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Ken McGoogan

Dead Reckoning. The Untold Story of the Northwest Passage

Toronto 2017, Patrick Crean Editions, 448 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Frank M. Schuster
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.08.2018

Zusammen besprochen mit:

Gudrun Bucher, Abenteuer Nordwestpassage. Der legendäre Seeweg durch die Arktis, Darmstadt 2013, Primus, 224 Seiten mit Abbildungen

Gudrun Bucher, Die Entdeckung des Nordpazifiks. Eine Geschichte in 44 Objekten, Darmstadt 2017, Philipp von Zabern, 256 Seiten mit Abbildungen, meist farbig

Die Arktis ist wieder stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Dokumentarfilme bringen einem die eigentlich abgelegene Region im wahrsten Sinne des Wortes näher. Klima- und Wetterveränderungen führten dazu, dass sich nicht nur eine Handvoll Wagemutiger mit dem nötigen Kleingeld an Bord von eistauglichen Forschungsschiffen selbst ein Bild davon machen kann. Wer möchte, kann die nördlichen Polarregionen heute auch auf Kreuzfahrten bereisen. Das anhaltende Interesse an dieser eisigen Welt und ihren Bewohnern ist aber keineswegs neu und nicht nur auf die Natur beschränkt. Auch die Geschichte der Suche nach der Nordwestpassage, dem kurzen Seeweg von Europa nördlich um den nordamerikanischen Kontinent herum nach Asien, fasziniert die Menschen noch immer. Die Entdeckung der Wracks der HMS Erebus 2014 und der HMS Terror 2016 war weltweit in den Nachrichten und Schlagzeilen. Die beiden Expeditionsschiffe der britischen Marine waren 1845 losgesegelt, um die langgesuchte Passage nun endlich zu finden. Da sie mit der damals neuesten Technik ausgerüstet waren und man glaubte, den Arktischen Archipel und die dort herrschenden Bedingungen inzwischen ausreichend gut zu kennen, waren sowohl die britische Admiralität als auch Presse und Öffentlichkeit fest davon überzeugt, dass Sir John Franklins Expedition Erfolg haben würde. Doch sie verschwand und es sollte ein knappes Jahrzehnt dauern, bis die ersten Informationen darüber nach Europa gelangten, was geschehen war, und weitere fünf Jahre, bis man zum Ort des Scheiterns gelangen konnte. Seitdem wird die Frage nach dem Warum und dem Wie dieses Scheiterns diskutiert und die Suche nach Antworten fortgesetzt [1]. Die Geschichte dieses tragischen Untergangs auf King William Island stellt sogar bis heute die erste erfolgreiche Durchfahrt durch die Passage des Norwegers Roald Amundsen 1903-1906 in den Schatten. Bis Anfang 2018 wurde die erste große internationale Ausstellung zu Franklins Expedition in London gezeigt, die anschließend noch in Kanada und den USA zu sehen ist [2].

Deshalb verwundert es nicht, dass zur Geschichte der Arktis und der Nordwestpassage in jüngster Zeit mehrere Werke erschienen sind, die nicht nur aus historischer, sondern zum Teil auch aus ethnologischer und kulturanthropologischer Sicht von Interesse sind. Sie thematisieren einerseits das Leben und Überleben der Europäer in der ihnen fremden und feindlichen Welt der Arktis und nehmen andererseits die Begegnung mit der indigenen Bevölkerung und ihre Rolle bei der Entdeckungsgeschichte in den Blick. Der kanadische Publizist, Schriftsteller und Arktisreisende Ken McGoogan verfasste bisher ein knappes Dutzend Werke zur kanadischen Geschichte, darunter allein vier Monographien zu einzelnen Aspekten der Entdeckungsgeschichte der Arktis. In seinem fünften, jüngst erschienenen Buch zum Thema erhebt er nun den Anspruch, die Geschichte der Nordwestpassage neu zu erzählen, denn „[t]he twenty-first century demands a more inclusive narrative of Arctic exploration – one that accomodates both neglected explorers and forgotten First Peoples“ (6). Darüber hinaus sei auch zu berücksichtigen, was man inzwischen über das Klima wisse. Er räumt allerdings ein, das Buch sei eher erzählend als analytisch, eher literarisch als akademisch (4). Nichtsdestoweniger will er damit die ‚offizielle‘ Geschichtsschreibung in Frage stellen und das Geschichtsbild geraderücken.

Deshalb verwendet er als Titel seines mit etlichen Schwarz-Weiß-Abbildungen illustrierten Buches auch einen Begriff aus der Fachsprache der Segelschifffahrt: ‚Dead Reckoning‘ ist der englische Begriff für die ‚Koppelnavigation‘, d. h. die Bestimmung der eigenen Position auf See nicht anhand von Fixpunkten wie der Sonne oder Gestirnen, sondern ausgehend von einem bekannten Punkt, von dem man sich wegbewegt, indem man Kurs, Geschwindigkeit und Strömung zu berücksichtigen versucht. McGoogan sieht dabei wohl die offizielle Nationalgeschichte als Ausgangspunkt, jene Geschichte, die während des Zeitalters der Entdeckungen, um die es in seinem Buch geht, dank populärwissenschaftlicher Journale und Berichte etabliert und mit Hilfe von Denkmälern und Medaillen in das kulturelle Gedächtnis einer nationalen Öffentlichkeit Eingang fand. Der Titel ist allerdings auch eine inhaltliche Anspielung, denn diese Art der Navigation war auf Grund der geographischen und meteorologischen Bedingungen in der Arktis oft die einzige Möglichkeit zur Positionsbestimmung. Aber wie der englische Name schon sagt, führten solche Berechnungen häufig in den Tod. Hier ist das natürlich auch als Anspielung auf den oft tödlichen Ausgang der Arktisexpeditionen zu verstehen – insbesondere jener, die sich die Erfahrungen der indigenen Völker nicht zu eigen machten.

Das Werk, das sich über weite Strecken wie ein spannender Roman liest, beginnt mit den Reisen von Kaufleuten und Abenteurern wie Martin Frobisher und John Davis im 16. Jahrhundert, Henry Hudson, Robert Baylot, William Baffin und Jens Munk im 17. Jahrhundert. Die Begegnungen mit den Inuit, die zu Missverständnissen und zum Teil auch Gewalt führten, werden hier nur knapp erwähnt. Es überrascht, dass deren bis heute vorhandene mündliche Überlieferung hier nicht etwas ausführlicher behandelt wird, vor allem angesichts der zuvor gemachten Ankündigung. Zumindest die Erzählungen über die Begegnung mit Frobishers Expedition wurden in den 1860er Jahren und im 20. Jahrhundert gesammelt und jüngst auch von Autoren wie David C. Woodman und Dorothy Harley Eber in Untersuchungen zur ‚oral history‘ analysiert [3], auf die sich McGoogan an anderer Stelle auch stützt. Erst in den Kapiteln zum 18. Jahrhundert wird er ausführlicher, wenn er außer von James Knights Verschwinden in der Arktis auch von der kaum bekannten Thanadelthur erzählt. Der jungen Indianerin vom Stamme der Dene, die bei den Cree aufgewachsen war, gelang es in Knights Auftrag, einen für die Hudson Bay Company vorteilhaften Frieden zwischen den beiden verfeindeten Stämmen herbeizuführen. Auch für Samuel Hearne bei seinen Entdeckungsreisen zur arktischen Küste Kanadas spielten beide Stämme eine wichtige Rolle, die McGoogan, wie schon in seiner Monographie zum Thema [4], ausführlich würdigt.

Da er eine Gegengeschichte zur heldenhaften Entdeckergeschichte erzählen will, liegt der Schwerpunkt seines Buches natürlich auf dem 19. Jahrhundert, als die königlich britische Marine vor allem aus nationalen Prestigegründen sich auf die Suche nach der Passage machte. Auf deren erster Expedition war 1818 mit Hans Zacheus auch ein Südgrönländer mit dabei, der als John Sekeouse in die Geschichte einging. Er verdolmetschte die erste Begegnung auf dem Eis zwischen den englischen Kapitänen Ross und Parry in ihren marineblauen Uniformen und den nordgrönländischen Inuit in ihren Pelzen, die bis dahin noch keinen Weißen gesehen hatten. Diese interkulturelle Begegnung, die Sekeouse sogar in einer Zeichnung festhielt, sollte der Höhepunkt der Reise bleiben. Der kommandierende John Ross erkannte den Eingang in die gesuchte Passage nämlich nicht und kehrte unverrichteter Dinge wieder heim. Erst William Edward Parry sollte ein Jahr später die Durchfahrt durch etwa die Hälfte der Passage gelingen. Dass ihm dabei die starken Klimaschwankungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugutekamen, erwähnt der Autor ebenso wenig wie Parrys zweite Reise, auf der die Entdecker zwei Winter mit den Inuit verbrachten. Auch andere für die weiteren Expeditionen wichtige Inuit werden nicht erwähnt.

Ohnehin wird das, was McGoogan über die Entdeckungsreisen erzählt und welche er behandelt, zunehmend selektiv. Dass John Franklins erste Überlandexpedition unter schwierigen Umständen stattfand und organisatorisch ein Fiasko war, bei dem die Hälfte der Teilnehmer umkam und ohne einheimische Hilfe wahrscheinlich alle umgekommen wären, trifft zwar zu. Dass dies vorrangig an der Unwilligkeit des Expeditionsleiters lag, der angeblich nicht bereit war, über seinen Schatten zu springen, um sich auf die indigene Lebensweise einzulassen, ist aber eine Argumentation, die die damaligen Möglichkeiten, Denk- und Sichtweisen europäischer Entdecker zu wenig berücksichtigt. Wie seine zweite Landreise zeigt, war John Franklin durchaus in der Lage, aus seinen Fehlern zu lernen und sich, wenn auch nur begrenzt, anzupassen. Dass auch diese Reise gefährlich war und ohne Hilfe anders verlaufen wäre, ist unbestritten. Ob die Interpretation, dass auch sie ein Beinahedesaster war - ein Eindruck, den McGoogans Darstellung beim Leser hinterlässt -, tatsächlich zutrifft und sich mit den vorhandenen Quellen und Überlieferungen deckt, ist fraglich. Es sind aber die Einheimischen der kanadischen Subarktis und Arktis sowie mehr noch die Trapper und Pelzhändler der nordischen Handelskompanien wie der Hudson Bay Company, die sich deren Lebensstil anpassten, denen McGoogans Sympathie vorrangig gilt. Verglichen mit ihnen, geben die britischen Entdecker ein schlechtes Bild ab.

McGoogans Darstellung lässt gelegentlich die nötige Differenziertheit vermissen und tendiert etwas zu Schwarz-Weiß-Malerei. Die aus wissenschaftlicher Sicht geforderte hermeneutische Distanz fehlt McGoogan insbesondere zu John Rae. Dabei war er es, der Raes lange vergessene Verdienste bei der Kartierung der kanadischen Arktis und der Aufklärung des Schicksals der Franklin-Expedition in seiner vielgelesenen Biographie wieder in Erinnerung brachte [5]. Die Fragen, wer nun aber eigentlich die Nordwestpassage entdeckte, wer den entscheidenden Beitrag zur Aufklärung des Schicksals der Franklin-Expedition lieferte und wer warum dafür wie geehrt wurde, waren im 19. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Damals waren Entdecker noch Nationalhelden, selbst oder erst recht, wenn sie gescheitert waren. Aus wissenschaftlicher Sicht bringen einen die Antworten auf solche Fragen im 21. Jahrhundert aber nicht recht weiter und wirken anachronistisch.

Doch leider gilt gerade diesen Antworten im weiteren Verlauf des Buches zunehmend das Interesse des Autors. Man wird ausführlich über den an sich nicht uninteressanten Streit und die Londoner Intrigen um die Deutungshoheit über die Entdeckungsgeschichte der Nordwestpassage informiert [6], statt mehr über die indigenen Völker der Arktis zu erfahren. Vergleichsweise kurz werden ihre Geschichten abgehandelt. Der heute weitgehend unbekannte Eenoolooapik, Bobby genannt, kam beispielsweise mit englischen Walfängern freiwillig nach England. Seine Schwester Tookoolito (Hanna) folgte ihm mit ihrem Mann Ebierbing (Joe), um dann in den 1860er und 1870er Jahren mit amerikanischen Franklin-Suchern in die Arktis zurückzukehren und jahrelang Informationen über die untergegangene Expedition zu sammeln. Nach den eingangs gemachten Ankündigungen erwartete man ohnehin etwas mehr zu diesen mündlichen Überlieferungen und ihrer Bedeutung bei der Entdeckung der Schiffe.

Ken McGoogans Buch erfüllt die eigenen hohen Ansprüche nur zum Teil, da auch auf das Klima nur an einer Stelle kurz eingegangen wird (63 f.). Wer sich mit dem Thema auskennt, wundert sich ohnehin über seine Behauptung, niemand hätte die Geschichten der indigenen Völker und der kartierenden Pelzhändler in eine dem 21. Jahrhundert angemessene Überblicksdarstellung zur Entdeckung der Nordwestpassage integriert (2). Abgesehen davon, dass in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielzahl von Einzelstudien erschienen ist, die genau das tun, liegt seit 1999 auch eine Überblicksdarstellung der englischen Polarhistorikerin Ann Savours vor [7], die diesen Ansprüchen gerecht wird. Im Einzelnen zwar teilweise weniger detailliert und naturgemäß nicht mehr auf dem allerneuesten Forschungsstand, bietet es aber ein vollständigeres und komplexeres Bild der Entdeckungsgeschichte der Nordwestpassage als McGoogans Werk.

Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Gudrun Bucher sich in ihrer ebenfalls chronologischen Darstellung der Geschichte der Nordwestpassage, die über die renommierte Wissenschaftliche Buchgesellschaft vertrieben wird, an diesem Standardwerk der historischen Forschung orientiert. Sie erweitert es aber beispielsweise um ein Kapitel zur russischen Arktisforschung im 18. Jahrhundert. Darüber hinaus ergänzt die Ethnologin und Geologin, die die Polargebiete mehrfach bereiste, ihr durchweg kritisch reflektiertes Buch noch um thematische Kapitel. Darin beschreibt sie zum einen ausführlich das Leben der, wie es in der Kapitelüberschrift heißt, „Menschen in der Nordwestpassage“ (165), analysiert ihre Begegnungen mit den europäischen Entdeckern und geht auch auf die jüngste Geschichte ein. Ihr ethnologischer Ansatz in diesem Kapitel, der analytisch über das eher Darstellerische der vorangegangenen Kapitel, wie wir es auch bei McGoogan finden, hinausgeht, erweist sich als sehr erhellend. Zum anderen liefert sie die politischen und ökonomischen Hintergründe der Debatte, um den rechtlichen Status der Nordwestpassagen, die aus kanadischer Sicht Binnenwasserstraßen, nach Meinung anderer, allen voran der USA, aber internationale Schifffahrtswege sind. Sie befasst sich auch ausführlicher als McGoogan mit dem Klimawandel und dem Tourismus sowie der Geographie. Dadurch werden nicht nur die Hintergründe klarer, die mit dazu beitrugen, dass die Entdeckung von Erebus und Terror ein so starkes Medienecho auslöste. Da Buchers Werk, die einzige deutschsprachige, wissenschaftlich fundierte Darstellung zum Thema [8], schon 2013 erschien, konnte die Autorin das aber weder ahnen noch die Bedeutung der ‚oral history‘ der Inuit für die Entdeckung der Schiffe und die Neurekonstruktion des Untergangs der Franklin-Expedition thematisieren.

Man ist versucht sich zu fragen, wie anders das Werk wohl ausgesehen hätte, wenn es erst einige Jahre später erschienen wäre und die Autorin nicht nur von der Entdeckung der Schiffe, sondern auch von der sich daran anschließenden Ausstellung Kenntnis gehabt hätte.

In ihrem zweiten, ebenfalls von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft vertriebenen, jüngst erschienenen Buch zur Entdeckung des Nordpazifiks verfolgt Gudrun Bucher nämlich methodisch und narrativ einen anderen, innovativeren Ansatz. Statt chronologisch auf Grundlage der Berichte der Entdecker vorzugehen, erzählt sie, wie es im Untertitel heißt, „Eine Geschichte in 44 Objekten“. Geschichte anhand von Museumsexponaten zu erzählen, ist spätestens seit 2010 und dem aufsehenerregenden Projekt des damaligen Direktors des ‚British Museum‘ Neil MacGregor, das die Weltgeschichte in 100 Objekten präsentierte, nicht neu [9]. Zu einer ähnlichen Darstellungsweise inspirierte Bucher wahrscheinlich eher die Reaktion der indigenen Bevölkerung auf die Artefakte aus der Vergangenheit, denn diese nahm „die Objekte als Erinnerungshilfen zum Erzählen von langen Geschichten, deren Inhalte von Gesang und Pantomime unterstützt wurden“ (242).

Bei den Objekten, die zwischen 1771 und 1841 in die ethnographischen Sammlungen deutscher Museen und Archive gelangten, handelt es sich, von einigen zeitgenössischen Karten und Illustrationen abgesehen, um Alltags- oder Kultgegenstände der indigenen Stämme und Völker des nordpazifischen Raumes von Hawaii bis zur Beringstraße, von Alaska bis Kamtschatka und Ostsibirien: Schmuck, Kleidungsstücke, Taschen, Angelhaken, Waffen, Boots- und Schlittenmodelle etc. Dass diese heute in Deutschland zu finden sind, ist kein Zufall. Zwar waren auch an den Expeditionen, die vor allem von Osten - vom Atlantik aus - die kanadische Arktis erschließen wollten, nicht nur Briten beteiligt, sondern gelegentlich auch andere Europäer, wie der sorbische Missionar und Dolmetscher Johann August Miertsching oder der böhmische Auswanderer und Abenteurer Heinrich W. Klutschak, die sich beide an der Franklin-Suche beteiligten [10]. An der Suche des kurzen Seewegs von Westen aus und der Erschließung des Pazifischen Raumes nahmen aber oftmals Wissenschaftler oder Offiziere aus deutschen Landen teil – angefangen bei den Naturalisten auf James Cooks Reisen bis hin zu dem mehrfachen Weltumsegler und Gouverneur von Russisch-Amerika, dem späteren Alaska, Ferdinand von Wrangel. Sowohl bei der russischen Marine als auch in der Wissenschaft nahmen Deutsche, oft aus dem Baltikum, führende Positionen ein. Mit dem Erwerb ihrer einzigen Überseekolonien in Alaska und Kalifornien und der Gründung der Russisch-Amerika Kompanie Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts war Russland auf Versorgungsverbindungen dorthin angewiesen. Da Reisen zu Lande durch Sibirien sehr beschwerlich waren und man zu Wasser um die ganze Welt reisen musste, begann man, sich auch von St. Petersburg aus auf die Suche nach der kürzeren Nordwestpassage zu machen. Außerdem versuchte man die Beziehungen zu den verschiedenen indigenen Völkern zu verbessern und deren Lebensweise zu erforschen, um das Leben in den Kolonien zu sichern und wirtschaftliche Vorteile zu erzielen. Gudrun Bucher erzählt die Geschichte von diesen nicht immer einfachen interkulturellen Beziehungen zwischen der lokalen Bevölkerung untereinander und zu den Europäern, auch dank der farbig abgebildeten Artefakte, auf eine sehr anschauliche Weise. Sie ergänzt damit die Geschichte der Entdeckung der Arktis um bisher nahezu unbekannte Facetten. Nicht nur ethnographisch sind ihre beiden Bücher dabei von Interesse, sondern auch verflechtungsgeschichtlich und kulturwissenschaftlich, da sich in ihnen nicht nur das Bild der indigenen Völker widerspiegelt, sondern auch das des damaligen Europa und seine Reflexionen in der Gegenwart.

Aus diesem Blickwinkel lohnt sich daher nochmals ein Blick auf Ken McGoogans ‚Dead Reckoning‘, denn auch wenn die Geschichte(n), die in dem Buch erzählt werden, so neu nicht sind, wie der Autor die Leser glauben machen will, so ermöglicht es doch eine interessante Positionsbestimmung: Spannender als das, was man über die Vergangenheit erfährt, ist für Volkskundler, aber auch Historiker, vielleicht das, was das Buch uns über das 21. Jahrhundert und seine Sichtweisen auf Geschichte verrät: Dass der Schotte John Rae, der Inuk William Ouligbuck Jr. und der Ojibway-Indianer Thomas Mistegan am 6. Mai 1854 in Nebel, Sturm und Kälte am Ufer einer bis dahin unbekannten Wasserstraße standen und nach King William Island hinüberstarrten, bevor sie beschlossen umzukehren (267), war für die Beteiligten, nach allem, was man weiß, wahrscheinlich nicht außergewöhnlich. Sie wussten zu dem Zeitpunkt weder, dass sich der Untergang der Franklin-Expedition, nach der sie suchten, auf der Insel gegenüber zugetragen hatte, noch konnten sie auch nur im Entferntesten ahnen, dass Amundsen ein halbes Jahrhundert später auf seinem Weg durch diese Passage an dieser Stelle vorbeikommen würde. Für ihre Nachfahren und für Ken McGoogan, einen Kanadier mit schottischen Wurzeln, wird dies retrospektiv zu einem erhabenen Moment, da sie über dieses Wissen verfügen. Darüber hinaus entspricht es auch dem Wunschbild vieler Menschen des 21. Jahrhunderts von einem friedlichen Zusammenleben und einer erfolgreichen Kooperation verschiedener Nationen zum Erreichen gemeinsamer Ziele. An dieser Stelle 1999 eine Gedenkplakette an diesen Augenblick zu hinterlassen (404 f.), die Touristen und anderen Reisenden auf den verworrenen Wegen durch die Nordwestpassage und ihre Geschichte als Orientierungspunkt dienen kann, mag daher sinnvoll gewesen sein. Mit dem, was da vor 145 Jahren tatsächlich geschehen ist, hat es wenig zu tun. Hier werden Vorstellungen der Gegenwart in die Vergangenheit zurückprojiziert.

Das Geschichtsbild der Menschen, ihr kulturelles Gedächtnis, wird ohnehin viel stärker von Bildern und symbolischen Akten geprägt als von historischer Forschung. Ken McGoogan hätte sonst sicher nicht das Gefühl, gegen ein Geschichtsbild anschreiben zu müssen, das er als orthodox britisch und offiziell ansieht – freilich ohne dabei klar zu sagen, gegen welche Autoren und Werke er sich konkret wendet. Eine solche Sicht ist aber in der neuesten Forschung, wenn überhaupt, höchstens noch am Rande zu finden. Dass publikumswirksame Aktionen von symbolischem Wert besser geeignet sind, um John Rae als zeitgemäßen Helden zu etablieren, hat auch McGoogan erkannt. Rae passt sicherlich besser zu dem Bild, das sich viele heutzutage, im Zeitalter von Survival-Serien im Fernsehen und Survival-Camps als Managertraining, von einem Entdecker machen. Ob allerdings die Errichtung von neuen Heldendenkmälern – das bis Ende des 19. Jahrhunderts wirkmächtigste Mittel, um ein offizielles Geschichtsbild im kulturellen Gedächtnis zu verankern –, wie McGoogan es in seinem Buch und anderswo propagiert, auch heute noch das geeignetste Mittel dafür ist, wage ich zu bezweifeln. Im Rückgriff auf die Methoden und nationale Symbolakte der Vergangenheit spiegelt sich vielmehr die paradoxe Situation des 21. Jahrhunderts wider: Globalisierung und multikulturelles Zusammenleben auf der einen Seite und wieder auflebender Nationalismus auf der anderen Seite. John Rae steht aus Ken McGoogans Sicht offensichtlich für beides: Mit seiner Erfahrung in der kanadischen Wildnis steht er symbolisch für das interkulturelle Zusammenleben, dient aber zugleich auch als Nationalsymbol eines schottischen oder auch kanadischen, gegen England gerichteten Nationalismus, der sich in den für ihn errichteten Denkmälern manifestiert. Die heutige Jugend, die sich als ‚Digital Natives‘ in virtuellen Räumen genauso sicher bewegt wie in der Realität, nimmt die Denkmäler im öffentlichen Raum erfahrungsgemäß nicht mehr in ihrer symbolischen Bedeutung wahr. Erfolgversprechender erscheinen mir bei der Vermittlung von Vergangenheitsbildern deshalb eher Filme oder die erwähnten multimedial begleiteten Ausstellungen. Die Faszination, die von den Artefakten ausgeht, die Aura des Originals, worüber sich schon Walter Benjamin, Franz Boas und Aby Warburg ihre Gedanken machten, scheint nämlich, wie diese oder auch Buchers jüngstes Buch zeigen, ungebrochen.

 

[1] Russell A. Potter: Finding Franklin. The Untold Story of a 165-Year Search. Montreal u. a. 2016.

[2] Zu der Ausstellung ist ein kleiner Katalog erschienen: Karen Ryan: Death in the ice. The shocking story of Franklin’s final expedition. Gatineau, QC 2017.

[3] David C. Woodman: Unravelling the Franklin Mystery. Inuit Testimony. 2. Aufl. Montreal u. a. 2015, S. 38-40; Dorothy Harley Eber: Encounters on the Passage. Inuit Meet the Explorers. Toronto u. a. 2008, S. 3-11.

[4] Ken McGoogan: Ancient Mariner. The Amazing Adventures of Samuel Hearne. The Sailor who Walked to the Arctic Ocean. Toronto 2003.

[5] Ken McGoogan: Fatal Passage. The Untold Story of John Rae, the Arctic Adventurer who Discovered the Fate of Franklin. Toronto 2001.

[6] S. dazu ausführlich auch Ken McGoogan: Lady Franklin’s Revenge. A True Story of Ambition, Obsession and the Remaking of Arctic History. Toronto 2005.

[7] Ann Savours: The Search for the North West Passage. New York 1999. Auch Glyn Williams: Voyages of Delusion. The Search for the Northwest Passage in the Age of Reason. London 2002; ders.: Arctic Labyrinth. The Quest for the Northwest Passage. London u. a. 2009, geht explizit auf diesen Themenbereich ein.

[8] Das Buch des Dokumentarfilmers Peter Milger: Die Nordwestpassage. Der kurze aber tödliche Seeweg nach China oder die Gesellschaft der Abenteurer. Köln 1994, war zwar auch eine fundierte historische Darstellung, vor allem aber ein Bericht über seine Reisen Anfang der 1990er Jahre auf den Spuren der Entdecker in die Arktis und das Begleitbuch zur dabei entstandenen Fernsehserie des Hessischen Rundfunks.

[9] Neil MacGregor: A History of the World in 100 Objects. London u. a. 2010.

[10] Während biographische Studien zu beiden noch im Entstehen sind, liegt zu der Expedition, an der Miertsching beteiligt war, inzwischen eine Monographie vor: Glenn M. Stein: Discovering the North-West Passage. The Four-Year Arctic Odyssey of H.M.S. Investigator and the McClure Expedition. Jefferson, NC 2015.