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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Holger Meyer/Christoph Schmitt/Stefanie Janssen/Alf-Christian Schering (Hgg.)

Corpora ethnographica online. Strategien der Digitalisierung kultureller Archive und ihrer Präsentation im Internet

(Rostocker Beiträge zur Volkskunde und Kulturgeschichte 5), Münster u.a. 2014, Waxmann, 320 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Helmut Groschwitz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 04.09.2018

Dass die digitalen Medien und Verarbeitungsmöglichkeiten in den vergangenen Jahren eine ungeahnte Entwicklung genommen haben, ist wohl ebenso ein Gemeinplatz geworden wie die Klage darüber, dass die Anwendungsstrukturen für die umfangreichen ethnographischen Sammlungen und Archivalien den technischen Möglichkeiten (auch aufgrund fehlender Ressourcen) weit hinterherhinken. Die Bewunderung für die Fülle an Quellen – von Feldnotizen über Briefe bis hin zu ausgearbeiteten Materialsammlungen –, die von Forschern seit dem 18. Jahrhundert noch ohne die Hilfe von Computern und Datenbanken zusammengetragen und erschlossen wurden, zeigt sich wohl bei allen, die mit solchem historischen Material arbeiten. Diese Fülle ist wissenschaftliche Chance und methodische Last zugleich, denn selten dürfte jemand den Schatz an Informationen, der sich in den Sammlungen und Archiven befindet, so gut kennen wie einst die Erhebenden bzw. die „Gatekeeper“, die Archivare und Kustoden. Und so steht das wissenschaftliche Potenzial einer Sammlung häufig in einem eigenartigen Missverhältnis zu Nutzung und Benutzbarkeit. Hier bietet sich der Einsatz digitaler Medien und Arbeitsumgebungen an, die nicht nur geeignet sind, eine große Menge an Material zu erfassen und zu strukturieren, sondern auch neue Formen der Erschließung und Darstellung sowie weiterer Erhebungen bereitzustellen. Diese Problemlagen, die mittlerweile unter dem Label der Digital Humanities firmieren, waren auch Ausgangspunkt der Tagung „Corpora ethnographica online. Strategien der Digitalisierung kultureller Archive und ihrer Präsentation im Internet“ vom 26. bis 28.9.2012 in Rostock, deren Ergebnisse in Form von 23 Beiträgen mit der hier zu besprechenden Publikation vorliegen.

Nach der Einführung von Christoph Schmitt sind die Beiträge in fünf Themenblöcken angeordnet. In „I. Akteure ethnographischer Feldforschung online“ werden aktuelle Projekte zu vorhandenen Nachlässen, Sammlungen und Archiven – u. a. von Alexander von Humboldt, Walter B. Spencer und Francis J. Gillen, Richard Wossidlo, Adolf Spamer und Boris Orel – mit ihren jeweiligen Herausforderungen vorgestellt. Der zweite Block „II. Online-Spezialarchive zur Erzähl- und Liedforschung“ behandelt spezielle Plattformen, die sowohl der Bereitstellung von Digitalisaten als auch der Kooperation dienen. „III. Digitale Museen“ widmet sich den Schnittstellen von Depot, Museumskatalog und Internet sowie den damit verbundenen Möglichkeiten der Vernetzung. Gerade die Möglichkeiten der Einbindung in übergeordnete Strukturen der Bereitstellung werden in „IV. Fachportale, Archiv- und Bibliotheksportale“ angesprochen, vom Katalog der wissenschaftlichen Sammlung über das Sondersammelgebiet Volks- und Völkerkunde bis hin zur Deutschen Digitalen Bibliothek. Der letzte Block „V. Nachhaltigkeit (analoge Langzeitsicherung)“ ist mit seiner analogen Ausrichtung hier nur scheinbar paradox angesichts der Tatsache, dass die digitale Langzeitsicherung nach wie vor ein ungelöstes Problem ist.

Da Kurzzusammenfassungen der inhaltlichen Tiefe der durchwegs lesenswerten Beiträge unangemessen wären, sollen im Folgenden zentrale Aspekte des Bandes herausgegriffen werden. Die Digitalisierung selbst, also die Verwandlung analoger Archivalien und Sammlungsbestände in Dateien, werden vor allem in Hinblick auf die nötigen finanziellen Ressourcen und technischen Herausforderungen angesprochen. Speziell wenn keine standardisierten Formate vorliegen und die Digitalisierung per Hand erfolgen muss, werden die Besonderheiten des heterogenen ethnographischen Materials sichtbar. Eng damit verbunden sind die Fragen nach der Erfassung und Erschließung der Digitalisate, für die – gerade bei handschriftlichen Notizen und nicht standardsprachlichen Tonaufzeichnungen – nach wie vor keine technischen Lösungen vorliegen. Die mühsame Arbeit des Transkribierens, teilweise unterstützbar durch kollaborative Möglichkeiten des Crowdsourcings (also der Beteiligung freiwilliger Mitarbeiter über das Internet), ist eine der zentralen und zeitaufwändigsten Schnittstellen zwischen Material und Computerumgebung. Dabei erlauben es die technischen Möglichkeiten auch, Sammlungen zu vereinen, die in physischer Form auf verschiedene Standorte verteilt sind.

Das gastgebende Projekt WossiDiA, das digitale Wossidlo-Archiv in Rostock, zeigt hierbei eine besonders anregend ausgearbeitete Form der Erschließung auf. Durch die Mehrfachvernetzung von Digitalisaten in sogenannten „Hypergraphen“, also je nach Person, Ort, Beruf, Begriff, Medium usw., wird es möglich, das digitalisierte Material nicht nur auf eine einmalige Weise durchsuchbar zu machen, sondern auch Anknüpfungspunkte für weitere Archivbestände zu schaffen. Eine Feldnotiz mit einem Begriff, einem Namen und einem Ort lässt sich mit weiteren Quellen z. B. für eine Begriffsgeschichte, eine Biographie oder eine Ortschronik verwenden. Ebenso lassen sich hier schon vorhandene Texte und Bücher, etwa Auswertungen und Forschungsarbeiten, mit einbinden. Deutlich wird hierbei aber auch das Schnittstellenproblem und das Ringen um gemeinsame Standards, die jenseits der technischen Aspekte vermutlich mit die größten Schwierigkeiten darstellen.

Eine besondere Herausforderung bleiben die Möglichkeiten des Auffindens von relevanten Digitalisaten in übergreifenden Plattformen wie etwa der Deutschen Digitalen Bibliothek. Hier wird im Grunde die gigantische Menge an Informationen und Material sichtbar, die durch die Digitalisierung erstmals in die Reichweite einer umfassenden Betrachtung rücken – und sich durch ihre schiere Fülle gleichzeitig wieder entziehen. Abgesehen von den nötigen Aufgaben einer sinnvollen Erschließung und Strukturierung stellt sich insgesamt aber auch eine Frage, die Christoph Schmitt zu Recht am Anfang stellt: Soll man wirklich alle Dinge ins Licht rücken – oder gibt es Argumente dagegen? Gerade diese editions-ethischen Aspekte sind nach wie vor noch wenig beleuchtet.

Der Tagungsband macht deutlich, dass die aktuellen Arbeiten der Digitalisierung, Erschließung, Vernetzung und Präsentation wiederum nur ein Zwischenschritt sind. Weder sind sie abschließbar, da neue Fragestellungen unter Umständen auch neue Formen der Auswertung erfordern, noch stellt selbst ein komplett digitalisiertes und erschlossenes Archiv einen Endpunkt dar – es bleibt ein Instrument für Forschende, für die die Arbeit meist hier erst beginnt. Was der Band logischerweise noch nicht leisten kann, das sind die Fragen nach dem „Wie geht es weiter?“, die sich beim Lesen aufdrängen. Wie werden sich Arbeitsweisen angesichts der aktuell entstehenden Datenmengen verändern? Wie verändern sich die Sammlungen, wenn sie digitalisiert und tiefgehend erschlossen werden? Welche neuen Arbeitsroutinen entstehen und wie verändern sich damit die Wahrnehmungen? Wie wirken die Sammlungen in ihrer Zugänglichkeit wiederum auf weitere Akteure zurück? Diese Fragen machen deutlich, dass die Digitalisierung ethnographischer Sammlungen auch weiterhin eine interdisziplinäre Aufgabe bleiben wird, wie es im vorliegenden Band bereits sichtbar wird, speziell auch in der Zusammenarbeit von Fachwissenschaften und Informationstechnologie. Deutlich werden aber auch die Probleme, die den in der Regel doch durchaus aufwändigen Projekten in der Förderlandschaft begegnen. Denn die meisten Digitalisierungsprojekte sind damit konfrontiert, dass für eine langfristige Aufgabe (und jede Datenbank ist nur so gut wie ihre Pflege) in der Regel nur befristete Projektförderungen zur Verfügung stehen.

Ein wenig paradox mutet an, dass der Tagungsband angesichts des Themas beim Verlag nur als Druckwerk und nicht als E-Book erhältlich ist, eine PDF-Fassung findet sich nur versteckt auf der Projektwebsite. Gerade angesichts des enormen Entwicklungstempos technischer und struktureller Möglichkeiten bei der Digitalisierung wäre zudem zu fragen, ob die gewohnten Arbeitsabläufe und die Reihung von Tagung, Vortrag, Publikation nicht erweitert werden könnten, etwa indem die vorliegenden Beiträge bei späterem Projektstand ergänzt oder zumindest mit Links auf neuere Arbeiten versehen werden können. Für eine künftige Tagung zur Digitalisierung und dem daraus entstehenden Tagungsband mag das als Anregung dienen. Bis dahin sei das vorliegende Buch als fundierte Anregung für digitale Projekte wärmstens empfohlen.