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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Volker Bierbrauer/Hans Nothdurfter

Die Ausgrabungen im spätantik-frühmittelalterlichen Bischofssitz Sabiona-Säben in Südtirol I. Frühchristliche Kirche und Gräberfeld

Mit Beiträgen von Rajko Bratož, Peter Gamper, Rupert Gebhard, Roswitha Goedecker-Ciolek, Ursula Koch, Ernst-Ludwig Richter, Ina Schneebauer-Meißner und Marcus Zagermann (Münchner Beiträge zur Vor- u. Frühgeschichte 58), München 2015, Verlag C. H. Beck, 3 Bde., 665 Seiten, 144 Tafeln, 36 Beilagen
Rezensiert von Anja Gairhos/Sebastian Gairhos
In: Bayerische Vorgeschichtsblätter
Erschienen am 05.07.2018

Mit dem ersten Band zu Sabiona-Säben liegt die systematische Auswertung wichtiger Grabungsergebnisse eines in mehrfacher Hinsicht herausragenden spätantik-frühmittelalterlichen Fundplatzes im mittleren Alpenraum vor. 27 Jahre sind vergangen, seit Verf. mit ihrem ausführlichen Vorbericht in der Zeitschrift „Der Schlern“ (Bierbrauer/Nothdurfter 1988) den Burgberg von Säben im Eisacktal erstmals eindrücklich in den Blick der Forschung rückten. Zu Recht nehmen der Platz und seine archäologische Erforschung eine Schlüsselrolle im Verständnis des Übergangs von der Spätantike zum frühen Mittelalter ein. Dazu trägt die schriftliche Überlieferung von Sabiona seit 572/577 als Bischofssitz genauso bei, wie die Entdeckung mehrerer Kirchenbauten sowie zahlreicher Bestattungen des 5.–8. Jahrhunderts mit für diese Region teilweise ungewöhnlichen Beigaben. Dementsprechend wurden die Funde und Befunde der Ausgrabungen 1978–1982 bereits vor dem Erscheinen der vorliegenden Publikation zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion (z. B. Glaser 1996; ders. 1997; Gleirscher 1996, 142–145; ders. 2013, 19–24). Darüber hinaus kommentierten und interpretierten Verf. die Säbener Grabungsergebnisse nach 1988 mehrfach getrennt voneinander (Bierbrauer 1998; ders. 2004; ders. 2005; Nothdurfter 2003), wobei sich ihre Ansichten zu teilweise zentralen Fragestellungen zunehmend auseinander entwickelten. Anschaulich zu erkennen sind diese Differenzen beispielsweise an der aktuellen Gegenüberstellung der Periodisierungen der frühchristlichen Kirche im vorliegenden Werk (S. 97 Abb. 26).

Trotz der langen Zeitspanne und der unterschiedlichen Auffassungen der Verf. ist der erste Projektabschnitt mit der vorliegenden Publikation ‚Säben I‘ zu einem guten Abschluss gekommen. Dies kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Ergebnisse vieler anderer groß angelegter Grabungsprojekte in spätantik-frühmittelalterlichen Kirchen und Höhensiedlungen – beispielsweise in Teurnia, auf dem Hemmaberg, dem Kathreinskogel oder dem Zähringer Burgberg – bis heute nicht abschließend vorgelegt sind.

Wie im Titel formuliert, befasst sich das dreibändige Werk mit den Überresten der frühchristlichen Kirche (‚Kirche am Hang‘) im Südwesten sowie dem Gräberfeld an der Südspitze des Burgberges. Es mag befremdlich wirken, dass ‚Säben I‘ beinahe ausschließlich von Volker Bierbrauer verfasst wurde, während sich der Beitrag von Hans Nothdurfter auf ein Kapitel zu den Mauer-, Mörtel- und Verputztechniken (S. 111– 124) beschränkt. Bei der Lektüre wird jedoch deutlich – auch wenn dies nicht explizit dargelegt wird – dass sich die Autoren die Bearbeitung und Publikation der Grabungsbereiche aufgeteilt haben; vermutlich liegt also die S. XVI angekündigte Publikation ‚Säben II‘ der Funde und Befunde aus den ebenfalls archäologisch untersuchten Arealen im Bereich der Heilig-Kreuz- Kirche auf dem Gipfel und westlich der Marienkirchen hauptsächlich in den Händen von Hans Nothdurfter. Diese Befunde werden in den vorliegenden Bänden nur insofern behandelt als dies für das Verständnis und die Interpretation der hier vorgelegten Befunde erforderlich ist.

Auf die Geleitworte des Südtiroler Landrats (S. XV f.) und des Bischofs von Bozen-Brixen (S. XVII f.), die den Säbener Burgberg als geschichtsträchtigen Ort und religiöses Zentrum bis in heutige Zeit würdigen, folgt das gemeinsame Vorwort der Verf. (S. XIX – XXII). Daran schließen sich eine knappe, dafür aber mit zahlreichen imposanten Luftbildern (Abb. 1–7) reich illustrierte Beschreibung der Topographie und des heutigen Baubestands des Burgberges (Bierbrauer, S. 1–10) sowie ein Kapitel zur Forschungs- und Ausgrabungsgeschichte („Archäologie auf dem Burgberg von Säben“, S. 11–29) an. In letzterem werden die Ausgrabungen von Adrian Egger in den Jahren 1929 und 1930 und dessen Phasengliederung vorgestellt und im Vergleich zu den Grabungsergebnissen von 1978 bis 1982 kommentiert; weiterhin werden zahlreiche ältere Zufallsfunde von Bestattungen aufgeführt, die die eigentliche Größe des Gräberfelds im Weinberg – bei einer bekannten Mindestanzahl von 366 bis 370 bestatteten Individuen – auf insgesamt 700 bis 800 Gräber schätzen lassen (S. 24; 315). Es folgen Ausführungen zu den wissenschaftlichen Zielsetzungen und zur technischen Durchführung des Grabungsprojekts.

In den drei Hauptkapiteln des ersten Bandes widmet sich Volker Bierbrauer den Befunden der frühchristlichen Kirche des 5. bis frühen 8. Jahrhunderts (‚Kirche im Weinberg‘ bzw. ‚Kirche am Hang‘, S. 30–136), ihrer Interpretation (S. 137–190) sowie den Gräbern und Bestattungen im Bereich der Kirche (S. 191–354).

Die umfangreiche Beschreibung der Baubefunde (Raumeinheiten, Mauern, Estriche, liturgische Einbauten usw.) erfolgt getrennt nach den Bauperioden 1, 2a, 2b, 3a und 3b (S. 30–96). Da nicht jeder Baubefund zweifelsfrei einer Periode zugewiesen werden kann, nimmt diese Vorgehensweise, die Bierbrauer in den Vorbemerkungen (S. 30 f.) begründet, gewissermaßen die Interpretation vorweg. Die abweichende Periodisierung von Nothdurfter wird S. 96–100 dargelegt und von Bierbrauer kommentiert. Auf S. 100–111 erfolgt die absolutchronologische Datierung der Bauperioden mittels stratifizierter Kleinfunde und der Beigaben führenden Bestattungen. Zur bemerkenswert frühen Datierung des ersten Kirchenbaus „spätestens im ersten Drittel des 5. Jahrhunderts“ (S. 110) bzw. „in der Zeit um 400 bzw. zum Anfang des 5. Jahrhunderts“ (S. 181 f.) zieht Bierbrauer als terminus ante quem das in Periode 1 angelegte Frauengrab 206 heran, das als einzige Beigabe einen Bronzearmreif mit abgenutzten Tierkopfenden enthielt. Da für diese Form andernorts sehr lange Gebrauchszeiten – bis weit ins 6. Jahrhundert hinein – festzustellen sind (vgl. z. B. Rettner 2002, 199), sollte jedoch eine Errichtung des Kirchenbaus im späten 5. oder sogar erst im 6. Jahrhundert nicht ausgeschlossen werden, womit man dem Zeitpunkt der ersten schriftlichen Erwähnung des Bistums Säben deutlich näher käme.

Es folgen das Kapitel von Hans Nothdurfer zu den Mauer- und Verputztechniken (S. 111–124) sowie Beschreibungen der Grabungsprofile im Kirchenbereich (S. 124–136).

Im Kapitel „Die frühchristliche Kirche des 5. bis frühen 8. Jahrhunderts – Interpretation“ diskutiert Bierbrauer ausführlich die Grundrissform (kreuzförmig, bzw. mit Querannexen) und die Überreste der liturgischen Ausstattung der Säbener Kirche am Hang, vergleicht sie mit Befunden aus dem Alpenraum und Oberitalien und stellt sie in den historischen Zusammenhang. Ausführlich wird im Anschluss (S. 144–153) die Funktion des ältesten Kirchenbaus (Coemeterialoder Gemeindekirche) diskutiert. Der guten Verständlichkeit dienen zahlreiche Abbildungen mit Grundrissen vergleichbarer Sakralbauten (Abb. 34–45). Wie schon in Bierbrauers Publikation der Kirche von Invillino im Friaul (Bierbrauer 1988) ist diese aufwändige Illustration bei der Lektüre äußerst hilfreich. Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass bei Abbildung 37,5 (Kathedrale Chur) der Plan um 90 Grad verdreht ist; analog zu den anderen Kirchengrundrissen müsste die Apsis nach Osten (also nach rechts) zeigen.

Das in Periode 2a eingebaute liturgische Ensemble aus Priesterbank, Presbyterium mit Reliquienkammer und Solea und die Relevanz dieser Elemente im Metropolitansprengel von Aquileia wird auf S. 153–168 interpretiert. Sehr verdienstvoll ist die Erarbeitung aktueller Verbreitungskarten von Priesterbänken (Abb. 42 mit Liste 1 auf S. 185–189) und Soleae (Abb. 43 mit Liste 2 auf S. 189 f.), die jeweils einen klaren Schwerpunkt im Patriarchatsgebiet von Aquileia deutlich machen. Als Ergänzungen seien hier noch die Priesterbank in der Südkirche von Mistail (Sennhauser 2003, 125–127 Abb. 3; dort als Binnenapsis bezeichnet) und die Spuren einer hölzernen Solea in der spätantiken Kirche auf Hohenrätien im Domleschg (Gairhos/Janosa 2011, 73 Abb. 9) erwähnt, beide in der Raetia prima und damit wohl außerhalb des Einflussgebiets von Aquileia gelegen.

S. 169–174 diskutiert Bierbrauer den durch die Demontage von Klerusbank, Presbyterium und Solea sowie der Dislozierung der Reliquien gekennzeichneten Liturgiewechsel und die schrittweise Aufgabe der Kirche, die mit der Profanierung einzelner Kirchenräume beginnt (Periode 3).

Zum Abschluss widmet Verf. zwei wichtigen Themenbereichen jeweils ein eigenes Unterkapitel: In „Funktion der Kirche als Friedhofs- bzw. Begräbniskirche oder Gemeindekirche“ (S. 174–181) stellt Bierbrauer die verschiedenen Interpretationsansätze zur Kirche am Hang zusammen und diskutiert sie, wobei er die von anderen Forschern erwogene Deutung als reine Begräbniskirche ablehnt. Vielmehr sieht er ihre Funktion als Gemeindekirche für die Talschaft im Eisacktal, die gleichzeitig als Bischofskirche diente, und in der aufgrund der vorhandenen Reliquien auch zunehmend bestattet wurde. Die Vorlage des spätantik-frühmittelalterlichen Taufbeckens, das 25 m nördlich und 20 m höher gelegen zwischen den Marienkirchen nachgewiesen wurde, und seine Bedeutung für die Interpretation der Kirche am Hang bleibt der Publikation ‚Säben II‘ vorbehalten.

Unter „Sabiona-Säben als Bischofssitz: Alter und Kontinuität“ (S. 181–184) zeigt VB deutlich auf, dass allein aus dem archäologischen Befund die Existenz des Säbener Bistums bereits vor der Ersterwähnung 572/577 nicht abzuleiten, aber auch nicht auszuschließen ist. Gleiches gilt für die Zeit zwischen dem frühen 7. Jahrhundert und dem Jahr 769, in der keine Schriftquellen für Bischöfe in Säben vorliegen.

Der erste Abschnitt des dritten Hauptkapitels „Die Gräber und Bestattungen“ befasst sich mit den Grab- und Beigabensitten (S. 195–202), der antiquarischchronologischen Analyse ausgewählter Fundgruppen (S. 203–227) sowie der „Analyse der Grabinventare aus baiovarischen Gräbern“ (S. 227–241). An Grabbauten sind Gräber mit Steineinfassungen, Grüfte, Trockenmauergräber sowie Gräber mit Holzsärgen bzw. im Einzelfall nicht exakter definierbaren Holzkonstruktionen nachgewiesen. Dazu kommen 26 Gräber, in denen Holzkohlepartikel gefunden wurden; diese werden gewöhnlich mit Ritualen im Rahmen von Toten- oder Bestattungszeremonien in Zusammenhang gebracht (S. 197). Hierzu listet Bierbrauer in Anmerkung 324 vergleichbare Befundsituationen in Nekropolen des Alpenraums auf, wo das Phänomen vergleichsweise selten aufzutreten scheint. Keine Erwähnung findet allerdings die Häufigkeit von Holzkohle in beigabenlosen Gräbern auf dem Gebiet der Raetia prima, namentlich Bonaduz mit 17 Belegen sowie Nachweise von 15 weiteren Fundorten in Graubünden (Schneider-Schnekenburger 1980, 99 f.; 211 f.; 217 Liste 7; Janosa 1999, 37 mit Anm. 11).

Der zweite Teil des Kapitels ist der antiquarisch-chronologischen Analyse des Fundstoffs gewidmet, wobei sich Bierbrauer auf einige aussagekräftige Fundgruppen beschränkt: Schmuck und Teile des Kleidungszubehörs bei Männern und Frauen (S. 203–218) sowie Messer und Kämme (S. 222–224). Aus Grab 102 stammt außerdem ein Stängelglas; im Bereich des gestörten Grabes 133 wurden weitere Glasfragmente geborgen, die jedoch zur Kirchenausstattung gehören. Es handelt sich um zwei Fragmente von Stängelgläsern und drei Henkelbruchstücke von Glashängelampen (S. 219 f.) sowie ein Bodenbruchstück (Taf. 84,A6). Letzteres ergänzt Bierbrauer zu einem Balsamarium, es dürfte allerdings den häufig in spätantiken Kirchen vorkommenden Stecklampen (Uboldi Typ 4,2) für Polykandela zuzurechnen sein.

Ausführlich widmet sich Bierbrauer den beiden aus Säbener Gräbern überlieferten Fibeln, einer Armbrust- und einer Bügelknopffibel. Ihre Verbreitung (Abb. 50) sowie ihre Deutung als Zubehör der Kleidung des Mannes im Gegensatz zu spezifischen Fibeln, die im mittleren und östlichen Alpenraum von Frauen getragen wurden (Kreuz- und Tierfibeln, Abb. 64–65), verbindet Bierbrauer mit einer ethnischen Zuweisung an ‚Romanen‘ bzw. ‚Romaninnen‘ (S. 203–208).

‚Romaninnen‘ einer Oberschicht weist Verf. die Goldtextilien in den Gräbern 100, 162 und 181 zu (S. 211–214), wobei die geschlechtliche Zuordnung der Toten in Grab 162 und Grab 181 ohne anthropologische Bestimmung unsicher ist. In der Grabzeichnung auf Taf. 92 ist zusätzlich für Grab 181 im Fußbereich ein im Katalogtext (S. 339–340) nicht erwähnter Eisengegenstand eingetragen, bei dem es sich wohl, wie bei der zweiten Bestattung 168 in Gruft E auch, um eine eiserne Riemenzunge handelt (Taf. 92,5).

Weiterhin stellt Bierbrauer vier ‚baiovarische‘ Männergräber mit Waffen und vielteiligen Gürtelgarnituren sowie zwei ‚baiovarische‘ Frauengräber mit Gürtelketten vor (S. 227–251). Bei der Datierung des Frauengrabes 64 „in das letzte Viertel bzw. an das Ende des 7. Jahrhunderts“ (S. 245) bezieht sich Verf. auf den Beitrag zu den Säbener Perlen von Ursula Koch (Band 2, S. 561–602), zitiert sie jedoch falsch (beginnendes 8. Jahrhundert, ebd. S. 578).

Im Exkurs „Christliche Jenseitsvorstellungen und romanische Beigabensitten“ (S. 251–284) analysiert und interpretiert Verf. sorgfältig die historischen Quellen zu christlichen Jenseitsvorstellungen und stellt fest, dass sich mit ihrer Hilfe die Beigabenlosigkeit christlicher Gräber begründen lasse: Die christliche Auffassung der resurrectio corporis stehe eindeutig im Gegensatz zu „paganen Totenritualen“(S. 258).

Die folgenden beiden Abschnitte sind den ‚romanischen‘ Beigabensitten (S. 258–278) und dem ‚romanischen‘ Bestattungsritual (S. 278–284) gewidmet. In ihnen stellt Bierbrauer die Kennzeichen ‚romanischchristlicher‘ Gräber zusammen: 1. die regelhafte (christlich begründete) Beigabenlosigkeit oder aber 2. eine auf wenige Gegenstände reduzierte Beigabe (Messer und/ oder Kamm) bzw. eine reduzierte Schmuckbeigabe in Frauengräbern sowie 3. Mehrfachbestattungen in Grüften oder steinumfassten Gräbern. Als Vergleichsebene zu Säben zieht Verf. weitere Fundorte aus dem Alpenraum und aus Oberitalien heran.

Die Erläuterungen zur ethnischen Interpretation (S. 284–291) greifen vieles auf, was bereits in den vorherigen Abschnitten dargelegt wurde. Präzisiert wird darüber hinaus die spezifische Situation in Säben, inklusive einer nochmaligen detaillierten Charakterisierung sowohl der ‚romanischen‘ als auch der ‚germanischen‘ Gräber; letztere weist Volker Bierbrauer den ‚Baiovaren‘ zu, wobei die archäologisch begründbare Chronologie und Generationenabfolge der Säbener Gräber die von historischer Seite vielfach angezweifelte frühe Präsenz von ‚Baiovaren‘ südlich des Brenners vor der ersten Erwähnung des bairischen Grafen von Bozen 661/662 bereits um 600 bzw. im frühen 7. Jahrhundert wahrscheinlich mache (S. 307). Bei der Frage nach der Herkunft der Säbener ‚Baiovaren‘ – aus dem Inntal oder aus dem bairischen Altsiedelland – legt sich Bierbrauer nicht endgültig fest, bevorzugt jedoch die zweite Variante. Um in dieser Frage zu konkreteren Ergebnissen zu gelangen, soll die am Bozener Institut geplante, bisher noch ausstehende anthropologische Bearbeitung des Säbener Skelettmaterials durch Strontiumisotopenanalysen ergänzt werden (S. 308).

Insgesamt bezieht Bierbrauer in seine ausführlichen Behandlung der ethnischen Aspekte der Grabfunde – hauptsächlich fokussiert auf die Widerlegung der Thesen von S. Brather (vgl. bes. S. 259–260; 279) – die bestehende Diskussion in der Frühmittelalterarchäologie mit ein, ohne daraus jedoch für seine Deutungen der Säbener Gräber Konsequenzen abzuleiten. Es sei betont, dass an der generellen Aussagekraft des archäologischen Quellenmaterials in historischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht trotz aller begründeten Einzelkritik nicht zu zweifeln ist. Dennoch hätte man sich vielfach eine vorsichtigere Auslegung gewünscht, wobei insbesondere dezidiert ethnische Einzelfallzuweisungen wie „romanisierte Langobarden“ (S. 271), „baiovarisierte Romanen“ (S. 287), „germanisierte Romanen“ (S. 301) oder „romanisierte Baiovarinnen“ (S. 309) zu hinterfragen sind.

Die Abschnitte „Soziologische Interpretation“ (S. 309–312) und „Bestattungen im Kirchengebäude – Chronologische, ethnische und soziale Aspekte“ (S. 313–314) greifen zusammenfassend und ergänzend wiederum viele Gedanken auf, die in den vorherigen Kapiteln behandelt und erörtert wurden. Die Unsicherheiten, die – vergleichbar mit der ethnischen – auch mit der sozialen Einordung und Deutung von frühmittelalterlichen Grabfunden verbunden sein können, werden teilweise thematisiert; bei der Interpretation der Säbener Gräber legt sich Verf. jedoch fest: Er identifiziert Frauengräber einer ‚romanischen‘ sowie Männer- und Frauengräber einer ‚baiovarischen‘ Oberschicht, die „ab der Zeit um 600 bzw. ab dem ersten Drittel des 7. Jahrhunderts“ in Form einer „Sepulturgemeinschaft“ in der ‚Kirche am Hang‘ in Erscheinung treten (S. 314).

Unter der Überschrift „Wo siedelten die auf dem Burgberg Bestatteten?“ stellt Bierbrauer einige Fundstellen im Eisacktal vor; sie charakterisieren beispielhaft das spätantik-frühmittelalterliche Siedlungsumfeld, das für eine Herkunft der „bei weitem überwiegenden Mehrheit“ der in Säben bestatteten Toten in Frage käme (S. 315–319). Die von anderen Forschern favorisierte Alternative einer umfangreicheren Besiedlung des Burgberges selbst lehnt Verf. ab.

Das Kapitel „Die Gräber und Bestattungen“ schließt mit dem Gräberkatalog (S. 320–348) sowie den Listen 3–5 (S. 349–353) ab. Es folgen Zusammenfassungen in deutscher (S. 365–377), italienischer (S. 379–401) und englischer Sprache (S. 403–425), ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 427–476), ein Abbildungsverzeichnis (S. 477–478) sowie ein Ortsregister (S. 479–485).

 

Band 2 beinhaltet auf 220 Textseiten Beiträge und Detailstudien zahlreicher Autoren zu verschiedenen Themen, darunter Materialanalysen, Bergungs-, Konservierungs- und Restaurierungsberichte zu ausgewählten Grabbeigaben (Gürtelketten aus den Gräbern 64 und 177, Gehänge aus Grab 177, Goldfingerring aus Grab 64). Allein zwei der Beiträge – von Roswitha Goedecker-Ciolek (S. 513–520) und Ina Schneebauer-Meißner (S. 521–560) – befassen sich mit den Goldtextilien aus den Gräbern 100, 162 und 181. Wie im frühen Mittelalter üblich, waren auch die Säbener Goldlahne ursprünglich um nicht mehr erhaltene textile Fäden (Seelen) gewickelt. Bemerkenswert sind die von den Restauratorinnen festgestellten unterschiedlichen Techniken der Goldfadenverzierungen an der Kleidung: In den Gräbern 100 und 181 wurden Bortenfragmente mit in den Gewandstoff eingewebten Goldfäden nachgewiesen, während es sich bei den Fäden aus Grab 162 um eine applizierte Stickerei handelt (S. 520; 531).

Der Beitrag von Ursula Koch zu den Perlen aus den Säbener Gräbern mit Typisierung, Datierung und ausführlichem Katalog (S. 561–602) hebt einmal mehr die Bedeutung hervor, die dieser lange Zeit unterschätzten Objektgruppe bei der chronologischen Einordnung frühmittelalterlicher Grabfunde sowie der Bewertung von Mechanismen regionaler Formenentwicklungen zukommt.

Marcus Zagermann widmet sich auf S. 603–635 den Keramikfunden, namentlich „Terra Sigillata, Feinkeramik, Gebrauchskeramik und Amphoren vom Säbener Burgberg (Ausgrabungen 1978 bis 1982)“, wobei hier offenbar die Funde aus allen Grabungsflächen vorgelegt werden, also neben der ‚Kirche am Hang‘ auch aus der spätrömischen Siedlung westlich der Marienkirchen. Das Spektrum nordafrikanischer Sigillata umfasst 18 Gefäße und gehört mit den Formen Hayes 61A, 61B, 87, 12/102 und vermutlich Hayes 73 überwiegend ins 5. Jahrhundert. Die vollständig überlieferte Lampe Atlante XA1a (Abb. 1,3,8.20) datiert aufgrund des verwaschenen Dekors in die zweite Hälfte des 6. bzw. in das frühe 7. Jahrhundert. Von 17 Amphoren liegen Fragmente vor, die mehrheitlich Lebensmittel aus Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum enthielten. Anders als die Überschrift vermuten lässt, sucht man in Zagermanns Beitrag die laut Vorbericht in der Grabung zahlreich vertretene Hauskeramik (hierzu Bierbrauer/ Nothdurfter 1988, 253–268 Abb. 2; 3) vergebens. In Text und Katalog finden sich überdies keine Angaben zum Fundkontext der Keramikfunde. Beides ist bedauerlich, scheint doch an diesem Fundplatz und seiner im Vorbericht beschriebenen Stratigraphie eine seltene Möglichkeit zur Verfeinerung der spätantiken Keramikchronologie gegeben zu sein. Es ist daher sehr zu hoffen, dass in ‚Säben II‘ das vollständige Fundmaterial in den zugehörigen Schichtzusammenhängen vorgelegt wird.

Als Ergänzung zu Bierbrauers Befundbeschreibungen im ersten Band können die Beiträge von Nothdurfer (S. 637–644) sowie ders. und Peter Gamper (S. 647–664) verstanden werden, die neben Befundbeschreibungen zu den liturgischen Einbauten auch Vorschläge zu deren Rekonstruktion bzw. zur baulichen Gestalt der gesamten Kirchenanlage bieten.

Der Beitrag von Rajko Bratož ist dem „Metropolitansprengel von Aquileia vom 5. bis zum frühen 7. Jahrhundert“ gewidmet (S. 665–700). Ausführlich stellt Verf. die spärlichen schriftlichen Quellen vor und diskutiert ihre Aussagekraft mit besonderem Schwerpunkt hinsichtlich der Bistumsgeschichte von Sabiona.

An die Beiträge in Band 2 schließt sich der Tafelteil an. Er enthält mehrheitlich farbige Fotos von den Baubefunden der ‚Kirche am Hang‘ (Taf. 1–64), ergänzt um Fundzeichnungen der Kleinfunde aus der Kirchengrabung (Taf. 65–70). Auf den Tafeln 71–144 sind die Bestattungen in Umzeichnungen und Fotos sowie die Grabbeigaben abgebildet.

Die Qualität aller graphischen Darstellungen im Text- und Tafelteil (Bände 1 und 2) sowie in Band 3, der die Beilagen 1–36 enthält, ist durchwegs hervorragend und entspricht dem hohen Standard, dem sich die „Münchner Beiträge“ verpflichtet fühlen. Der sorgfältigen Redaktion entgingen lediglich kleinere Ungenauigkeiten (S. 191 Z. 5: Verweis auf Beil. 4 statt auf Beil. 3) und grammatikalische Fehler („Zudem sind hier auch beide ethnische Komponenten überliefert“: S. 260, Z. 21; „…ohne der Fürbitte der Heiligen“: S. 310, Z. 28), die jedoch kaum ins Gewicht fallen. Etwas verwirrend ist die nicht näher begründete unterschiedliche Schreibweise von ‚Baiovaren‘ (Band 1, Bierbrauer) bzw. ‚Bajuwaren‘ (Band 2, Beitrag Koch; vgl. auch Beitrag Bratož mit beiderlei Schreibweisen auf S. 691). Der sprachlich wie stilistisch ansprechende Fließtext in Band 1 wird nur in wenigen Ausnahmefällen durch einen weniger attraktiven Aufzählungsstil gestört (S. 194 f.; S. 197 Absatz 3, hier mit Auswirkung auf die Textverständlichkeit).

Das hohe gesellschaftliche und politische Interesse an den Säbener Grabungskampagnen 1978–1982 sowie an der neu erschienenen Publikation (vgl. die Geleitworte des Südtiroler Landrats S. XV f. und des Bischofs von Bozen-Brixen S. XVII f.) spiegelt die Bedeutung wieder, die dem Forschungsprojekt beigemessen wurde, ist doch eine der zentralen Fragestellungen die der ‚baju warischen‘ Expansion über den Alpenhauptkamm und damit der ‚germanischen‘ Aufsiedlung Südtirols. Wie die bis heute nicht vollständig beigelegten Spannungen zwischen den deutsch- und italienischsprachigen Bevölkerungsgruppen zeigen, besitzt der Fall Säben durchaus zeitgeschichtliche Brisanz. Mit der Vorlage und Auswertung der Grabungen auf dem Burgberg besteht nun darüber hinaus für die Frühgeschichtsforschung die Chance, die Diskussion über die ethnische Interpretation von Grabfunden, um neue Aspekte erweitert, sowohl fallorientiert als auch übergreifend weiterzuführen. Der angekündigte, von Rez. mit Spannung erwartete Band ‚Säben II‘ wird zusätzliche Erkenntnisse zur Besiedlung und Funktion dieses bemerkenswerten Platzes bis ins Mittelalter hinein liefern. Damit gehört Säben dann nicht nur zu den am besten untersuchten, sondern vor allem auch zu den wenigen abschließend publizierten Fundorten der Spätantike und des Frühmittelalters im mittleren Alpenraum.

Literatur:

Bierbrauer/Nothdurfter 1988: V. Bierbrauer/H. Nothdurfter, Die Ausgrabungen im spätantik-frühmittelalterlichen Bischofssitz Sabiona-Säben. Der Schlern 62, 1988, 243–300.

Bierbrauer/Nothdurfter 1991: V. Bierbrauer/H. Nothdurfter in Archäologie in Deutschland Heft 3, 12–17.

Bierbrauer 1988: V. Bierbrauer, Invillino-Ibligo in Friaul II. Die spätantiken und frühmittelalterlichen Kirchen. Münchner Beitr. Vor-u. Frühgesch. 34 (München 1988).

Bierbrauer 1998: V. Bierbrauer, Arianische Kirchen in Noricum mediterraneum und Raetia II? BVbl. 63, 1998, 205–226.

Bierbrauer 2004: RGA2 XXVI, 69–73 s. v. Säben.

Bierbrauer 2005: Die Ausgrabungen im spätantik-frühmittelalterlichen Bischofssitz Sabiona-Säben. In: W. Gandi (Hrsg.), Romanen und Germanen im Herzen der Alpen zwischen 5. und 8. Jahrhundert (2005) 331–349.

Gairhos/Janosa 2011: S. Gairhos/M. Janosa, Eine spätantike Kirchenanlage mit Baptisterium auf Hohenrätien bei Sils im Domleschg/Graubünden. Helvetia Archaeologica 42, 2011, H. 166/167, 63–100.

Glaser 1996: F. Glaser, Kirchenbau und Gotenherrschaft. Auf den Spuren des Arianismus in Binnennorikum und in Rätien II. Der Schlern 70, 1996, 83–100.

Glaser 1997: F. Glaser, Die frühchristliche Doppelkirche von Säben. Rekonstruktion, Deutung und Datierung. Der Schlern 71, 1997, 730–736.

Gleirscher 1996: P. Gleirscher, Die vorklosterzeitlichen Kleinfunde. In: H. R. Sennhauser (Hrsg.), Müstair Kloster St. Johann 1. Zur Klosteranlage. Vorklösterliche Befunde (Zürich 1996) 121–198.

Gleirscher 2013: P. Gleirscher, Der Vinschgau im Frühmittelalter – Archäologisches. In: H. R. Sennhauser (Hrsg.), Wandel und Konstanz zwischen Bodensee und Lombardei zur Zeit Karls des Großen (Zürich 2013), 19–42.

Janosa 1999: M. Janosa, Ein frühmittelalterliches Gräberfeld in Haldenstein – Archäologische Untersuchungen auf dem „Stein“ und in der „Pündta“. Jahresber. Arch. Dienst Graubünden Denkmalpfl. Graubünden 1999, 28–42.

Nothdurfter 2003: H. Nothdurfter, Frühchristliche und frühmittelalterliche Kirchenbauten in Südtirol. Katalog der frühchristlichen und frühmittelalterlichen Kirchenbauten in Südtirol. In: Sennhauser 2003, 273–355.

Rettner 2002: A. Rettner, Ausgewählte Kleinfunde aus den Gräbern und den spätantik-frühmittelalterlichen Schichten. In: A. Antonini, Sion, Sous-les-Scex (VS) I. Ein spätantik-frühmittelalterlicher Bestattungsplatz: Gräber und Bauten. Cah. Arch. Romande 89 (Lausanne 2002) 193–236.

Schneider-Schnekenburger 1980: G. Schneider-Schnekenburger, Churrätien im Frühmittelalter auf Grund der archäologischen Funde. Münchner Beitr. Vor-u. Frühgesch. 26 (München 1980).

Sennhauser 2003: H. R. Sennhauser (Hrsg.), Frühe Kirchen im östlichen Alpengebiet. Von der Spätantike bis in ottonische Zeit. Bayer. Akad. Wiss. Philosoph.- Hist. Kl. Abh. N. F. 123 (München 2003).