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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Rainhard Riepertinger

Bier in Bayern. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2016. Kloster Aldersbach 29. April bis 30. Oktober

(Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 65), Regensburg 2016, Pustet, 360 Seiten, zahlr. Abbildungen
Rezensiert von Manuel Trummer
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 05.07.2018

The idea of Freibier in Bavaria is deeply religious, lässt Gerhard Polt seine Bühnenfigur Dr. Leinweber, einen Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung, vor einem Publikum im fiktiven afrikanischen Staat Tschurangrati raunen. Er berührt damit zielsicher das mythische Verhältnis der Bayern zu ihrem Nationalgetränk. Zum 500. Jubiläum des Reinheitsgebotes von 1516 widmete sich die Bayerische Landesausstellung 2016 diesem in so vielerlei Hinsicht emotional, politisch und künstlerisch kontrovers besetzten Thema. Ein 360 Seiten starker Aufsatzband, reich bebildert (die Druckqualität der Abbildungen ist exzellent!) und im hochwertigen, stabilen Karton gebunden, führt einige der Leitperspektiven der Ausstellung zusammen. Etwa ein Drittel des Bandes nimmt der Aufsatzteil ein, zwei Drittel der eigentliche Ausstellungskatalog.

Mit einem bekannten Zitat von Haindling („Bayern, des samma mir, Bayern und des bayerische Bier! Bayern und des Reinheitsgebot, des is unser flüssiges Brot!“) führt Richard Loibl in den Aufsatzteil des Bandes ein. Mit der Leitfrage „Mythos im Mythos?“ legt er zugleich eine wesentliche Stoßrichtung der Ausstellung offen: wie entstand die außergewöhnlich enge kulturelle Verflechtung von Bier und bayerischer Identität? Es war ein günstiges Zusammenspiel innovativer Einzelpersonen, geschicktem Tourismusmarketing und einem selbstbewussten Auftreten Münchner Großbrauereien, die, so die Ausgangsthese, Bayern ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Bierland schlechthin werden ließen. Die summarische Einführung – die auch launig von den Standortkämpfen hinter der Landesausstellung erzählt – greift damit eine populäre, lineare Erfolgsgeschichte auf, die auch im Folgenden das Thema prägen soll: Bier als Teil eines bayerischen Sehnsuchtspakets, das sowohl nach innen, wie nach außen Identität stiftend wirkt.

Den Mythos des Reinheitsgebots von 1516 – und damit den thematischen Aufhänger der Ausstellung – bringt gleich der erste Beitrag in die Bredouille. Auch wenn sein Autor Hans-Georg Hermann das Reinheitsgebot angesichts seiner ungebrochenen Popularität als Erfolgsgeschichte (S. 25) liest, wird doch schnell klar, dass es den überwiegenden Teil der letzten 500 Jahre in seiner heute popularisierten Form – Hopfen, Malz, Wasser – nicht in Anwendung stand (vom Begriff „Reinheitsgebot“, den Herrmann im Kontext einer Sitzung des Bayerischen Landtags vom 4. März 1918 erstmals nachweist, ganz abgesehen). Als ebenso mythisch wie die Beziehung der Bayern zu ihrem Bier erweist sich das Reinheitsgebot selbst, wenn der Beitrag quellennah und materialreich dessen Entstehung aus spätmittelalterlich-städtischen Rechtsverordnungen nachzeichnet. Standen zunächst gesundheitliche und rohstoffökonomische Erwägungen im Vordergrund, gewannen besonders mit dem Malzaufschlaggesetz von 1868 fiskalische Erwägungen an Gewicht. Hier liegt die eigentliche Geburtsstunde des Bieres als bayerischem Mythos, denn die Schutzabsicht sah vor, „einer Alteration und Entartung im Wesen des bayerischen Biers und Braugeschäfts vorzubeugen. Hans-Georg Hermann erkennt die hohe identitätspolitische Bedeutung zurecht: Das ist nicht weniger als die Entdeckung des Biers als ein schlechterdings mit Bayern identifizierbares und dieses Bayern repräsentierendes Kulturgut.“ (S. 29). Spätestens hier liegt auch die Wurzel für den internationalen Erfolg Bayerns als Bierexporteur. Wünschenswert wäre zum Abschluss ein Hinweis auf die aktuelle Diskussion um das Reinheitsgebot gewesen: im Zuge eines sich diversifizierenden Biermarktes sieht es sich seit einigen Jahren auch erheblicher Kritik als „Einheitsgebot“ ausgesetzt. Die enge Verzahnung von Bier und bayerischer Identität rückt auch Gabriele Wolf in den Mittelpunkt. Auf der Grundlage eines breiten Korpus an Schriftquellen des 19. Jahrhunderts, darunter Physikatsberichte, Medizinalstatistiken und Reiseberichte, zeichnet der Beitrag die Transformation der bayerischen Bierkultur vom stereotypen Narrativ hin zum identitätspolitischen Aushängeschild. Faszinierend ist dabei besonders der – im Übrigen bis heute – von städtischem Blick, ländlichen Klischees und ökonomischen Interessen geprägte Wertewandel des Getränks. Als konkreter Ort, in dem sich diese unterschiedlichen Bewertungen austarieren, fungierte häufig das Wirtshaus, dessen Rolle Birgit Speckle in ihrem Beitrag nachgeht. Sie macht deutlich, wie vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das florierende Vereinsleben die Wirtshäuser zum zentralen Kommunikations- und Konsumort in Stadt und Land avancieren ließ. Dass beim Bier auch Politik gemacht wurde, wie Marita Krauss am Beispiel der Revolution von 1848, der frühen Sozialdemokratie und des Nationalsozialismus illustriert, mag deshalb nicht verwundern. Doch auch über dem Bayerischen Wirtshaus als Ort der Politik und Gemeinschaft schwebt ein Hauch Mythos, den Birgit Speckle zuletzt auch als medialen und literarischen Topos der „guten alten Zeit“ (S. 84) überzeugend dekonstruiert. Ähnlich mythisch gerät häufig auch die Rede von den Bierkrawallen, die bisweilen als lustige Rauferei renitenter bayerischer Bauern – etwa in Serien wie dem Königlich Bayerischen Amtsgericht – aufgearbeitet scheint. Dass die Hintergründe vielmehr in den Modernisierungskrisen des 19. Jahrhunderts liegen, weist Werner K. Blessing im Anschluss nach. Eine spannende Perspektive bietet Blessing dabei besonders mit einer Aufarbeitung der gruppenpsychologischen Dynamiken, die sich letztlich zu handfesten Aufständen hochschaukelten und wiederum staatliche Reaktionen provozierte.

Neben den Beiträgen zur mythischen Verzahnung von Bier und bayerischer Seele arbeiten mehrere Aufsätze die Geschichte des Bieres auf. Die Vor- und Frühgeschichte nehmen Alisa Scheibner und Eva Rosenstock in den Blick und zeichnen den Weg des Gerstensaftes auf der Grundlage der internationalen Standardliteratur (u.a. Hornsey, Katz/Voigt, Stika) vom vorderen Orient nach Mitteleuropa nach. Hier setzen Franz Meussdoerfer und Martin Zarnkow, zwei der ausgewiesensten Kenner der Braugeschichte in ihrem materialreichen, illustrativen Beitrag zu mittelalterlichen Bieren in Bayern an, bevor Gerhard Fürmetz mit den vermeintlich mittelalterlichen Klosterbrauereien im Freistaat den nächsten Mythos hinterfragt. So stellt Fürmetz klar, dass das klösterliche Brauen – im Übrigen größtenteils von weltlichem Personal betrieben – vor allem ab dem späten 17. Jahrhundert seine Konjunktur erfährt. Diese Entwicklung fällt nicht zufällig in die Zeit, in der Bayern den Übergang vom Wein- zum Bierland vollzieht. Karl Gattinger skizziert den Siegeszug des Bieres in dieser Zeit vor allem als Ergebnis fiskalischer Maßnahmen und wirtschaftspolitischer Standardisierungsprozesse der Ära des Kurfürsten Maximilian I. Parallel zu der staatlichen Förderung des Biers beginnt sich auch der Hopfenanbau ab dem 17. Jahrhundert in Bayern zu verbreiten. So stellt Christoph Pinzl dessen Verbreitung als Ergebnis von Agrarreformen der Zeit, etwa einer Verordnung Kurfürst Ferdinand Marias zur „Erziehung Hopfens“ aus dem Jahr 1657, dar. Mit Klaus Reders Überlegungen zu Sammlern und zur Sammlungspraxis von Bierwerbemitteln endet der Aufsatzteil praxisnah und instruktiv. Ein Beitrag zur internationalen Einordnung des bayerischen Biermythos, etwa im Vergleich zu den Bierkulturen Englands oder Belgiens, hätte für den Aufsatzteil sicher noch eine weitere Differenzierung der Identität stiftenden Prozesse ums Bier und ihrer historischen Begleitumstände leisten können.

In acht Einheiten lenkt im Anschluss der Katalogteil den Blick auf die Materialität der bayerischen Bierkultur. Gewisse Redundanzen zum Vorhergehenden lassen sich dabei nicht ganz vermeiden. Doch gelingt es dem Band hier, einige Lücken des in der Auswahl seiner Beiträge etwas affirmativ geratenen Aufsatzteils zu schließen und dem bislang überwiegend unkritisch diskutierten Mythos Bier eine differenziertere Betrachtung zu widmen. So folgt nun etwa die überfällige Auseinandersetzung mit den problematischen gesundheitlichen und sozialen Folgen des Alkoholismus – auch wenn das Kapitel mit Von Viechrausch und Bierherz erneut eher salopp betitelt ist. Die Fokussierung des Themas bleibt auch hier weitgehend wohlwollend, was sich bei einzelnen Texten, etwa zum modernen Filterstoff PVPP, fast wie eine Verteidigung aktueller Brauverfahren liest.

Doch die Fülle der Alltagsgegenstände, die durch die Kapitel leiten, steht im Mittelpunkt dieses Abschnitts. Es sind, dem Thema angemessen, weniger einzelne überragende Objekte, die allein durch ihre Aura Ausstellungseinheiten tragen, sondern überraschend oft allzu Vertrautes, das hier in Kombination mit den straff gehaltenen Katalogtexten eine außerordentliche Illustrationskraft entfaltet. So gelingt es, den abstrakten Mythos des bayerischen Bieres auf eine für ein breites Publikum zugängliche, ganz handfeste Alltagsebene materialsatt und anschaulich zu übersetzen.

In der Summe erfährt die eingangs bereits angekündigte 500-jährige „Erfolgsgeschichte“ des Reinheitsgebotes durch den vorliegenden Ausstellungsband so keine allzu großen Dellen. Auch wenn verschiedene Beiträge auf der Grundlage neuester Forschungsliteratur und historischer Quellen den bayerischen Biermythos teils gehörig ins Wanken bringen, bleibt am Ende eine harmonisierende Perspektive auf die Beziehung der Bayern zu ihrem „Nationalgetränk“. Es sei ihm zu seinem Jubiläum gegönnt. Doch auch für kritischere Leser bietet der Band einen Fundus grundlegenden und detaillierten Wissens, das die erfreulich nah am Quellenmaterial verfassten Beiträge verständlich und illustrativ vermitteln. Als reich bebilderter, perspektivenreicher Einstieg ins Thema bietet der Band so eine ausgezeichnete Grundlage.