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Aktuelle Rezensionen


Thorsten Benkel (Hg.)

Die Zukunft des Todes. Heterotopien des Lebensendes

(Kulturen der Gesellschaft 15), Bielefeld 2016, transcript, 367 Seiten mit Abbildungen, meist farbig
Rezensiert von Jane Redlin
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2018

Die vorliegende Publikation beschäftigt sich mit zwei ambitionierten Themen. Zum einem mit der Analyse aktueller Tendenzen der Entwicklungen der Bestattungs- und Trauerkultur und ihrem prognostischen Potenzial. Zum anderen mit dem Versuch, die Theorie von Michel Foucault auf bereits bekanntes, aber auch neu erhobenes Forschungsmaterial anzuwenden und es auf seine heterotopische Komponente hin zu befragen. Der Herausgeber begründet dieses Anliegen so: „Andererseits trägt die heterotopische Komponente dazu bei, Thanatophänomene aus einer verräumlichenden Perspektive zu betrachten, denn Sterben, Tod und Trauer haben ihre Orte, die ihnen entweder temporär oder immerzu gewidmet sind bzw. für sie beansprucht werden.“ (8)

Siebzehn Autoren und Autorinnen haben sich dieser Aufgabe gestellt, mit unterschiedlichem Erfolg. Dies verwundert nicht, stellt die Theorie von Foucault nicht nur diese Autoren vor große Herausforderungen. So meldet bezeichnenderweise gerade Doris Lindner, die sich am intensivsten und konsequentesten um ihre Anwendung bemüht hat, Zweifel an, ob dieser theoretische Zugang überhaupt für die Materialanalyse geeignet ist. Im Folgenden sollen einige wenige Überlegungen der Autoren benannt werden, um einen Eindruck ihres Zugangs zum jeweiligen Themenkomplex zu vermitteln.

Die fünfzehn vorliegenden Beiträge wurden den drei Themenbereichen „Sterbediskurse“, „Tod im Wandel“ und „Verräumlichungen“ zugeordnet. Ihnen steht der einleitende Aufsatz zur „Symbolischen Präsenz. Der Status der Identität nach dem Ende der Identität“ von Thorsten Benkel voran. In ihm spricht der Autor von der Aufsplitterung und individualisierten Aneignung bei der Form und Gestaltung der persönlichen Beschäftigung mit dem eigenen Sterben und Abschiednehmen als Ergebnis gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Die Zukunft des Todes sieht er in der Pluralität des Todes und plädiert dafür, von verschiedenen Zukunften des Todes auszugehen. Es fallen Basis-Schlagworte der Sepulkralforschung wie Tabuisierung, Abschied von den religiösen Traditionen, Neubesinnung auf das Individuum und Zunahme individueller Gestaltungspotenziale.

Die „Sterbediskurse“ leitet Peter Fuchs mit seinem philosophierenden Beitrag „Wie nicht von Tod reden“ ein. Darin kommt er unter anderem zu dem Schluss, dass man „nicht nicht“ vom Tod reden kann und formuliert die These, dass der Tod „zu einer Letztontologie der Moderne“ wird (56).

Stephanie Stadelbacher und Werner Schneider analysieren in „Zuhause Sterben in der reflexiven Moderne. Private Sterbewelten als Heterotopien“ die Vorstellungen des Sterbens im gewohnten privaten Umfeld als gutes Sterben, verstanden als Gegenpol zur Hospitalisierung. Sie decken deren utopischen Charakter auf, denn auch der private Raum wird nach Foucault zu einer „Krisenheterotopie“, da die Krise als grundlegender Bestandteil des sozialen Todes existent bleibt und das Zuhause im Sterben seinen ursprünglichen Charakter als Ort der Erhaltung des Privaten und Selbstbestimmten verliert.

Einem anderen spezifischen Ort des Sterbens wendet sich Doris Lindner zu – dem Hospiz. Unter dem programmatischen Titel „Einschluss der Ausgeschlossenen. Konturen des Sterbens im Hospiz“ befragt sie diesen besonderen Ort, der im foucaultschen Sinn durchaus als ein hybrider Unort verstanden werden kann. Beim Hospiz geht es um die Schaffung neuer Räume, auf der Grundlage neuer Sinnhorizonte. Dabei wird das Hospiz zum Ort von Verheißung und zum Hoffnungsträger, das Sterben bis zum Schluss leben zu können.

Der Sterbeort bei Birgit Richard und Birte Svea Philippi ist weniger real. In ihrem Beitrag „Jugendliche Todesbilder bei flickr.com“ geht es um die bildliche Selbstinszenierung Jugendlicher im digitalen Raum im Kontext von Sterben, Tod und Totenbildern. Dafür analysieren beide Autorinnen die seit 2004 existierende Internetplattform flickr.com und entwerfen eine Typologie der jugendlichen Todesdarstellung.

Etwas problematisch stellen sich die unter dem Obertitel „Tod im Wandel“ zusammengeführten Beiträge dar, misst man sie an den im Vorwort angekündigten neuen Fragestellungen. Hier findet sich häufig wenig Neues. Das gilt insbesondere für den Aufsatz „Tod und Masken“ von Susanne Regener, aber auch für Matthias Meitzlers „Postexistenzielle Existenzbastelei“, in dem er sich zum Wandel zeitgenössischer Friedhöfe zwischen Individualisierung und Entindividualisierung äußert. Das Zukunftspotenzial von Norbert Wichard und Dirk Preuß beschränkt sich auf einen moralischen Appell an verantwortliche Institutionen, sich den neuen sozialen Forderungen bei den Sozial- und Ordnungsamtsbestattungen sowie bei Tierbestattungen zu stellen.

Kathleen Warnhoffs analytischer Versuch, in „Tanzt der Tod jetzt aus der Reihe?“ die Theorie von Jean Baudrillard auf ihr utopisches und dystopisches Potenzial für einen Zukunftsdialog zum Tod zu befragen, endet mit einer Absage, da die hiesige Gesellschaft die dafür notwendige Beschäftigung mit dem realen Tod verweigere.

Der dritte Themenkomplex „Verräumlichungen“ führt schließlich wieder auf Sterbe- und Trauerräume zurück und stellt erneut die Fragen nach Zukünftigkeit und Andersortigkeit. Norbert Fischer tut dies in seinem, dem dritten Komplex mit Recht vorangestellten Aufsatz „Der entfesselte Friedhof. Über die Zukunft von Bestattungs- und Erinnerungsorten“ mit einer Vielzahl visionärer Blicke. Der neue Friedhof des 21. Jahrhunderts ist für ihn geprägt durch die wachsende Diversität von Grabanlagen, quasi die Entstehung von Miniaturlandschaften der Trauer, die Abbild einer zunehmenden Individualisierung und erlaubten Visualisierung von Identitäten sind. Darüber hinaus entwickelt sich der Friedhof zukünftig zur ökologischen Nische für Mensch und Tier. Eine wesentliche Innovation sieht Norbert Fischer in der Entgrenzung dieses traditionell umgrenzten Ortes der Trauer, hinein in die freie Landschaft und den digitalen Raum, die er als Erweiterung, nicht als Ablösung des historischen Kanons sieht.

Die nachfolgenden Autoren führen beispielhaft aus, was Norbert Fischer als individualisierte, aufgefächerte und entgrenzte Miniaturlandschaften der Bestattung und Trauerorte benennt. Zum Beispiel Julia Böcker, wenn sie in „Frühe Tode. Verräumlichungen der Trauer um Ungeborene“ die neue Verortung der Trauer um Frühgeburten unter 500 g in speziellen Grabanlagen als Ort der Zusammenführung von gleichermaßen Betroffenen, als umgesetzte Utopie einer gelingenden Abschiednahme beschreibt. Auch den Aufsatz von Dirk Preuss „Zeus(‘) Platz! Die Zukunft des toten Heimtieres“ kann man als ein eingefordertes, öffentlich manifestiertes Recht auf Trauer lesen. Anke Offerhaus‘ Gedanken betreten in „Begraben im Cyberspace“ den virtuellen Friedhof und damit einen neuen, entgrenzten Ort der Trauer mit besonders hohem Zukunftspotenzial.

Resümierend kann man mit den Worten der Mitautorin Doris Lindner sagen: „Ein Versuch bleibt dieses Unterfangen allemal, denn jeder Rückgriff auf die Heterotopologie ist ein kühnes Unterfangen, hat Foucault doch lediglich eine bruchstückhafte Theorie vorgelegt, deren Offenheit wohl gleichzeitig ihre größte Kritik ist.“ (87) Ein mutiger Versuch, der es wert ist, unternommen worden zu sein.