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Stephanie Sommer

Postsozialistische Biografien und globalisierte Lebensentwürfe. Mobile Bildungseliten aus Sibirien

Bielefeld 2016, transcript, 344 Seiten
Rezensiert von Karin Lahoda
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2018

Stephanie Sommer hat unter dem Titel „Postsozialistische Biografien und globalisierte Lebensentwürfe. Mobile Bildungseliten aus Sibirien“ ihre Doktorarbeit publiziert. Auf ca. 300 Seiten entwickelt sie ihr Thema, basierend auf empirischem Material und angereichert um eine Vielzahl von theoretischen Konzepten und Begriffsdiskussionen, wobei sie den Text in drei klare Teile gliedert. Nach der Zielsetzung und ersten Grundlegungen beschäftigt sich die Autorin mit dem (post-)sozialistischen Erbe einer neuen Generation, anschließend geht sie in Teil III genauer auf postsozialistische Lebensformen im Kontext der Globalisierung ein.

Ihr untersuchtes Sample besteht aus einer „multi-lokalen Personengruppe ehemaliger Jurastudierender aus Krasnojarsk in Sibirien“ (25); konkret handelt es sich um zwölf Personen, die über ein DAAD-Stipendium die Möglichkeit erhalten hatten, einen Auslandsaufenthalt an der Universität Passau zu absolvieren, und die nach Abschluss des Studiums verschiedene Lebens- und Berufswege in Russland und Deutschland eingeschlagen haben. Die Samplewahl ist mitunter diffizil, da es sich um Personen handelt, die der Autorin bereits zuvor über das Studium in Passau bzw. privat bekannt waren und zu denen Stephanie Sommer durchaus intensive außerforscherische Kontakte pflegt. Allerdings ist sich die Autorin dessen bewusst und reflektiert die Umstände ausführlich. Darüber hinaus erhält der Leser/die Leserin auch einen gelungenen Einblick in den Feldalltag in Krasnojarsk, Moskau und St. Petersburg, denn über die Forschungsaufenthalte berichtet Sommer (64–68) offen und spricht von den Herausforderungen sowie der „Angst der Forscherin im Feld“ (64).

Ebenso ausführlich wie die Darlegung des Forschungskonzeptes und der Sampleauswahl fallen die methodischen Erläuterungen aus. So arbeitete Sommer für die Erhebung mit der teilnehmenden Beobachtung, einer Kombination aus narrativen und leitfadengestützten Interviews sowie ergänzend Mental Maps und Online-Beobachtungen. Als Auswertungsmethodik wird eine Kombination aus Grounded Theory, Hermeneutik und qualitativer Inhaltsanalyse angeführt.

In Teil II befasst sich Stephanie Sommer mit dem (post-)sozialistischen Erbe einer neuen Generation, zu der auch ihr Sample zu zählen ist. Folgerichtig problematisiert sie die Kategorien sozialistisch und postsozialistisch, vor allem da sich die untersuchten Personen selbst durchaus noch mit dem Sozialismus verbunden fühlen und sich als Zwischengeneration verstehen. Die Autorin beleuchtet damit nicht nur den Blick und die Einordnung von außen als „postsozialistisch“, sondern zeigt auf, wie die betroffenen Personen dies selbst – und vor allem anders – wahrnehmen. Außerdem erläutert sie den offiziellen Umgang mit der sowjetischen/russischen Geschichte verschiedener Zeitschnitte sowie dessen Wendungen und legt demgegenüber die subjektiven Vorstellungen und Erinnerungen des Samples dar. Immer wieder hat Sommer mit Begriffsproblematiken zu kämpfen, welche sie jedoch thematisiert, so zum Beispiel in Bezug auf den Begriff „Trauma“ (143–148), der „nur in Ermangelung anderer geeigneter Begrifflichkeiten herangezogen wird“ (147).

Im dritten Teil werden Aspekte der Globalisierung, der Mobilität, des Kulturtransfers sowie von Wandlungsprozessen in den Fokus genommen. Auch hier werden zentrale Begriffe, wie Globalisierung, kurz verortet und auf bestehende Probleme hingewiesen. Diskrepanzen, die Stephanie Sommer versucht durch Begriffseinführungen und -reflexionen zu beheben, lassen sich trotz allem im Text nicht immer erfolgreich von der theoretischen Diskussion in die eigene Anwendung am empirischen Material transferieren. So bleiben Fragen um nationale Verortungen und Zuschreibungen in der vorliegenden Arbeit nach wie vor bestehen; zwar argumentiert Sommer, mit „innerer Globalisierung“ die Problematik der „Glokalisierung“ zu überwinden und gerade nicht auf bestimmte Orte zu fokussieren, in denen das Globale auf das Lokale trifft, sondern „die Veränderung der Lebensentwürfe der Mitglieder meiner Untersuchungsgruppe durch die Erweiterung ihres Erfahrungshorizonts“ zu beleuchten (171), allerdings werden geografische Bezüge und vereinzelt recht statische nationale Bilder von Russland bzw. Deutschland präsentiert, ohne diese tiefergehend in den Blick zu nehmen.

Die Textpassagen zu Mobilitäten und vor allem zu „Transportlandschaften“ – die Sommer von Arjun Appadurais „technoscapes“ ableitet (230) – sind sehr konkret gehalten und vermitteln anschaulich, wie diese Themenfelder sich im untersuchten Sample exemplarisch darstellen. Beim Thema Vernetzung wird auch die Russlandspezifik sozialer Netzwerke deutlich erklärt und so für den Leser nachvollziehbar (247) und das Ansprechen national-kultureller Aspekte aus dem Interviewmaterial und dessen Reflexion (259) im Kapitel „Ein Netz aus Gleichgesinnten als ‚kleine Heimat‘ in der Fremde“ gibt einen wichtigen Einblick in Vorstellungen bzw. Einstellungen der untersuchten Personen, zu denen man gerne noch mehr lesen möchte. Gegen Ende der Arbeit werden weitere Felder der Alltagswelt, wie das Wohnumfeld und Kleidung, angeschnitten, über die ebenfalls ein genauerer Zugang in die Lebenswelten des Samples eröffnet wird. Das abschließende Fazit fasst die vorherigen Kapitel ganz knapp zusammen, wie die Autorin am Ende selbst resümiert, offenbaren sich spannende Ansätze im Forschungsfeld, die in unterschiedlicher Weise weiter zu vertiefen sind.

Allgemein sind für den Leser/die Leserin die Querverweise auf vorherige oder folgende Kapitel mit Themenbezügen angenehm, wodurch ein Vor- und Zurückgreifen in der Arbeit erleichtert wird und sich die Komplexität der Materie ein weiteres Mal verdeutlicht. Zwischendurch gibt die Autorin der Leserschaft immer wieder prägnante Zusammenfassungen des Erarbeiteten an die Hand. Die an einzelnen Stellen verwendeten Verweise auf Wikipedia irritieren, sollte es doch beispielsweise zum „Eisernen Vorhang“ (20) fundierte wissenschaftliche Nachschlagewerke geben, die stattdessen hätten herangezogen werden können. Ansonsten arbeitet Stephanie Sommer mit einer Fülle an Literatur mit ausladender thematischer Bandbreite. Die Autorin hat sich merklich intensiv mit ihrer Forschungsthematik beschäftigt und sich ein breites Wissen darüber angeeignet. Die Publikation vermittelt weniger einen vertiefenden, ganz spezifischen Einblick als vielmehr einen breiten Überblick über Facetten postsozialistischer Biografien und globalisierter Lebensentwürfe eines konkreten Samples junger, akademisch gebildeter, mit internationaler Auslandserfahrung ausgestatteter Erwachsener.