschließlich ihren Mitgliedern eine Speisewahl ermöglichten, aber im Bereich der feineren öffentlichen Tafel scheint sich die stilvollere table d’hôte bis über die 1840er Jahre zu halten, wobei zu bedenken ist, dass in luxuriösen Herbergen wie dem Hôtel de Pologne à la française eingedeckt wurde und die Gäste somit eine Fülle unterschiedlichster Gerichte genießen konnten. À la carte scheint sich zunächst ab 1820 eher im Bereich einfacherer Gasthöfe durchgesetzt zu haben: Der Verfasser nennt als triftige Gründe den geringeren Aufwand für den Wirt, die Möglichkeit für den Gast, knapp zu kalkulieren und vor allem den aufkommenden Kunst- und Landschaftstourismus nach Elbflorenz, bei dem weniger begüterte Reisende verlockt werden sollten, durch günstige Angebote in der Herberge zu speisen und nicht auf eine der Traiteurs- oder Schankwirtschaften auszuweichen. Angesichts des archivalischen Mangels bzw. des völligen Fehlens von erhaltenen Dresdner Speisekarten im untersuchten Zeitraum stellt sich die Frage, ob à la carte eventuell bloß ein modischer französischer Begriff war, um Auswahl zu signalisieren, die aber auch über mündlichen Vortrag (oder Schiefertafel) unterbreitet werden konnte. Denn Tarifzettel (die generell das theoretisch vorhandene Angebot des ganzen Jahres mit Preisen versahen) oder aktuelle Menükarten zu schreiben oder gar setzen und drucken zu lassen, war aufwendig und teuer und passte selbst in Paris eher zum Luxussektor.

Dem Autor gelingt es, seine lokalhistorischen Recherchen durch eine fundierte Einleitung, die den internationalen Forschungsstand zum Thema Restaurant aufarbeitet, in einen gesamteuropäischen Kontext einzubetten, der die Dresdner Gastronomie auch mit den zeitgenössischen Essmoden Londons und Wiens vergleicht. Gerade die Ausflugs- und Gartenlokale Dresdens mit ihren „Restaurationen“ lassen ja auch an das muntere und volkstümliche kulinarische Treiben denken, dass sich ab Ende des 18. Jahrhundert im Wiener Prater entwickelt.

Erfreulicherweise wird die Frage thematisiert, inwieweit die aktuelle Frankreichmode sich wirklich kulinarisch niederschlägt oder bloße sprachliche Tünche bleibt. So verfügt die Elbresidenz im Jahre 1834 über ein halbes Dutzend von Herbergen, die den altfränkischen Ausdruck Gasthof zugunsten des französischen Begriffs Hôtel abgelegt haben: Neben dem schon 1767 gegründeten Hôtel de Pologne finden sich etwa das Hôtel de France, das Hôtel de Russie oder das Hôtel de Saxe. Auch der deutsch-französische Terminus Traiteurswirtschaft für Lebensmittelgeschäfte mit Verköstigungslizenz ist populär. Andererseits scheint die reale Präsenz von emigrierten französischen Köchen oder Hoteliers minimal zu sein, während die Dresdner Italiener mit ihren Cafés auf der Brühlschen Terrasse ihre starke Stellung auch im 19. Jahrhundert behaupten.

Ein echtes Desiderat befriedigt der Autor, indem er es erfolgreich unternimmt, das Aufkommen des Restaurants nicht bloß soziologisch oder literaturgeschichtlich als Distinktionsformel zu analysieren, sondern auch - was leider auffällig selten geschieht – die kulinarische Recherche des Geschmacks und der feinen Küche, kurzum die Realia des Speisens, der Kochstile und Rezepte in seine Forschungen einzubringen und durch diese duale Methode eine Schieflage der Forschung zu beseitigen. Zugleich weist der Verfasser darauf hin, dass zu strikte Schemata von Klassenküche im 19. Jahrhundert nur bedingt greifen. Mancher Adlige isst gerade in Deutschland bescheidener als ein begüterter Bürger und außerdem wird Speisen im 19. Jahrhundert situativer – gerade die neuen Ausgehmöglichkeiten à la carte ermöglichen es, sich einmal etwas zu gönnen und punktuell oder zu besonderen Anlässen in sonst nicht vertraute Preissegmente vorzudringen.

Iwanzecks Analysen der Dresden-affinen Rezeptsammlungen der Epoche wie das „Nützliche Buch für die Küche“ des Kochlehrers August Erdmann Lehmann (Dresden 1818), „Der praktische Koch“ (Dresden/Leipzig 1819) vom Hofkoch Franz Walcha oder Johann Friedrich Baumanns „Dresdner Koch“ (Dresden/Leipzig 1831) sowie des „Obersächsischen Koch- und Speisenbuchs“ (Leipzig 1794) ergeben jedenfalls ein differenziertes Bild: Einerseits werden die aktuellen Moden Frankreichs aufgegriffen, etwa in der privilegierten Position, die der Bouillon eingeräumt wird. Und dem Carêmeschen Diskurs der durchsystematisierten Grundsaucen wollen sich die sächsischen Köche nicht entziehen, auch wenn der „Dresdner Koch“ selbstbewusst noch eine „Braune Grundsauce“ hinzukomponiert. Doch im Allgemeinen wird in den Texten eher ein Parallelismus angestrebt von französischer, sächsischer, „teutscher“ und der damals noch hochangesehenen englischen Küche. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass in Sachsen und seiner Residenz Dresden vielleicht noch ältere spätbarocke Vorbilder nachwirkten und der seit dem Wiener Kongress ganz Europa in den Bann ziehenden Frankreichmode in gewisser Weise Paroli boten. Da wäre der habsburgische Einfluss des benachbarten Königsreichs Böhmen und Schlesiens ebenso zu nennen wie die prestigereiche polnische Tafel: So waren auf polnische Art mit Bier gemästete Kapaune die Leibspeise von August dem Starken, der ab 1697 auch Rex Poloniae war. Dazu kommt die starke Präsenz italienischer und Graubündner Wein- und Caféstuben in Dresden und ein ausgeprägter Stolz auf die heimische Küche, der vielleicht typisch für Sachsen ist, den „Hort der Schleckerey“ (Carl Friedrich von Rumohr). So scheint das deutsch-französische Kochduell, das sich 1754 Baron Wetzel am Hof der sächsischen Kurprinzessin auf Augenhöhe mit zwei hugenottischen Generälen lieferte, unentschieden ausgegangen zu sein: „Katzengeschrey von Kalbfleisch“ und „Kräutersalat mit Gelbeiern“ konnten mithalten mit „Blanquette von der Pute“ und „Fasanen au Millerot“. Allerdings sei vor voreiligen Schlüssen gewarnt. Auch die französische Küche des Klassizismus huldigt bei ihren Rezeptbezeichnungen einem (Adels-)Internationalismus im Stile Carêmes.

Wie wenig fundiert das werbeträchtige Jonglieren mit französischen Bezeichnungen war, kann man an eigenwilligen Verschreibungen feststellen, etwa der „sauce mogonaise“ für Mayonnaise. Zugleich schmunzeln wir heute über Eindeutschungen wie „Weiße Oehl-Sauce“ oder „in Reichensauce“ für „à la financière“. En passant liefert der Autor eine Fülle von geistreichen Detailbeobachtungen, sei es zur historischen Stellung der Suppe oder des Desserts oder zum Gewürzwandel. Oder Trouvaillen zur Schnitzelkultur: In Brösel und Ei panierte Schnitzel und Koteletts tauchen in diesen sächsischen Kochbüchern offensichtlich früher auf als in Wiener Kochbüchern, wenn auch später als das „Gebachene auf Flamändisch“, das „Urschnitzel“ des Münchner Kochs Jean Neubauer (1774).

Was so gut wie nicht angesprochen wird, ist die angesichts nationalistischer Tendenzen und heraufziehender Erbfeindschaft naheliegende Frage, inwieweit es in Dresden Skepsis oder Vorbehalte gegenüber französischer Küche gegeben hat, wie sie etwa der sächsische Freiherr und Gastrosoph Carl Friedrich von Rumohr mit seiner Kritik an den dekadenten „Nachäffungen“ und Übermischungen“ der französischen Kochkunst äußert.

Mag sein, dass das Forschungsthema, das Studium von Verwaltungsakten und frühen Anzeigen dazu kaum Quellen liefert und das Gastgewerbe die modischen Tendenzen williger aufgriff als kritisierende deutschtümelnde Intellektuelle – es könnte aber auch sein, dass dieser frankophobe Antagonismus eben eher preußisch eingefärbt war und im kulinarisch aufgeschlossenen Sachsen ähnlich wie in Wien und Österreich kaum eine Rolle gespielt hat.

Insgesamt gelingt es dem Verfasser, ein gründlich durchrecherchiertes und von wissenschaftlicher Präzision statt bloßer heimatkundlicher Nostalgie geprägtes Stück Dresden-Literatur zu präsentieren, das zugleich ein wertvolles Mosaiksteinchen bildet, wenn es darum geht, den Aufstieg des Restaurants von der Pariser Institution zum gesamteuropäischen Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft zu dokumentieren. Immerhin erklärten um 1850 noch zwei Drittel der französischen Departements, über keine Restaurants zu verfügen (sondern eben nur über traditionelle „auberges“)! Gerade die Tatsache, dass Speisen à la carte bereits in den 1820ern in Dresden eingeführt wird, belegt somit den übernationalen Rang der urbanen Kultur der Wettiner Elb-Residenz des Königreichs Sachsen. So können auch Leser, die nicht vordergründig mit Dresdner Heimatgeschichte vertraut sind, das Werk als aufschlussreiche Fallstudie der anbrechenden kulinarischen Moderne konsultieren.