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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Christian Kuchler/Jörg Zedler (Hgg.)

Das 20. Jahrhundert aus lokaler Perspektive. Osterhofen im Zeitalter der Extreme

Regensburg 2015, Pustet 334 Seiten, zahlr. Abbildungen
Rezensiert von Peter Claus Hartmann
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 05.07.2018

Während in Frankreich durch die Annales-Schule seit vielen Jahrzehnten der Fokus der historischen Forschung vielfach auf Regional- und Lokalstudien gerückt wurde, hat Deutschland hier Nachholbedarf, wenn man die Landesgeschichte, die sich mit einer Art Großregionen beschäftigt und die großen Stadtgeschichten beiseite lässt. Es ist deshalb erfreulich, dass Christian Kuchler und Jörg Zedler es unternommen haben, finanziert von der Stadt Osterhofen, einen Sammelband zur Geschichte dieser Stadt im recht bewegten 20. Jahrhundert, d.h. „im Zeitalter der Extreme“, zu organisieren und herauszugeben.

Wie etwa in Frankreich wird hier eine Kleinstadt, bei der es viele ähnliche andere Städte gibt, in den Blick genommen. Dabei werden am Beispiel dieser niederbayerischen Stadt Osterhofen die lokalen und regionalen Brüche und Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts kritisch analysiert und in größere historische, überregionale, landesgeschichtliche und nationale Zusammenhänge gestellt.

Das Ziel des Bandes, „Kontinuitäten und Brüche auf lokaler Ebene exemplarisch aufzuzeigen“, wird trefflich erreicht, der katholisch bestimmte, ländlich-niederbayerische Raum anhand dieses Beispiels dem Leser gut näher gebracht und der Strukturwandel zu einer modernen Region der Gegenwart dargestellt, in einem Bayern, das sich vom Armenhaus Deutschlands in den 1950er Jahren zum finanziell und wirtschaftlich besonders potenten, 56 % des Länderfinanzausgleichs stemmenden Freistaat entwickelt hat.

Der Sammelband wird eingeleitet durch einen profunden, instruktiven Beitrag von Stephan Deutinger über die sich im Laufe der Zeit wandelnden Osterhofener Identitäten, gefolgt von einem interessanten Überblicksartikel von Bernhard Taubenberger über die Parteien- und Kommunalpolitik im Osterhofener Land (1918-1990). Er berücksichtigt dabei neben der Entwicklung in Osterhofen auch die von Altenmarkt und den anderen heute zur Stadt gehörenden ehemaligen Gemeinden. Von besonderem Interesse ist der Beitrag des Würzburger Kirchenhistorikers Wolfgang Weiß, der aus Osterhofen-Altenmarkt stammt. Weiß analysiert hier in profunder Darstellung die „Entwicklung des kirchlichen und religiösen Lebens seit 1900 auf dem heutigen Stadtgebiet von Osterhofen“ bis hinein in die 1970er Jahre.

Einen interessanten anderen Aspekt der Stadtgeschichte präsentiert mit Kompetenz Karolina Novinšcak Klöker, nämlich die Zuwanderung, angefangen von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, aber auch Evakuierten im Zweiten Weltkrieg, über die vielen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach Kriegsende sowie die angeworbenen Gastarbeiter bis hin zu zahlreichen Zuwanderern aus osteuropäischen Staaten, die als EU-Bürger in Niederbayern Arbeit suchten oder suchen. Die Integration war, so zeigt sie, teilweise schwierig und konfliktreich, ist aber letztlich geglückt. Die Autorin schildert sogar ein Ehepaar (er aus der Ukraine, sie aus Polen), die als Zwangsarbeiter nach Niederbayern geschickt wurden und nach dem Krieg geblieben sind.

Hierauf folgt ein instruktiver Beitrag von Georg Köglmeier, bekannt durch sein Buch über die zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19, über das Ende des Ersten Weltkriegs und die Revolution in Osterhofen 1918/19 und deren Auswirkungen auf die ländlich-katholisch geprägte Stadt. Nikola Becker beleuchtet detailreich die Geschichte Osterhofens während der Weimarer Republik, das der Monarchie „in kultureller, religiöser, mentaler und politischer Hinsicht“ verbunden blieb. Es gab eine ausgleichende und überparteiliche Zusammenarbeit des relativ starken politischen Katholizismus, des Bauernbunds und der Sozialdemokraten. Die weitaus stärkste Partei blieb relativ konstant bis zur letzten völlig freien Wahl am 6.11.1932 die Bayerische Volkspartei.

Obwohl es im Dritten Reich in der Kleinstadt nichts Spektakuläres gab, ist die Darstellung von Susanne Wanninger von Osterhofen im Nationalsozialismus als Geschichte einer typischen, ländlich geprägten niederbayerischen Kleinstadt instruktiv. Christian Kuchler analysiert überzeugend das Kriegsende 1945 als Zäsur des 20. Jahrhunderts, wobei er die Geschichte des Osterhofener Raumes in die größeren Zusammenhänge stellt, während Laura Pachtner und Markus Schmalzl gut den Strukturwandel in Osterhofen in den 1950er und 1960er Jahren von der „bäuerlichen Metropole des östlichen Gäubodens“ zum grenzlandnahen „Unterzentrum“ beleuchten. Ein wichtiges, die Zukunft prägendes Ereignis war die Gemeindegebietsreform in der Stadt Osterhofen und den eingegliederten Gemeinden, die zwischen 1971 und 1980 durchgeführt wurde. Sie wird kompetent von Gerrit Himmelsbach und Jörg Zedler untersucht. Am Schluss folgt ein aufschlussreicher Beitrag von Rainer Liedtke, der die Entwicklung Europas von der Revolution 1918 bis zum Abriss der Berliner Mauer 1990 kurz im Überblick analysiert.

Leider werden die Anmerkungen global ab Seite 294 aufgeführt. Es wäre wegen der Überprüfbarkeit und besseren Benutzbarkeit der Beiträge wünschenswert gewesen, die Anmerkungen jeweils bei den Artikeln, möglichst auf den Seiten der Anmerkungsnummern zu platzieren.

Abgesehen von diesem kleinen Manko handelt es sich um einen sehr instruktiven, interessanten, gut dokumentierten Sammelband über die Geschichte einer niederbayerischen Kleinstadt als Beispiel lokaler Entwicklung im bewegten 20. Jahrhundert, der ohne Zweifel eine Forschungslücke schließt und die Geschichtsschreibung der Stadt Osterhofen bereichert.