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Bernd Wedemeyer-Kolwe

Aufbruch! Die Lebensreform in Deutschland

Darmstadt 2017, Philipp von Zabern, 208 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Florian G. Mildenberger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2018

Seit den 1990er Jahren steht die „Lebensreform“ im Zentrum kultur- und gesellschaftshistorischer Forschungsanstrengungen in Deutschland, ohne dass genau definiert wäre, was darunter zu verstehen sei. Hier setzt das Buch des in Göttingen lehrenden Volkskundlers und Sporthistorikers Bernd Wedemeyer-Kolwe an. In fünf Kapiteln, denen eine Einleitung, ein Fazit und ein rund 40 Seiten umfassender bibliographischer Apparat beigeordnet sind, stellt der Autor Forschungsstand, Definitionsprobleme und die vier seiner Ansicht nach zentralen Betätigungsfelder vor, die Lebensreform ausmachten: Ernährung, Naturheilkunde, Körperkultur und Siedlung.

Wedemeyer-Kolwe schildert zunächst den schwierigen Weg der historiographischen Aufarbeitung. Den Startschuss gab 1974 Wolfgang Krabbe mit seiner Studie zur Lebensreform [1]. Es folgten zahlreiche weitere Publikationen, die ihren vorläufigen Höhepunkt in dem zweibändigen Katalog zur Ausstellung „Die Lebensreform“ (2001) auf der Mathildenhöhe in Darmstadt fanden [2]. Die meisten Autoren erkannten zwar, dass die Lebensreform eine individuelle beziehungsweise kleine Gruppen umfassende Anstrengung zur Perfektionierung des eigenen Selbsts war, die auf eine Erzwingung des Glücks mittels einer Revolution verzichtete. Jedoch blieb lange ungeklärt, was die Kernpunkte einer solchen Hinwendung zur persönlichen Vervollkommnung sein könnten. In Abgrenzung zur Großstadt spielte stets die Besinnung auf „natürliche“ Lebensweisen eine große Rolle. Doch hier begann schon ein Problem, sowohl für Zeitgenossen als auch spätere Historiker, wie der Autor herausarbeitet. Die „Natur“ an sich war undefiniert und es war unklar, wer überhaupt berechtigt sein konnte, sich von der vorgeblich ungesund lebenden Masse abzuheben. Alsbald mischten sich völkische Gedanken in das vage Konzept der Reform von Körper und Geist hinein. Die Idee einer elitären Führungselite, welche die übrigen Angehörigen eines Volkes auf einen „natürlichen“ Weg lenkte, funktionierte auch deshalb so gut, weil tatsächlich eine kleine Zahl von Stichwortgebern auf Ernährungsreformer, Naturheilkundige, Gegner der Stadt oder Muskeltrainer einwirkte: der Maler Fidus mit seinen wirkmächtigen Bildern, der Gymnastiklehrer Rudolf Bode oder der Kreis vom „Monte Verita“. So entstand früh der Eindruck, Lebensreform sei der Nukleus eines Konzepts von „Führer und Gefolgschaft“.

Wedemeyer-Kolwe macht deutlich, dass selbst ein scheinbar geschlossenes Konstrukt wie „Ernährung“ nach vielen Seiten offen war. Es wirkten nicht nur „Kohlrabiapostel“ mit, sondern Wissenschaftler, die mit der naturwissenschaftlichen Ernährungslehre nicht einverstanden waren, aber auch religiöse Freigeister, die im Vegetarismus den Schlüssel für eine neue Welt sahen. Es gab Enthusiasten, die die Versorgung mit Vegetabilien selbst in die Hand nahmen, wie die Mitglieder der „Obstbausiedlung Eden“ bei Oranienburg, aber ebenso viele andere Reformprojekte, in deren Tätigkeit die gesunde Ernährung zwanglos einfloss. Bereits um 1910 hatte sich eine Dienstleistungskultur von Reformhäusern und vegetarischen Gaststätten entwickelt, deren Gedeihen erahnen lässt, wie interessiert Teile der Öffentlichkeit Konzepte der gesunden Ernährung aufnahmen. Eng verbunden mit der Selbstoptimierung durch fleischlose Ernährung war die Idee der Krankheitsvorbeugung durch Anwendung von Heilmitteln, die direkt aus der Natur kamen: kaltes Wasser, Sonnenlicht oder Massage durch den kundigen Heiler. Ziel war stets die Stärkung von Selbstheilungskräften und implizit war die Kritik an der ungesunden Lebensweise in den Städten. Krankheitsvorbeugung bedeutete auch sportliche Aktivitäten und hier kreuzten sich Ertüchtigungstraditionen von „Turnvater Jahn“ und Naturentdeckungsphantasien großstadtmüder Lebensreformer. Insofern war hier der Zuspruch besonders groß, aber auch die Bereitschaft, neue Körpertechnologien zu integrieren: Yoga, FKK und gymnastische Tänze. Die Überhöhung des nackten Körpers rief sowohl Sittenschützer als auch völkische Träumer auf den Plan, die hier die Möglichkeit zur Schaffung einer „neuen Rasse“ im Hier und Jetzt sahen. Doch Turnübungen ließen sich in einem Stadtpark durchführen, die gesunde Ernährung wurde zuhause gewährleistet und für ein Kneippbad genügte ein kurzer Ausflug in eine Badeanstalt – sah so die Verwirklichung lebensreformerischer Träume aus? Das war allenfalls ihre massenkompatible Variante. Wer wirklich Lebensreform leben wollte, der musste die Stadt dauerhaft verlassen und sich sein eigenes Paradies erarbeiten. Zahlreiche Theoretiker diskutierten ab 1900 Siedlungspläne, autarke kleine Organismen im Daseinskampf. Doch wirklich umgesetzt wurden diese Konzeptionen nur in Einzelfällen. Es bedurfte einer Mischung aus Alternativlosigkeit und eisernem Willen, um tatsächlich dauerhaft „Lebensreform“ konsequent zu leben, zum Beispiel die Kölner Familie Wittmer auf der Galapagosinsel Floreana (1931-2000) oder die FKK-Siedlung Klingberg (1903-1981). Letztendlich blieben von allen Strömungen nur Bruchstücke, die in unterschiedlichen Varianten, aber losgelöst von damaligen Ideologien, bis heute überdauert haben: Eden-Honig, Reformhausmüsli, Nacktkultur oder „Jesuslatschen“. Im Ganzen handelt es sich weiterhin um Projekte, die vor allem vom Bildungsbürgertum und den Angestellten präferiert werden, um sich von der Masse abzuheben. Zumindest dieser Teil des alten Erbes hat sich erhalten.

Kritisch ist anzumerken, dass Wedemeyer-Kolwe zu keiner Zeit den eigenen Standpunkt des scheinbar aufgeklärten Historikers, der sich im Kontext früherer Forschungen bewegt, hinterfragt. Die Erforschung der Lebensreform setzte in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren im Kielwasser einer betont „linken“ Ökoströmung ein. Viele vormals dem Nationalsozialismus aufgeschlossen gegenüberstehende ältere Akteure konnten dennoch einen Platz finden. Eventuell war die gesamte „Lebensreform“ mit ihren Nebenströmungen politisch höchst ambivalent und erst in Kenntnis der Ereignisse nach 1933 wurden von Historikern Abgrenzungen und Strategien definiert, die den eigentlichen Akteuren niemals in den Sinn gekommen waren.

Hinzu kommen einige weitere Punkte: Im Zusammenhang mit der Naturheilkunde fehlen Hinweise auf den bedeutendsten Streitpunkt zwischen Naturheilern und Ärzteschaft, der bis heute nachwirkt: die Impfdebatte. Daneben wäre ein zumindest kurzer Hinweis auf die sozialistischen Varianten der Naturheilkunde sinnvoll gewesen. Denn gerade im Bereich der Krankheitsvorbeugung waren revolutionäre politische Vorstellungen nicht fern, wie sich dann auch im Nationalsozialismus zeigen sollte. Im Kontext der Körperkultur wird der Zionismus seltsamerweise nicht erwähnt, obwohl in dessen Körperkonzept alles zusammenfloss, was die deutsche Lebensreform an asexuellem Gedankengut produzierte. Im Gegensatz zu den Projekten in Deutschland war den Zionisten immerhin die Verwirklichung ihrer Ideen in Teilen und schichtenübergreifend vergönnt.

Auch fehlt jeder Hinweis auf Entwicklungen außerhalb Mitteleuropas. Der Traum von autarker Produktion, gepaart mit neuen Familienkonzepten, Nacktkultur und Naturheilkunde wurde beispielsweise bereits 1848 bis 1881 in Form der „Oneida Community“ in den USA gelebt [3]. Erstaunlich ist, dass Wedemeyer-Kolwe die Beziehungen zur Sexualreformbewegung allenfalls streift. So lässt sich schlussendlich zusammenfassen, dass der Autor um den Preis einer Straffung und Definition des Begriffs „Lebensreform“ an einigen Stellen sich etwas knapp ausdrückt. Gleichwohl handelt es sich bei dem vorliegenden Werk um ein in höchstem Maße verdienstvolles, quellengesättigtes und lesefreundlich aufbereitetes Einführungswerk. Der umfangreiche bibliographische Apparat lädt zu weiteren Studien ein und das Personenregister erleichtert den Zugang.

 

[1] Wolfgang Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im neunzehnten Jahrhundert 9). Göttingen 1974.

[2] Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann u. Klaus Wolbert (Hgg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde. Darmstadt 2001.

[3] Ellen Wayland-Smith: Oneida. From Free Love Utopia to the Well-Set Table. London 2016.