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Christoph Augustynowicz/Agnieszka Pufelska (Hgg.)

Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts

Berlin/Boston 2017, De Gruyter Oldenbourg, VI, 232 Seiten mit 5 Abbildungen
Rezensiert von Frank M. Schuster
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 06.07.2018

Die Aufklärung als gesamteuropäisches Projekt, die aber immer noch meist als westeuropäisch wahrgenommen wird, sowie die Erkenntnis, dass Osteuropa vielfach immer noch implizit ökonomisch und kulturell als rückständig angesehen wird, waren die Ausgangspunkte der Diskussion auf einer internationalen historischen Fachtagung im Mai 2013 in Wien. Dass die schriftliche Fassung erst vier Jahre später erscheint, ist für solch einen Tagungsband nicht untypisch. Glücklicherweise wirkt es sich in diesem Fall nicht negativ aus, da die Ergebnisse nicht überholt sind. Den Osteuropadiskurs des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, lag dabei nahe, hatte der Historiker Larry Wolff doch 1994 in einer vielbeachteten Studie [1] erklärt, Osteuropa sei im 18. Jahrhundert ‚erfunden‘ worden in Abgrenzung und als Gegenbild zu einem, sich von der Antike herleitenden und durch Renaissance und Aufklärung geprägten Westen. Mit dieser These setzt sich Wolfgang Schmale (Wien) daher in seinem dem Band als Keynote vorangestellten Beitrag (11-28) auseinander. „Wolff nutzt im Wesentlichen knapp zwei Dutzend hochkultureller gedruckter Quellen [...]: Reiseberichte und philosophisch-historiographische Werke. Dazu kommen einige Karten und Atlanten. Das Gros der hochkulturellen Quellen stammt aus Frankreich und England, dazu kommen für den deutschsprachigen Bereich Lessing, Fichte und ein wenig Herder. [...] Quellen aus der Habsburgermonarchie fehlen. [...] Zeitungen und Zeitschriften [...] werden nicht genutzt, sieht man von gelegentlich zitierten einzelnen Nummern ab. Archivalische Quellen spielen keine Rolle“ (15), stellt er fest. Sowohl methodisch als auch in Bezug auf die Quellen ist man, wie er exemplarisch an den Werken Maria N. Todorovas und Ivan Parvevs [2] zeigt, inzwischen weiter. „Grundsätzlich macht es einen Unterschied, ob Quellen aus dem Bereich des atlantischen Europa herangezogen werden oder aus dem Alten Reich und der Habsburgermonarchie. Auch ist die deutschsprachige Aufklärung sehr viel enger mit großen Teilen des nördlichen und mittleren Osteuropa [...] verbunden als die französisch- oder englischsprachige. Für die deutschsprachige Aufklärung handelt es sich dabei um einen Entfaltungsraum, der zugleich von deutschsprachigen Eliten getragen wird, für die anderen sehr viel mehr um einen Raum, der vielleicht tatsächlich entfernter wirkt als das englische und französische Nordamerika“ (21), vermutet er in seinen theoretischen Überlegungen zum Thema des vorliegenden Bandes und kommt zu dem Schluss: „Dafür, das östliche Europa oder Teile davon als ausgesprochenes Fremdbild zu entwerfen, fehlten im 18. Jahrhundert die Motive und wohl auch die Kategorien.“ (27)

Die weiteren Autorinnen und Autoren des in drei Teile gegliederten Bandes (Polyforme Langfristigkeiten, Funktionale Inszenierungen, Multidimensionale Transfers) setzen sich daher auch fast alle explizit mit Wolffs Behauptungen an Beispielen aus verschiedenen Regionen des östlichen Europa auseinander. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung reichen von einer vorsichtigen, teilweisen Revidierung bis zu einer dezidierten Widerlegung seiner Thesen. Dabei macht man sich von den vielen Turns der neueren kulturwissenschaftlich orientierten, deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, neben dem spatial Turn, der für die neuere Osteuropaforschung so selbstverständlich ist, dass er nicht einmal explizit erwähnt werden muss, vor allem den postkolonialen zu Nutze. Der postkoloniale Ansatz stellt nämlich die Dichotomie zwischen fortschrittlichem Zentrum und rückständiger Peripherie, die lange bei der Wahrnehmung des West-Ost-Gegensatzes prägend war, in Frage. Hinzu kommt noch der piktorale oder iconic Turn. Die Meisten verwenden den Bildbegriff dabei im mehrdeutigen Sinne des lateinischen imago, wobei in einigen Fällen das imaginierte, teils stereotype Bild des Ostens in Beziehung gesetzt wird zu Gemälden oder Gebäuden. Schade ist allerdings, dass nur zwei Autoren die konkreten Bilder, über die sie sprechen, auch (schwarz-weiß) abdrucken ließen.

Marija Wakounig (Wien) befasst sich mit der Perzeption von Sigismund Herbersteins Beschreibung einer Reise in das Mitte des 16. Jahrhunderts noch weitgehend unbekannte Fürstentum Moskau (30-41). Mit dem erneut aufkommenden Interesse an Russland im 18. Jahrhundert wurde auch der Reisebericht des österreichischen Diplomaten mehrfach neu aufgelegt. Er wurde von Russlandreisenden oft umfangreich plagiiert, da er sich vielfach wahrnehmungsprägend auswirkte. Das Russland der Vergangenheit entsprach in vielem viel eher den Vorstellungen der Reisenden als das sich in ihrem Jahrhundert rasant verändernde und nach Westen hin orientierende russische Reich, dessen Gelehrte sehr wohl Teil des gesamteuropäischen Diskurses der Aufklärung waren.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Magdalena Andrae, die zwei deutschsprachige Reiseberichte vom Anfang des Jahrhunderts analysiert (42-56). Auch die Sicht der beiden Diplomaten auf das Reich Peters des Großen war durch stereotypes Vorwissen geprägt, so dass sie vor allem die fremden Sitten und Bräuche faszinierten, die sie als typisch russisch ansahen, während ihnen die Modernisierung durch die petrinischen Reformen und die Öffnung des Landes nur als höfisch hauptstädtisches Projekt erschien.

Für den Gesandten des Wiener Hofs, der sich während des Thronstreits und des Regierungsantritts der Zarin Anna 1730 in St. Petersburg aufhielt, spielten die russische Bevölkerung keine und die Sitten des russischen Adels nur eine geringe Rolle. Für ihn war das mit dem habsburgischen Kaiser verbündete Russland seit Peter dem Großen selbstverständlich Teil des aufgeklärten Europas, wie Steven Müller zeigt (71-92). Es galt für einen gesicherten Herrschaftsübergang zu sorgen und unliebsame Einflussnahmen von innen und außen zu verhindern, die den Status Quo hätten gefährden können.

Der Verdeutlichung, dass es sich bei Russland um einen aufgeklärten europäischen Staat handelt, diente auch die Inszenierung und spätere künstlerische Visualisierung der sogenannten „Thaurischen Reise“ Katharinas der Großen 1787 durch das neuerworbene Südrussland bis auf die Krim, mit der sich Kerstin S. Jobst (Wien) befasst (94-107). Die anschließende bildlich-mediale Darstellung der aufwendigen Herrscherreise knüpfte an die angebliche Zugehörigkeit der Halbinsel zur antiken griechischen Welt an und damit auch an die Hellenismusbegeisterung im damaligen Europa – man denke beispielsweise nur an Johann Wolfgang von Goethes Stück ‚Iphigenie in Thauris‘, dessen erste Fassung kurz zuvor erschienen war. Leider sind die Gemälde, auf die sich die Autorin bezieht, nicht mit abgebildet. Russland mit seiner Herrscherin an der Spitze sah sich in einer zivilisatorischen Mission gegenüber den andersgläubigen Krimtataren oder den Osmanen – eine Sicht, die das westliche Europa durchaus teilte. Nach der Lektüre von Jobsts Beitrag hat man daher, anders als die Autorin es selbst suggeriert und Wolff es verstanden wissen wollte, nicht den Eindruck, die Inszenierung wende sich gegen die damals – zumindest aus westlicher Sicht – bereits kulturell festgeschriebene Rückständigkeit Russlands, sondern zeigte im Gegenteil für die Zeitgenossen überzeugend, dass Russland durch seine Zugehörigkeit zu Europa sehr wohl in der Lage war, Fremden gegenüber aufklärerisch zu wirken und diese zu inkorporieren.

Die Sicht auf das ursprünglich Nordeuropa zugerechnete St. Petersburg untersucht Tilman Plath (Greifswald) anhand der Schriften mehrerer in der russischen Hauptstadt Ende des 18. Jahrhunderts lebender und arbeitender, ursprünglich aus deutschen Landen stammender Wirtschaftswissenschaftler (164-178). Deren Werke, die eher landeskundlichen Studien als wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen heutiger Tage gleichen, weil ihre Autoren noch keine hochspezialisierten Ökonomen waren, zeigen deutlich, dass die Stadt „Symbol für die Nivellierung“ des postulierten West-Ost-Gefälles war, wobei „auch der Westen keineswegs monolithisch verstanden wurde“. Als herausragender internationaler Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort befand sich St. Petersburg zudem keineswegs an der Peripherie, sondern eher im Zentrum der Diskurse der Aufklärung.

Dass sich die Wahrnehmung von Nord, West und Ost auch im Laufe des 18. Jahrhunderts wandelte – ein Aspekt, der bei Wolff keine nennenswerte Rolle spielt –, wird in Agnieszka Pufelskas theoriegesättigtem Beitrag (121-142) besonders deutlich, in dem sie die sich im Laufe der Zeit mehrfach verändernde preußische Sicht auf seine Nachbarn Russland und Polen betrachtet: Das bis dahin durchaus nur peripher wahrgenommene und als fremd empfundene Russland wird im Zuge der petrinischen Reformen Teil der europäisch-aufgeklärten Welt. Die Russen selbst hielt aber selbst ein aufgeklärter Monarch wie Friedrich der Große weiterhin für faul, eigennützig und geistlos, eine Sicht, die immer stärker auf ganz Russland übertragen wurde, je größer die machtpolitische Konkurrenz zwischen den beiden Staaten wurde, die schließlich im Krieg gipfelte. Solange dieser andauerte, sah man in Preußen in den Russen wieder Barbaren. Mit der Herrschaftsübernahme Katharinas II. kehrte Russland in das zivilisierte Europa zurück. Dieses Bild sollte sich durch die Verbreitung liberaler Ideen im ausgehenden 18. Jahrhundert erneut wandeln. Die liberalen Aufklärer warfen der Zarin, aber beispielsweise auch Friedrich II., nun Despotismus vor – eine Sicht, die das Bild Osteuropas weiterhin prägen sollte.

Polen dagegen war zu Beginn des Jahrhunderts von Gelehrten wie Gottfried Wilhelm Leibniz noch immer als Teil der europäisch-christlichen Welt und als Bewahrer und Verteidiger des Christentums gegen die fremden Barbaren gesehen worden, konstatiert Pufelska. Diese Sicht deckt sich mit der Selbstsicht der polnischen Gelehrtenwelt der damaligen Zeit, denn Dariusz Dolański (Zielona Góra) stellt in seinem Beitrag (57-70) fest, dass um 1730 zwar wie im übrigen Europa ein großes Interesse an den Wissenschaften im Allgemeinen und der Geographie und Völkerkunde im Besonderen bestand, aber nicht mehr an Russland, zumindest nicht direkt. Während es noch einige Reise- oder eher Kriegsberichte von Polen über Russland aus dem vorangegangenen Jahrhundert gab, stammte nun alles, was dazu geschrieben wurde, aus zweiter Hand. Weit mehr als auf die eigenen Berichte des 17. Jahrhunderts stützten sich die polnischen aufgeklärten Gelehrten dabei auf westliche Quellen. Den Grund für diese „Rezeption auf westlichen Umwegen“ (57) nennt Dolański selbst allerdings nicht explizit, da er es weitestgehend bei einer Beschreibung der Situation belässt. Gerade bei einem so theorieorientierten Band wie dem vorliegenden ist das auffällig. Erklärbar ist es aber aus dem polnischen Geschichts- und Historiographieverständnis heraus, das sehr stark von positivistischen Ansätzen geprägt ist, wie sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch in Deutschland noch gängig waren. Daher bleibt es in diesem Fall dem Leser überlassen, die Schlüsse aus dem überraschenden Befund zu ziehen. Zwar trifft die Bemerkung des Autors, dass mit dem Rückgang der kriegerischen Konflikte auch die Zahl der Begegnungen und Berichte darüber abgenommen hatte, sicherlich zu. Auffällig ist jedoch, dass die polnischen Aufklärer selbst nie nach Russland reisten, um sich selbst ein Bild zu machen. Das Land selbst war für sie nicht relevant, denn sie sahen sich als Teil der katholisch-christlichen Welt. Sie waren zudem Teil der Gelehrten-Netzwerke der Aufklärung, wie ihre Reisen nach Westen und ihre dortige Tätigkeit zeigen. Diese Bewegungen und die Verbindungen der Gelehrten zwischen Polen und deutschen Landen und ihre teils hybride Stellung thematisiert auch Marc Banditt (Potsdam) in seinem Beitrag über Danziger Naturwissenschaftler (143-162). Christoph Augustynowicz (Wien) (211-228) zeigt nicht nur, dass die Gelehrtendiskurse und Kommunikationsbewegungen nicht in einer Richtung, beispielsweise von West nach Ost, verliefen, sondern auch, dass von einer West-Ost-Dichotomie auch im Falle Polens keine Rede sein kann. Polen konnte bereits Anfang des 18. Jahrhunderts gleichzeitig als fortschrittlich und rückständig angesehen werden, und auch Aufklärer selbst konnten diesen Widerspruch in sich vereinigen. Letzteres zeigt auch Agnieszka Dudek (Wien) am Beispiel des schlesischen Gelehrten Leopold Johann Scherschnik (1747–1814), der Jesuit und Aufklärer zugleich war (200-210). Diesen Widerspruch vereinigte auch der in Sandomierz lebende und lehrende Gabriel Rzączyński (1664–1737) in sich, mit dem sich Augustynowicz befasst. 1721 liefert Rzączyński in seiner Naturgeschichte Polen-Litauens einen der ersten Belege für den weit verbreiteten Volksglauben an Vampire. Zehn Jahre später sollte dieses aus den östlicheren Grenzgebieten der polnisch-litauischen Adelsrepublik bzw. der Habsburgermonarchie kommende Phänomen jahrelang die Gelehrtendiskurse der Aufklärer bestimmen. Bereits 1710 war es in Sandomierz zu einem spektakulären Ritualmordprozess gekommen. Nicht zuletzt auch wegen bildlicher Darstellungen, wie der von Augustynowicz analysierten, die bis heute in einer Kirche in der kleinpolnischen Stadt zu finden sind, sind antisemitische Vorstellungen, Juden würden für rituelle Zwecke das Blut christlicher Kinder verwenden, so langlebig. Heutzutage sind sie ebenfalls mit dem Osten konnotiert und gelten historisch - wie der Vampirglaube - als Beleg für die östliche Rückständigkeit. Doch wie Augustynowicz an den beiden Fallbeispielen vom Anfang des 18. Jahrhunderts aus ein und derselben Stadt zeigt, ist diese analoge Wahrnehmung alles andere als richtig. Abgesehen davon, dass die Ritualmordvorstellung sich von England aus über Europa verbreitete und keineswegs aus dem Osten kam, verliefen auch die Diskussionen über beide scheinbar so ähnlichen Vorstellungen gegensätzlich: Während die Aufklärer nach langer Debatte 1832 überwiegend zu dem Schluss kamen, Vampire gäbe es nicht, lehnte zwar der Vatikan damals bereits seit langem Ritualmordvorstellungen ab, viele Aufklärer dagegen waren fest davon überzeugt, Menschenopfer gehörten zum jüdischen Glauben.

Die Existenz solcher Vorstellungen unter der polnischen Bevölkerung und der bereits im 17. Jahrhundert beginnende Machtverlust des polnisch-litauischen Großreiches sollten allerdings dazu beitragen, dass es weiter westlich immer negativer gesehen wurde, je positiver die Wahrnehmung Russlands wurde, wie Pufelska zeigt. Zwar sahen liberale Kreise den polnischen Freiheitskampf, die Reformen und die Verabschiedung der ersten europäischen Verfassung am 3. Mai 1791 durchaus positiv. Letztlich setzte sich aber nicht nur in Preußen die Auffassung durch, dass Polen keine Zukunft habe, was zu seinem Verschwinden von der europäischen Landkarte führte. Dass bei der Wahrnehmung bekanntermaßen nicht einmal die realen Gegebenheiten eine Rolle spielen müssen, zeigt anschaulich Róisín Healy (Galway), die das politisch bedingte Polenbild in Irland betrachtet (108-120). Während man in Irland, analog zur englischen Sicht, in Polen ursprünglich einen rückständigen, schwachen Staat sah, änderte sich dies mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts. Nun sah man in dem polnischen Existenzkampf Parallelen zum eigenen Freiheitskampf und fühlte sich dem Vorbild Polen verbunden. Die Grenze verlief nun nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Unterdrückten und Unterdrückern.

Die in diesem Band versammelten Beiträge zeigen eindrucksvoll, dass die Vorstellung vom rückständigen Osten und fortschrittlichen Westen, die bis heute fortwirkt, sich, wenn überhaupt, erst im 19. Jahrhundert abzuzeichnen beginnt. Für das 18. Jahrhundert ergibt sich ein differenzierteres, sich mehrfach veränderndes Bild, wie die vielfältigen Beiträge zu teils gegenläufigen Wahrnehmungen Polens und Russlands zeigen. Einzige thematisch-geographische Ausnahme ist der Beitrag von Klemens Kaps (Wien), der die regional unterschiedliche Wahrnehmung der einzelnen Regionen innerhalb der Habsburgermonarchie in den Blick nimmt, wie sie sich in Schriften zur Wirtschaft und Verwaltung widerspiegelt (179-199). Eine Ost-West-Linie macht auch er aber im Diskurs erst für die Zeit des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert aus.

Nun ließe sich einwenden, dass dort, wo sich in den Quellen nicht nur der hochkulturelle Gelehrtendiskurs widerspiegelt, sondern man auch einen Blick auf die Volkskultur und Alltagswelt werfen kann, wie sie z. B. für Kulturanthropologen oder Ethnologen von besonderem Interesse sind, doch stereotype Bilder des kulturell rückständigen, unaufgeklärten Fremden reproduziert werden: Die beispielsweise von Andrae oder Augustynowicz angeführten Passagen über religiöse Riten, Totenkult, Körperlichkeit und Sexualität scheinen diesen Einwand zwar zu bestätigen, man sollte aber bedenken – was in dem Band selber leider an keiner Stelle getan wird –, dass gerade diese Bereiche in jeder Kultur zu den intimsten gehören. Daher wissen diejenigen, die nicht mit der Kultur vertraut sind, naturgemäß wenig darüber und das, was sie sehen, erscheint ihnen meist fremd. Dies ist oder war bei fast allen interkulturellen Kontakten, zumindest bis in die jüngste Vergangenheit, der Fall. Deshalb sind auch diese Textstellen kein Beleg für eine spezifische Rückständigkeit Osteuropas gegenüber Westeuropa.

 

[1] Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford, CA 1994.

[2] Maria N. Todorova: Imagining the Balkans. Oxford/New York 1997; Ivan Parvev: Land in Sicht. Südosteuropa in den deutschen politischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2008.