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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Elija Horn

Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–1933

(Historische Bildungsforschung), Bad Heilbrunn 2018, Julius Klinkhardt, 285 Seiten mit 6 Abbildungen
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.04.2019

Zu den bemerkenswertesten Phänomenen der Religionsgeschichte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik gehört die Vielfältigkeit damaliger neuer Glaubensmöglichkeiten und alternativer Religionsvorstellungen, die sich neben der evangelischen und katholischen Kirche aus verschiedenen Gründen allmählich in der Gesellschaft, und hier zunächst vor allem im intellektuellen, reformerischen und alternativen Milieu, herauszubilden begannen. Neben Buddhismus und Hinduismus fing auch der Siegeszug von Theosophie und Anthroposophie an, die West mit Ost, Tradition mit Moderne und Wissenschaft mit Religion zu versöhnen suchten. In deren Fahrwasser entstanden bald etliche moderne zivilisationskritische Religionssurrogate wie Mazdaznan oder Neugeist, ganz zu schweigen von den zahlreichen, auf den beiden großen Kirchen fußenden, christlichen Abspaltungen, aber auch religiöse Gruppierungen, die sich für altnordisch-germanische Religionsvorstellungen – oder das, was man dafür hielt beziehungsweise sich selbst zusammenstellte – interessierten.

Im Kern ging es dabei um eine neue Sinnstiftung in einer als unübersichtlich geltenden Welt, in der die christliche Kirche in Konflikt mit den Weltdeutungen der modernen Wissenschaft geriet und aufgrund dessen die gebildete Schicht und das alternative Milieu nicht mehr zu überzeugen vermochte; manch einer verwendete die „neue Spiritualität“ auch schon mal als Mittel der sozialen Abgrenzung, da sie mit körperlichen Praktiken des „Selbst“ bzw. der individuellen Selbstoptimierung – Yoga, Autosuggestion, Vegetarismus etc. – verknüpft werden konnte. Zwar schlug sich, darauf hat Helmut Zander hingewiesen, die Distanz zu christlichen Religionen nicht in schwindenden Mitgliederzahlen nieder: Bezogen auf die Gesamtzahl aller Religionsmitglieder in Deutschland zwischen 1900 und 1925 lag der prozentuale Anteil an Mitgliedern jener neuen Religionsgemeinschaften lediglich bei 0,3 bis 2,5 Prozent. Aber dennoch führte die Debatte zu einer kulturell beachtlichen Rezeption alternativer Welterklärungssysteme.

Wenn auch die Erforschung derartiger nichtchristlicher Bezugssysteme jahrzehntelang vor allem an den wissenschaftlichen Rändern stattgefunden hat, ist deren Rezeptionswirkung mittlerweile so gründlich verlaufen, dass das Thema in Lehre und Forschung akzeptiert ist. Dennoch gibt es zahlreiche Lücken. Zu ihnen gehört die Tatsache, dass es trotz etlicher Studien zu einzelnen Elementen dieses als „Asienrezeption“ charakterisierten Phänomens, das sich zunächst in den Alternativkulturen der damaligen Zeit verbreitet hat, bislang noch keine Gesamtstudie gegeben hat, die das Thema breitflächig monografisch untersuchte. Die Arbeit von Elija Horn, der sich in seiner 2016 in Hildesheim bei Meike Sophia Baader und Michael Mann abgeschlossenen Dissertation mit der Asien- bzw. Indienrezeption in der deutschen Jugendbewegung und Reformpädagogik und ihren kulturellen Rändern und Überlappungen befasst, füllt diese schmerzliche Lücke nun aus.

Schon mit seinem Titelzitat weist Horn auf die Mehrbödigkeit seiner Studie hin: Zum einen steht das 1920 erschienene Buch von Paul Cohen-Portheim „Asien als Erzieher“ in der – von Julius Langbehns Buch „Rembrandt als Erzieher“ von 1890 ausgelösten – „Tradition“ aufrüttelnder zivilisationskritischer Weckrufe der Zeit, zum zweiten verweist es auf die Idee der, in der reformpädagogischen Szene verbreiteten, Idee der Erziehung als Erlösung und zum dritten greift es die Suche in der damaligen Alternativbewegung nach „Identität“ mithilfe eines unkritischen hegemonial gedachten Asientopos auf. Diese drei Motive spannt Horn in die Orientalismusthesen von Edward Said ein, der „Orientalismus“ als Beschäftigung des Westens mit dem Orient zwecks Verstetigung der eigenen kulturellen Dominanz definiert, die zu Exotisierung, Essentialisierung und Enthistorisierung des Orients und damit zur kulturellen Konstruktion des Orients als des „Anderen“ führt (15).

Vor dieser Folie befasst sich Horn zunächst ausführlich mit dem bislang vernachlässigten übergeordneten Zusammenhang zwischen Reformdiskursen und Orientalismus ab etwa 1900, bevor er sich mit der Rezeption von Indiendiskursen in der westlichen Erziehung seit dem 18. Jahrhundert auseinandersetzt, um anschließend die Indienauffassung in Reformpädagogik und Jugendbewegung zu untersuchen. Einer der interessantesten Kniffe von Horn besteht dabei darin, dass er nicht nur den theoretischen Indiendiskurs und die praktische Umsetzung innerhalb der Reformbewegung untersucht, sondern auch die realen Begegnungen in den Blick nimmt: zum einen die Besuche indischer Vorbilder in reformpädagogischen Schulen in Deutschland, andererseits aber auch, und hier kann Horn entlarvende Analysen bringen, von deutschen Reformpädagoginnen, die in Indien ganz direkt ihren idealisierten Orientalismus den realen Verhältnissen aussetzen und zu komplett ernüchternden Ergebnissen gelangen; ernüchternd deshalb, weil selbst die direkte Konfrontation mit dem „Anderen“ immer noch durch die „Orientalismusbrille“ erlebt wird. Wie Horn schreibt, können „Indophilie“ und „Indophobie“ ganz dicht beieinanderliegen (252).

Horns Fazit liest sich ernüchternd: Reformpädagogik und Jugendbewegung bleiben dem üblichen westlichen hegemonialen Asiendiskurs verhaftet und halten – zum Beispiel durch die überwiegende Ablehnung der Unabhängigkeitsbestrebungen Indiens – an der Vorstellung der gängigen kolonialen Machtverhältnisse fest. Die Indophilie der Alternativbewegungen ist daher reiner Selbstzweck: Im Wesentlichen geht es um eine Selbstreflexion der kulturkritischen und neureligiösen Stimmung vorwiegend der bürgerlich-protestantischen Mittelschichten der vorvorletzten Jahrhundertwende, deren Vorstellungen von „Neuer Erziehung“ einem romantischen Bild des „natürlichen“ Kindes zugrunde liegen, deren Heilsvorstellungen vor der Folie Indiens als „natürlicher“ Sehnsuchtsort funktionieren und deren spirituelle Fluchten in indische Religion münden: „Das Indische erfüllt hier – in Verknüpfung mit dem Religiösen – die Aufgabe eigene Denkansätze und Ansichten zu festigen und zu begründen.“ (255) Der reale Kolonialismus wird weder selbstkritisch betrachtet noch in Frage gestellt; dazu ist das beschönigende Bild von Indien zu wirkmächtig. Der Orientalismus in Jugendbewegung und Reformpädagogik ist damit selbst kolonial grundiert. Es ging damals – und es geht heute, denkt man an die moderne Alternativbewegung und ihre bürgerliche beziehungsweise verbürgerlichte Asienrezeption – schlicht um die eigene Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung und Selbstprofilierung. Bei den nächsten VHS-Kursen über Yoga und „Achtsamkeit“ sollte man daran denken, was man da mit Indien macht.

Das Buch von Elija Horn ist von beeindruckender inhaltlicher und analytischer Bandbreite – einziger Kritikpunkt wäre das fehlende Personenregister – und bietet über sein historisches Thema hinaus Anlass, gerade in einer Epoche erneuter Indienrezeption, über das eigene Bild von Asien zu reflektieren. Mehr kann ein Fachbuch nicht leisten.