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Edith Hessenberger

Alte Neue TelferInnen. Migrationsgeschichten und biografische Erinnerungen. Mit Fotografien von Michael Haupt, Gedichten von Ulrike Sarcletti und einem historischen Beitrag von Stefan Dietrich

(Studien zu Geschichte und Politik 18), Innsbruck/Wien/Bozen 2016, StudienVerlag, 184 Seiten mit Abbildungen, überwiegend farbig
Rezensiert von Verena Lorber
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2018

Das Buch mit dem Titel „Alte Neue TelferInnen“ beschäftigt sich mit der Migrationsgeschichte der Stadt Telfs, einer Marktgemeinde im Bezirk Innsbruck-Land im Bundesland Tirol. Grund für die Auseinandersetzung mit dem Thema ist die Tatsache, dass Zu- und Abwanderungen seit jeher kennzeichnend für die Geschichte der Region waren, diese aber kaum Eingang in die Geschichtsschreibung fanden und somit nicht Teil der regionalen Identität sind. Zwar kann in den letzten Jahren ein Anstieg an Forschungsarbeiten und -projekten, mit dem Ziel Migrationsgeschichte(n) im kollektiven Gedächtnis und der nationalen Geschichtsschreibung zu verankern, festgestellt werden, dennoch besteht nach wie vor Nachholbedarf [1]. Aus diesem Grund ist das vorliegende Buch als ein wichtiger Beitrag zur Sichtbarmachung von Migrationsbewegungen in Tirol mit dem Fokus auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts einzuordnen.

Anhand von 20 Biografien von Menschen, die nach 1945 nach Telfs migrierten, wird auf die Heterogenität der Telfer Bevölkerung verwiesen. Aktuell leben Personen aus insgesamt 84 Nationen in der Marktgemeinde und der Anteil an AusländerInnen liegt mit knapp 17 Prozent über jenem des Tiroler Gesamtdurchschnitts (10). Telfs war aufgrund seiner Funktion als Gerichtssitz, Verkehrsknotenpunkt sowie Handels- und Transitort stets mit Wanderungsbewegungen konfrontiert. Spannend dabei ist, dass frühere Migrationen gut dokumentiert, jene, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts betreffen, hingegen nur marginal erfasst sind. Vielfach wurden Akten und Dokumente zu diesem Abschnitt der Migrationsgeschichte vernichtet, weswegen lebensgeschichtliche Interviews und Egoquellen oftmals die einzige Möglichkeit darstellen, diesen Teil der Telfer Geschichte zu rekonstruieren. Aus diesem Grund wählt Edith Hessenberger einen biografischen Zugang zur Erschließung der Migrationsgeschichte(n) der „neuen und alten TelferInnen“.

Im Rahmen eines Projektes zur Dokumentation der Heterogenität von MigrantInnen und ihrer Erfahrungen wurden 2013 insgesamt 30 biografische narrative Interviews geführt. 20 dieser audio- und videodokumentierten Interviews wurden ausgewählt und bilden den Hauptteil der vorliegenden Publikation. Dabei werden die Biografien unabhängig von sozialen, politischen oder gesellschaftlichen Positionen der Interviewten einander gegenübergestellt und in einem abschließenden Resümee nach thematischen Gesichtspunkten zusammengefasst. Ziel der Autorin ist es, einen Querschnitt der vielfältigen Migrationsbiografien abzubilden, um „die Chancen und auch die Grenzen, die diese Menschen erfahren haben, ein wenig kennenzulernen“ (38). Die InterviewpartnerInnen stammen aus zwölf verschiedenen Ländern – sechs aus der Türkei, zwei aus Deutschland, zwei aus Bosnien und Herzegowina, zwei aus Südtirol/Italien und jeweils eine Person aus Irland, England, Dänemark, Norwegen, Schweden, Slowenien, Bulgarien und Kroatien [2]. Zur Orientierung werden die Lebenserinnerungen mit einem kurzen Überblick über die Migrationsgeschichte, dem Geburtsjahr und -ort eingeleitet und durch Fotografien der Personen in ihren aktuellen Lebenskontexten eingerahmt. Die Biografien sind nach Geburtsjahren der „neuen alten TelferInnen“ gegliedert, was meines Erachtens ein Manko der Studie darstellt. Eine Reihung nach geografischer Herkunft oder dem Jahr des Zuzugs nach Telfs würde den Vergleich der Erfahrungen erleichtern. Auch nach welchen konkreten Kriterien die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte, erschließt sich den LeserInnen nicht ausreichend [3].

Anknüpfend an aktuelle Forschungstendenzen, werden die ausgewählten Personen als handelnde Subjekte im Migrationskontext dargestellt, indem ihre Lebensgeschichten aus ihrer Perspektive und mit ihren Worten wiedergegeben werden. Dabei schildern die interviewten Personen in ihren Erzählungen nicht nur positive Erfahrungen, wie zum Beispiel bessere Verdienstmöglichkeiten in Telfs, sondern erzählen auch von Ablehnungs- und Diskriminierungserfahrungen oder von den Erfahrungen, die Ehepaare unterschiedlicher Herkunftskontexte in ihrem Alltag machen. Diese Innensicht eröffnet den LeserInnen Einblicke in die heterogenen Lebenswelten von MigrantInnen, welche zu einem tieferen Verständnis von Migrationsprozessen beitragen und die Vielfalt der Telfer Bevölkerung aufzeigen.

Die Bandbreite der Migrationskontexte reicht von Südtiroler OptantInnen über ArbeitsmigrantInnen sowie Personen, die aus Liebe nach Telfs kamen und hier ihren neuen Lebensmittelpunkt fanden. Auch hinsichtlich ihres Berufs unterscheiden sich die Personen. Hingegen teilen alle Personen die Erfahrung, dass Telfs im Laufe der Zeit zu ihrem neuen Lebensmittelpunkt wurde. In den Lebensberichten kommen die unterschiedlichen Migrationserfahrungen deutlich zum Ausdruck, weswegen die abschließende thematische Analyse von Hessenberger eine gute Zusammenschau der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Migrationsbiografien bietet - auch wenn diese etwas mehr in die Tiefe gehen und aktuelle Erkenntnisse der Migrationsforschung aufgreifen könnte. Die Analyse orientiert sich stark am „push-pull“-Modell und verzichtet beispielsweise auf eine transnationale Betrachtungsweise der Migrationsbiografien bzw. nimmt auf neuere Forschungsansätze wie zum Beispiel die Bedeutung von Netzwerken für MigrantInnen kaum Bezug. Die mikrogeschichtliche Erfassung der Lebenswelten von MigrantInnen wird dabei nicht in einen globalen Migrationskontext eingebunden.

Durch die historische Einführung von Stefan Dietrich erhalten die LeserInnen einen guten Überblick über den geschichtlichen Verlauf von Zu- und Abwanderungsbewegungen in der Region. Dabei versucht der Autor, auch aktuelle Diskurse und das in den Medien vermittelte Bild von MigrantInnen als „Bedrohung“ kritisch zu hinterfragen. Allerdings reproduziert er diese Bilder an manchen Stellen selbst. „In den letzten Monaten des Krieges ergoss sich schließlich eine wahre Flut von Menschen in die Gemeinde“ (33), womit Dietrich den LeserInnen Migration als Naturkatastrophe vermittelt. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, auch in diesem Beitrag des Buches eine gendergerechte Sprache zu verwenden, die ansonsten durchwegs vorhanden ist. Nicht nur weil es sich dabei um einen wissenschaftlichen Standard handelt, sondern auch um aufzuzeigen, dass Frauen - wie lange Zeit in der Migrationsforschung ausgeblendet - immer aktiv an Migrationsbewegungen beteiligt waren und es auch heute noch sind. Eine Tatsache, die auch die ausgewählten Biografien deutlich abbilden. Davon abgesehen, liefert die historische Einführung viele neue und interessante Fakten und fokussiert sich nicht ausschließlich auf die Zuwanderung in die Region, sondern verweist auch auf die zahlreichen Auswanderungsbewegungen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die formulierten Ziele der Publikation gut eingelöst werden. Nicht nur die Geschichten jener Menschen, die bislang marginalisiert wurden, werden in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch ihre Erfahrungen, Erlebnisse und Wahrnehmungen werden mit ihren Worten dargestellt. Es geht dabei darum, wie jene Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen, welche Schwerpunkte sie setzen und was sie als relevant erachten. Damit leistet die Publikation einen wichtigen Beitrag dazu, Migrationsgeschichte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und nachhaltig im kollektiven Bewusstsein zu verankern. Indem der Fokus auf den Migrationserfahrungen der „Alten Neuen TelferInnen“ liegt, wird nicht nur die Heterogenität der BewohnerInnen der Marktgemeinde, sondern auch die Individualität der Migrationserfahrungen sichtbar.

 

[1] Sparkling Science Projekt „Spurensuche. Hall in Bewegung. Feldforschung und Ausstellung zur Arbeitsmigration in Hall und Umgebung (1960er Jahre bis heute)“, 2012-2015; Ali Özbaş, Joachim Hainzl u. Handan Özbaş (Hgg.): 50 Jahre türkische Gast (?) Arbeit in Österreich. Wissenschaftliche Analysen und Lebensgeschichten. Graz 2014; Volkshilfe Oberösterreich u. migrare (Hgg.): Gekommen und Geblieben. 50 Jahre Arbeitsmigration. Eine Wanderausstellung 2014–2016. Linz 2014; Elisabeth Arlt u. Verena Lorber (Hgg.): Lebenswege. Slowenische „Gastarbeiterinnen“ in der Steiermark. Laafeld 2015; FWF Forschungsprojekt „Deprovincializing Contemporary Austrian History. Migration und die transnationalen Herausforderungen an nationale Historiographien (ca. 1960-heute)“ (Projektleitung: Dirk Rupnow); Ausstellung „Angekommen! Hiergeblieben! 50 Jahre ‚Gastarbeit‘ in der Region St. Pölten“ des Zentrums für Migrationsforschung St. Pölten in Kooperation mit dem Stadtmuseum St. Pölten 2014; Sylvia Hahn u. Sabine Veits-Falk: Migrationsstadt Salzburg (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg, Beiheft 1). Salzburg 2014; Sylvia Hahn, Verena Lorber u. Andreas Praher (Hgg): Migrationsstadt Salzburg. Arbeit, Alltag und Migration 1960-2010 (Salzburger Beiträge zur Migrationsgeschichte 1). Salzburg 2018.

[2] Die transkribierten mehrstündigen Interviews wurden in Rücksprache mit den Interviewten auf rund fünf Seiten zusammengefasst und in Bezug auf grammatikalische Fehler und Satzstellungen sprachlich bereinigt – eine im wissenschaftlichen Kontext übliche Vorgehensweise.

[3] Es werden folgende Kriterien angeführt: klarer Bezug zu Österreich, Tirol und Telfs sowie Vielfalt der Erfahrungen.