Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Peter Michalzik

1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies

Köln 2018, DuMont, 414 Seiten
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.04.2019

Dass dieses Buch im Rezensionsteil eines wissenschaftlichen Jahrbuchs besprochen wird, ist auf ein kommunikatives – der Rezensent nennt es mal: – „Missverständnis“ zurückzuführen; ausgelöst vom herausgebenden DuMont-Verlag, dessen mehrdeutig formulierter Werbe(‑Klappen)text einen wissenschaftlichen Anteil des unter der Rubrik „Sachbuch“ beworbenen Werkes suggeriert, den es jedoch nicht hat: „Peter Michalzik zeichnet in ‚1900‘ ein bilderreiches, vielstimmiges Panorama vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Eindrücklich und höchst anschaulich bringt er uns das aufregende Denken und Leben bekannter Persönlichkeiten nahe. Ob die faszinierenden Richthofen-Schwestern oder der halluzinierende Friedrich Nietzsche, ob der einsiedlerische Hermann Hesse oder der schlaflose Max Weber – sie alle dachten das Leben neu und kreierten eine Gegenkultur, die bis heute wirksam ist. Reformpädagogik und Körperkult, Psychologie und freie Liebe, Pazifismus, Wellness und Vegetarismus – all dies entdeckten zivilisationskritische Künstler, Intellektuelle und Visionäre vor über hundert Jahren. So ist es die inspirierende Geschichte vom Glanz, Niedergang und Fortleben einer großen Glückssuche auf einem Berg im Süden, die der Autor uns hier erzählt.“ (Klappentext bzw. Werbetext auf www.buchhandel.de)

Anhand der – zugegebenermaßen etwas blumigen – Beschreibung sowie der Einordnung des Verlages als „Sachbuch“ ging der Rezensent (naiverweise) davon aus, dass es sich bei dem vorliegenden Werk, verfasst von dem studierten Germanisten und wissenschaftlichen Dozenten Peter Michalzik, um einen weiteren historisch-wissenschaftlichen Beitrag zu dem gegenwärtig boomenden Thema „Lebensreform“ handelt. Er musste allerdings feststellen, dass es sich bei dem Buch nicht um ein faktenbezogenes wissenschaftsorientiertes – ja noch nicht einmal populärwissenschaftliches – Sachbuch, sondern vielmehr um eine romanhaft-semifiktive Erzählung handelt, die vor der Folie eines realen historischen Hintergrunds positioniert ist. Das Buch ist daher hinsichtlich Aussagewert und Erkenntnisgewinn von keinerlei Relevanz für die Forschung. Die Besprechung des Buches für den Rezensionsteil dieser Zeitschrift hat deshalb nur die Funktion zu veranschaulichen, dass es nicht hierher gehört.

Dass es sich bei diesem Buch, dessen Werbetext sich in allerlei raunenden Andeutungen um die angeblichen Eigenschaften von (auch damals) mehr oder weniger bekannten historischen Persönlichkeiten um 1900 erschöpft, um eine weitere Geschichte um den Monte Verità bei Ascona am Lago Maggiore, einen zentralen beziehungsweise sich als zentral gerierenden Schnittpunkt der Untergrundkultur um 1900, handelt, können darüber hinaus nur diejenigen erahnen, die mit dem internen Hinweis auf die „Glückssuche auf einem Berg im Süden“ etwas anfangen können. Nun gibt es mittlerweile zur Untergrundkultur der Zeit um 1900 und besonders zum Monte Verità eine unüberschaubare Anzahl an Literatur: Fach- und Sachbücher, Erzählungen, Dramen und Romane, biografisches Material und Reisebeschreibungen sowie nicht zuletzt Spezialarchive und Fachbibliotheken. Die Bewohner und Besucher dieser frühen alternativen Aussteigersiedlung – männliche und weibliche Vegetarier, Nacktkulturler, Theosophen, Okkultisten und Lebenskünstler aller Art, Ausdruckstänzer, Literaten, Maler etc. – selbst haben unzähliges (auto)biografisches Material hinterlassen, die zeitgenössische Werbung hat die Bedeutung des Berges weiter aufgepumpt, und seit den spektakulären Ausstellungen von Harald Szeemann ab 1978 gibt es bis heute eine ungeheure Fülle an wissenschaftlichen Studien zum Monte Verità und seinem kulturellen Umfeld.

Zu all diesem Material ist nun – fast zeitgleich mit den Publikationen von Stefan Bollmann, Mona De Weerdt und Andreas Schwab sowie am Rande auch von Udo Bermbach – das Buch von Peter Michalzik hinzugekommen, und er versucht sich mit den Quellen an einem anderen Ansatz: Gleichsam als unsichtbarer Zeitgenosse beschreibt er die Geschichte des Berges aus der Sicht seiner unzähligen Bewohner, nimmt Teil an ihren angeblichen Gedanken, formuliert ihre möglichen Motive, erzählt ihre geheimen Wünsche und begleitet ihre individuellen Taten und Handlungen. Um sich der besonderen Nähe zu den Akteuren zu versichern, gleichsam als zeitgenössischer Vertrauter des Ensembles zu erscheinen, nennt Michalzik überwiegend nur deren Vornamen, und die Fülle an Idas, Henris, Gustos, Rudolfs, Claires und wie sie alle hießen, suggeriert eine Vertraulichkeit mit historischen Personen, die phasenweise nicht nur regelrecht anbiedernd wirkt, sondern sich im Spekulativen erschöpft – und die Lesenden verwirrt –, kann doch in der Tat niemand wissen (auch nicht anhand des Quellenstudiums), wie sich das Personal des Berges damals tatsächlich gefühlt hat.

Darüber hinaus fehlen auch jegliche, die Szenerie von damals erhellende Zutaten wie Literaturverzeichnis, Anmerkungen oder Abbildungen; gerade Letzteres hätte der Plastizität, die der Autor offensichtlich angestrebt hat, sicherlich gut getan. Das kurze Nachwort vermag das nicht auszugleichen. Alles in allem dürfte der Inhalt des Buches lediglich den Fachleuten verständlich sein, aber genau diese benötigen es nicht.

Noch ein Nachsatz zu den Werbemethoden des Verlages: Wer auf seinen Verlagsseiten eine Sequenz einer Buchbesprechung abdruckt („als wäre es ein Roman“, Hannelore Schlaffer, FAZ), die vorgeblich Positives suggeriert, aber im Kontext der Gesamtrezension tatsächlich negativ gemeint ist – wie Hannelore Schlaffer das Buch auch insgesamt verreißt –, muss sich ernsthaft fragen lassen, ob er das nötig hat.