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Ralf Stremmel

Industrie und Fotografie. Der „Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation“, 1854-1926

Münster 2017, Aschendorff, 248 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
Rezensiert von Thomas Dupke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 06.07.2018

Bei der Aufarbeitung der Geschichte der Industriefotografie in Deutschland spielt das Historische Archiv Krupp eine bedeutsame Rolle. Mit dem 1994 vom Historiker Klaus Tenfelde herausgegebenen Band „Bilder von Krupp“ [1], in dem Autoren unterschiedlicher Disziplinen sich mit den Verwendungsweisen und dem historischen Kontext der Fotografien aus dem Kruppschen Werk und von der Familie Krupp exemplarisch beschäftigen, und dem 2011 erschienenen Begleitbuch zu einer groß angelegten Fotoausstellung „Krupp. Fotografien aus zwei Jahrhunderten“ [2] konnte das Archiv die Bandbreite seines fotografischen Bestandes präsentieren. Das Historische Archiv Krupp, 1905 gegründet, ist das älteste deutsche Wirtschaftsarchiv und zählt mit seiner familien- und unternehmensgeschichtlichen Überlieferung zu den bedeutendsten Einrichtungen dieser Art. Eine besondere Rolle spielt dabei der fotografische Bestand. Alfred Krupp (1812-1887), der aus einem regionalen Unternehmen einen internationalen Konzern schuf, hatte früh die Bedeutung des Mediums Fotografie erkannt und ließ 1861 eine „Photographische Anstalt“ aufbauen, die spätere „Graphische Anstalt Krupp“. Im großen Maßstab setzte Krupp die Fotografie für Werbung und Dokumentation ein und übernahm so eine Vorreiterrolle für die Etablierung der Werksfotografie in Deutschland. Auch andere Unternehmen bauten fotografische Abteilungen auf, doch selten so konsequent wie Alfred Krupp.

Auch einer seiner Konkurrenten aus dem Ruhrgebiet, der „Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation“, beschäftigte Werksfotografen. Das Unternehmen geht zurück auf die 1842 von Jacob Mayer (1813-1875) mitbegründete Gussstahlfabrik, die 1854 in der neu gegründeten Aktiengesellschaft „Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation“ aufging. Jacob Mayer, der um 1850 den Stahlformguss erfand, blieb technischer Direktor, und Louis Baare (1821-1897) bestimmte als Generaldirektor die Geschicke des Unternehmens, das zu einem integrierten Montankonzern mit Hochöfen, Stahl- und Walzwerken, Hammer- und Presswerken, Zechen und Erzgruben anwuchs und international bekannt war für seine Glocken aus Tiegelstahl. 1926 verlor der Bochumer Verein allerdings seine Selbstständigkeit und wurde in die Vereinigten Stahlwerke integriert.

Das Jahr 1926 stellt denn auch das Schlussjahr des Betrachtungszeitraumes dar, den Ralf Stremmel, der Leiter des Historischen Archivs Krupp und Professor an der Ruhr-Universität Bochum, für sein Buch über die Werksfotografie des Bochumer Vereins gewählt hat. Rund 2500 Aufnahmen sind aus der Gründungszeit bis zur Aufgabe der Selbstständigkeit überliefert. Insgesamt umfasst das Werksarchiv sogar circa 125000 Aufnahmen, die heute im Historischen Archiv Krupp aufbewahrt werden. Der Krupp-Konzern hatte seinen Konkurrenten im Jahr 1965 übernommen, so dass das Werksarchiv des Bochumer Vereins heute Teil des Historischen Archivs Krupp in der Villa Hügel in Essen ist.

Der Bochumer Verein trieb den Bereich der Werksfotografie zwar nicht so energisch voran wie die Konkurrenz aus Essen – eine eigene Werksfotografie richtete der Bochumer Verein erst 25 Jahre nach Krupp, 1886, ein; zuvor waren freie Fotografen beauftragt worden. In jenem Jahr wurde der Neffe des Firmengründers Jacob Meyer, Anton Mauch (1860-1942), mit der Werksfotografie betraut; Mauch war fotografischer Laie, der sich das moderne Medium Fotografie erst in seiner neuen Funktion aneignete. Dennoch gewinnt der fotografische Bestand des Bochumer Vereins gerade durch seine „Normalität“ an Bedeutung. Während die Forschung sich bislang intensiv mit dem „Vorreiter“ Krupp beschäftigte, lenkt Stremmel mit der vorliegenden Arbeit den Blick auf den Normalfall in der deutschen Wirtschaft: „Dass die Bochumer Industriefotografien weniger ‚perfekt‘ sind als die Kruppschen, dass sie weniger aufwendig inszeniert sind, dass sie nicht so massenhaft gestreut wurden – das alles macht sie [...] typischer für die Bildproduktion der Wirtschaft.“ (27)

Dieser „Normalfall“ im Bereich Werksfotografie wird schon durch den verallgemeinernden, aber durchaus paradigmatisch gemeinten Titel „Industrie und Fotografie“ angedeutet. Stremmel regt am Beispiel des Bochumer Vereins eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema Industriefotografie unter Hinzuziehung bildwissenschaftlicher Erkenntnisse an (29). Er bemängelt, dass noch eine Gesamtdarstellung der Industriefotografie fehle, und möchte mit seinem Buch Anhaltspunkte und Anregung für weitere Diskussionen geben. Die Zeichentheorie aufgreifend weist er auf drei Ebenen hin, auf denen Fotografien untersucht werden können: Pragmatik, Syntaktik und Semantik. Er stützt sich dabei auf die Arbeit von Stephan Sensen, der diese Begrifflichkeiten 1993 am Beispiel der Werksfotografie der Gutehoffnungshütte in Oberhausen auf den Bereich der Industriefotografie übertrug [3].

Im Bereich Pragmatik sieht Stremmel die Beziehungen zwischen den Bildern und ihren Produzenten bzw. den Rezipienten. Er stellt die freien und angestellten Werksfotografen des Bochumer Vereins und ihre Arbeitsweisen vor, wobei auch diese wie Werksfotografen anderer Unternehmen keinen individuellen Stil entwickelt haben. Ausschlaggebend für ihre Arbeiten waren technisch-handwerkliche Prämissen; der Wille zur Gestaltung war dem Prinzip präziser Dokumentation untergeordnet (31). Auch die Verwendungszwecke ihrer Arbeiten folgten den gängigen Mustern in anderen Unternehmen. Fotografien dienten im Bochumer Verein drei Hauptzwecken: der externen Kommunikation, die mit Prachtalben oder später mit Druckschriften bei Geschäftspartnern und Politikern zur Werbung und Imagesteigerung beitrugen, der internen Kommunikation, die zum Beispiel in Werkszeitungen die Identitätsstiftung bei den Beschäftigten des Unternehmens unterstützte, aber ebenso Informationszwecken oder einfach der Unterhaltung der Belegschaft diente, und – drittens - als Dokumentationsmittel im Bereich betrieblicher Forschung und Materialprüfung.

Im Bereich der Semantik beschäftigt sich Stremmel mit den Bedeutungen und Themenfeldern der Fotografien. Das Themenspektrum der Bochumer Fotografien verbleibt im klassischen Bereich der Werksfotografie: Innenaufnahmen von Werkshallen, Außenaufnahmen von Gebäuden sowie Fotografien von Maschinen und Produkten. Fotografien der betrieblichen Sozialeinrichtungen entstanden zwar auch, waren aber den anderen Themenfeldern eher untergeordnet. Dies galt noch mehr für die Darstellung des arbeitenden Menschen, der als Staffage oder Größenmaßstab diente.

Im Bereich der Syntaktik, der ästhetische Faktoren wie Bildaufbau und Gestaltung umfasst, führt Stremmel fünf ästhetische Grundmuster ein, die er als typisch für die Bildsprache des Bochumer Vereins erachtet: die Totale, die Erzählung, den Kontrast, die Multiplikation und das Detail. Die Totale ist das klassische Grundmuster der Werksfotografie überhaupt; ausgerichtet an einer mittleren Bildachse versucht der Fotograf einen umfassenden Überblick zu verschaffen, sei es hinsichtlich der Architektur des Werkes, der Struktur der Werkshalle oder der Anordnung von Produkten. Die Erzählung soll mittels der Aufnahmen von Handgriffen und Bewegungen während der Produktion eine Geschichte im Kopf des Betrachters anregen. Durch die Inszenierung eines Arbeitsschrittes soll quasi ein ganzer Ablauf von Produktionsschritten „erzählt“ werden. Das Muster des Kontrastes bezieht sich auf Darstellungen des Größenvergleichs Mensch–Maschine, der Gegenüberstellung von Landwirtschaft und Industrieanlage, von agrarischen Lebensformen und moderner Umwelt. Die Multiplikation zielt auf die Darstellung von Produkten oder auch Maschinen, die – einer Inszenierung gleich – massenhaft aufgereiht oder gestapelt werden. Mit dem Muster des Details umschreibt Stremmel Aufnahmen, die die Funktionsweise einer Maschine oder die Technik eines Arbeitsvorganges darstellen.

Diese bildwissenschaftlichen Überlegungen stellt Stremmel dem eigentlichen Bildteil seines Buches voran, ebenso einen prägnant zusammengefassten Überblick über die Unternehmensgeschichte. In vier darauf folgenden Kapiteln präsentiert Stremmel die thematischen Schwerpunkte der Bildproduktion im Bochumer Verein: Im Kapitel „Der Mensch im Fokus“ werden Aufnahmen mit Beschäftigten, Bilder von sozialen Einrichtungen und Aufnahmen zum Thema Sicherheit und Arbeitsschutz vorgestellt. Im Kapitel „Produktion und Produkte“ konzentriert sich Stremmel auf die Produktionspalette des Bochumer Vereins. Die Herstellung und Verarbeitung von Stahl steht naturgemäß an erster Stelle, dem Produkte wie Glocken, Maschinen und Kanonen folgen. Aber auch die Karriere des Bochumer Vereins als „Eisenbahnfabrik“, die Schienen, Weichen und Waggons, allerdings keine Lokomotiven, herstellte, wird beleuchtet. Das Stahlunternehmen Bochumer Verein entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem Montankonzern, der von der Rohstoffgewinnung bis zum Endprodukt alle Stufen der Fertigung übernahm: Kohlezechen und Eisenerzgruben gehörten also mit zum Unternehmen und wurden entsprechend fotografisch dokumentiert. Doch nicht nur das Hüttenwerk als Zentrum des Stahlunternehmens wird in seiner Bildüberlieferung gezeigt, ein eigenes Kapitel („Im Umkreis der Produktion“) gilt den Hilfs- und Nebenbetrieben, die die Energieversorgung (Gaskraftzentrale, Fernheizzentrale), den Werksverkehr (Werkslokomotiven, Pferdefuhrwerke) und die Materialwirtschaft regelten, sowie den Wissensbetrieben, welche die Verwaltung, die Lehrlingsausbildung, die betriebliche Forschung und Materialprüfung organisierten. Zum Abschluss dieses Kapitels und des Buches überhaupt wirft Stremmel einen Blick über das Werkstor hinaus und stellt die – wenn auch nur sporadisch vertretenen – Fotografien jenseits der Betriebs- und Produktionszusammenhänge vor: Aufnahmen von Präsentationen des Unternehmens auf Industrieausstellungen und Bilder aus dem Bochumer Stadtbild.

Diese Kapitel bzw. Unterkapitel werden in der Regel jeweils mit einem Text eingeleitet, in dem der Autor über das jeweilige Thema informiert und die technik-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Hintergründe zur Belegschaft, den sozialen Einrichtungen, den Produkten und der Stahlherstellung im Bochumer Verein kenntnisreich umreißt. Darüber hinaus geht Stremmel in einem gesonderten Abschnitt auf die Bedeutung der Fotografie in dem jeweiligen Thema ein und verweist explizit auf bestimmte Fotografien, die in dem anschließenden Bildteil zu dem Kapitel folgen.

Die Bilder sind aufwändig im Duplex- bzw. Duoton-Verfahren gedruckt und vermitteln – auch durch ihr Format, welches bis zu Doppelseiten reichen kann – einen plastischen Eindruck. Der Aschendorff Verlag folgt damit einer Publikationslinie, die er schon mit dem Bildband „Mythos Kohle“, in dem der Bildbestand des Bergbau-Archivs Bochum vorgestellt wird, eingeführt hat [4]. Der konsequente Einsatz des Duplex-Verfahrens führt zwar zu einem einheitlichen Erscheinungsbild des Buches, aber auch zu einer kleinen Absonderlichkeit: Auch das einzige aktuelle Bild, eine Aufnahme aus dem Jahr 2015, welches die Lagerung der Glasplatten-Negative des Bochumer Vereins im Historischen Archiv Krupp zeigt, erscheint so als quasi-historisches Bild (28).

Doch diese kleine Abweichung schmälert nicht den positiven Gesamteindruck des Buches, das auch mit seinem Abbildungsverzeichnis vorbildlich die editorischen Standards eines wissenschaftlichen Bildbandes erfüllt. Im Abbildungsverzeichnis werden neben dem Titel der Fotografie, der Datierung und den Fotografen (falls bekannt) auch das fotografische Material (Glasplattennegativ oder Abzug) und das Format genannt.

Ralf Stremmel leistet mit seinem Werk einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Industriefotografie. Indem er Werksfotografie unter den gängigen Bedingungen in deutschen Wirtschaftsunternehmen vorstellt, weitet er den Forschungsblick, der bislang stark auf Vorzeigeunternehmen wie Krupp oder AEG [5] bzw. auf die Auftragsarbeiten bekannter Fotografen wie Albert Renger-Patzsch [6] fokussiert war. Zu Recht versteht Stremmel sein Buch als Diskussionsbeitrag zum Thema Industriefotografie – und die Diskussion ist schon im Gange: Gisela Parak von der Technischen Universität Bergakademie Freiberg hat in ihrer Rezension des Buches [7] bereits kritisch angemerkt, dass Stremmels ästhetische Grundmuster „Totale“, „Erzählung“, „Detail“, „Multiplikation“ und „Kontrast“ mit den Begrifflichkeiten der kunsthistorischen Terminologie zu vergleichen wären. Für den Begriff „Multiplikation“ bringt sie beispielsweise die „Serialität“ ins Spiel. Auch teilt sie Stremmels Forderung nach einer Gesamtdarstellung der Industriefotografie nicht, versteht sie doch darunter den „Wunsch nach einer verbindlichen, vorbildhaften ‚Handreichung‘ im Umgang mit dem Genre ‚Industriefotografie‘“, der methodisch nicht zielführend sei. Sie verweist auf die bereits vorliegenden Theorieansätze aus dem Bereich der Bildwissenschaften und auf den interdisziplinären Ansatz, der schon in Tenfeldes Buch „Bilder von Krupp“ herausgearbeitet worden war.

Doch eine Gesamtdarstellung der Industriefotografie muss keinen Rückschritt gegenüber diesen Forschungsansätzen bedeuten. Reinhard Matz‘ Überlegungen und Analysen zum Thema Industriefotografie [8], die zur Grundlage fotohistorischer Betrachtungen wurden, sind inzwischen über dreißig Jahre alt. Sie beeinflussten zahlreiche Arbeiten und Ausstellungen zum Thema Industrie- und Werksfotografie. Meines Erachtens ist es nach drei Jahrzehnten an der Zeit, die bislang gesammelten Forschungsergebnisse zum Thema Industriefotografie in Gänze zu betrachten und auf den Prüfstand zu stellen - in einem interdisziplinären Austausch, in dem Theorie und Einzeluntersuchungen von fotografischen Beständen verbunden und Erkenntnisse aus den Bereichen von Bildwissenschaft und Fotografiegeschichte, von Technik-, Wirtschafts- und Lokalgeschichte gewichtet und eingeordnet werden – sei es auf einer Tagung oder mit dem Versuch einer Gesamtdarstellung. Ralf Stremmels Arbeit über den Bochumer Verein stellt einen bedeutsamen Beitrag auf diesem Weg dar.

 

[1] Vgl. Klaus Tenfelde (Hg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter. München 1994.

[2] Vgl. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung (Hg.): Krupp. Fotografien aus zwei Jahrhunderten. Berlin/München 2011.

[3] Vgl. Stephan Sensen: Fotografie für die Industrie: Das Beispiel Gutehoffnungshütte 1864-1992. In: Akkumulation Nr. 3 (1993), S. 1-6.

[4] Vgl. Michael Farrenkopf: Mythos Kohle. Der Ruhrbergbau in historischen Fotografien aus dem Bergbau-Archiv Bochum. Münster 2009.

[5] Vgl. Lieselotte Kugler (Hg.): Die AEG im Bild. Berlin 2000.

[6] Vgl. Albert Renger-Patzsch. Industriefotografien für Schott. Industrial photographs for Schott, hg. v. Schott AG in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe/LWL-Industriemuseum. Weimar 2011.

[7] Vgl. Gisela Parak: Rezension zu: Stremmel, Ralf: Industrie und Fotografie. Der „Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation“, 1854–1926. Münster 2017. In: H-Soz-Kult, 21.12.2017, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-28073.

[8] Vgl. Reinhard Matz (Hg.): Industriefotografie. Aus Firmenarchiven des Ruhrgebiets (Schriftenreihe der Kulturstiftung Ruhr 2). Essen 1987.