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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Udo Bermbach

Richard Wagners Weg zur Lebensreform. Zur Wirkungsgeschichte Bayreuths

(Wagner in der Diskussion 17), Würzburg 2018, Königshausen & Neumann, 254 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.05.2019

Die Modernisierungsschübe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Industrialisierung, Verstädterung, Mechanisierung und Kapitalismus sowie ihren Umweltveränderungen und sozialen Verschiebungen lösten im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert vielfältige Reformbewegungen aus, die sich als gedankliches und handlungsorientiertes Korrektiv verstanden und etliche antiindustrielle und kapitalismuskritische Zukunftsvisionen und Gegenutopien entwarfen. Auf der Basis einer Reformierung des spezifischen Lebensstils, der mit zivilisationskritischen Konzepten unterfüttert wurde, setzten die Reformbewegungen auf verschiedenste, sich zum Teil widersprechende „alternative“ Entwürfe. So entstanden rasch etliche sehr verschiedene zivilisationskritische Gruppen wie Heimatschutz-, Jugend-, Gartenstadt-, Tierschutz-, Frauen-, Bodenreform-, Kunsterziehungs- oder Volkshochschulbewegungen. Unter so vagen gemeinsamen Schlagworten wie „Erneuerung“ beziehungsweise „Regeneration der Menschheit“ konnte dabei jede dieser Richtungen ihre spezifischen Visionen relativ geschmeidig unterbringen.

Zu diesen modernekritischen Bewegungen gehörte auch die Lebensreformbewegung, deren Ziel eine selbstbestimmte und gesunde Gemeinschaft in einer als „natürlich“ charakterisierten Umwelt war und zu deren lebenspraktischen Zutaten eine gesunde Ernährung, natürliche Heilmittel, ein natürliches Körperbewusstsein und eine natürliche Wohnumgebung gehörten. Ihr Ziel wollte sie über eine selbständige Veränderung des Individuums erreichen, dessen Selbstreform zur Gesellschaftsreform zu führen hatte. Zur politischen Legitimierung und gesellschaftlichen Rechtfertigung ihrer Utopie bediente sich die Lebensreformbewegung bei prominenten zivilisationskritischen Stichwortgebern aus Kultur, Politik, Philosophie und Gesellschaft, die als vermeintliche Vordenker und Vorläufer der Lebensreform angeblich ähnliche Auffassungen vertraten (aber der Lebensreformbewegung oft fernstanden). Dabei dehnte die Bewegung – und hier beginnt das Problem – den jeweiligen Bezug häufig sehr großzügig und opferte oftmals eine tatsächliche inhaltliche Übereinstimmung einem sprachlich nur losen Verweiszusammenhang, wenn der vermeintliche Vordenker nur prominent genug erschien, um den eigenen Standpunkt zu legitimieren.

Neben Friedrich Nietzsche – natürlich –, Ludwig Klages, Julius Langbehn oder Paul de Lagarde wurde auch Richard Wagner immer wieder als vermeintlich enger Verwandter der Lebensreform herangezogen. Auch in der Forschungsliteratur wird regelmäßig der, zumindest verbale, Zusammenhang zwischen Wagner und der Lebensreform diskutiert. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass Wagner, wie viele andere prominente Kulturkritiker der Zeit auch, in seinen Schriften Konzepte zur „Regeneration der Menschheit“ diskutierte – ein großer Sack, in den vieles hineinpasst –, sondern auch damit, dass er und vor allem sein Bayreuther Kreis sich immer mal wieder mit reformerischen Themen wie Tierschutz und Vegetarismus befasst haben. Dies nimmt der Politikwissenschaftler und Wagnerforscher Udo Bermbach zum Anlass und versucht, einen genaueren Blick auf die Beziehung zwischen Wagner und der Lebensreform zu werfen. Das Grundproblem einer derartigen Rezeptionsforschung liegt auf der Hand: Was ist publizistische Worthülse und was ist tatsächlicher inhaltlicher Bezug? Was ist taktisches Kalkül und was ist gedankliche Kontinuität? Was ist oberflächlicher Verweis und was ist realer Zusammenhang? Wie trennt man Originaläußerung von Rezeption und wie Primär- von Sekundärrezeption? Und: Wie lässt sich das jeweils beweisen?

Es zeigt sich, dass auch Udo Bermbach das Grundproblem, das schon im Titel und Untertitel aufscheint, nicht auflösen kann. Befasst sich Bermbach im ersten Teil des Buches mit Wagners Auffassungen zu Vegetarismus, Vivisektion und Tierschutz und im zweiten Teil mit denjenigen Autoren der Bayreuther Blätter, die die entsprechenden Themen (mit Bezug zu Wagner) behandeln, so versucht er im Weiteren, einzelne (künstlerische) Reformprojekte wie die Mathildenhöhe Darmstadt, die Künstler- und Gartenstadt Hellerau und den Monte Verità sowie zentrale (künstlerische) „Reformpropheten“ wie Karl Wilhelm Diefenbach, Fidus und Gusto Gräser mit Ideen Wagners bzw. Wagner als Stichwortgeber für die Lebensreform in Beziehung zu setzen, wobei Hellerau und Darmstadt wohl kaum zu den genuinen Lebensreformprojekten im engeren Sinn gehörten, sondern eher zu den Umbrüchen in der bildenden Kunst der Zeit zu zählen sind. Hier deutet sich die thematische Unentschiedenheit des Buches an: Geht es um den Einfluss der Lebensreform auf Wagner, den Einfluss lebensreformerischer Ideen Wagners auf sein Umfeld, die Wirkung von Wagners respektive Bayreuths Ideen auf die Lebensreform, den Einfluss der Lebensreform auf die Kunst oder die Wirkung reformerischer Vorstellungen Wagners auf ausgewählte Protagonisten der Lebensreform?

Über diese Unschärfen hinaus schlägt sich das Buch mit zwei weiteren Problemen herum. Zum einen definiert Bermbach „Lebensreform“ nur sehr ungenau. Bezieht er sich zunächst auf eine engere Definition (92: Selbstreform), so weicht er sie später mit der großzügig gehaltenen Begriffserklärung von Klaus Wolbert auf, der in dem großen Lebensreformkatalog von 2001 sehr bewusst gegen die konventionellen Definitionen beinahe jedwede kulturelle Äußerung, inklusive der zeitgenössischen Kunst, unter Lebensform fasst (93). Zudem überblendet Bermbach die Lebensreform mit den sozialen Reformbewegungen insgesamt und bindet zudem noch die vielfältigen zeitgenössischen zivilisations- und kulturkritischen Strömungen, die mit Lebensreform oft kaum etwas zu tun hatten, mit ein, so dass sein Interpretationsrahmen außerordentlich dehnbar wird (94).

Zum andern ist die Quellen- und Literaturbasis, die der Autor heranzieht, insgesamt viel zu schmal und wird zum Teil ungenau rezipiert. So beklagt Bermbach, „dass dieser Zusammenhang zwischen Wagner, Bayreuth und der Lebensreformbewegung in der bisherigen Wagner-Literatur noch nicht thematisiert worden ist“ (12). Dabei hat nicht nur Winfried Schüler bereits 1971 in seiner gründlichen Dissertation über den Bayreuther Kreis ausgiebig die reformerischen, völkischen und zivilisationskritischen Aspekte der Epigonen Wagners anhand der Bayreuther Blätter und zahlloser anderer Quellen analysiert, sondern auch noch 2015 Josef L. Hlade in seiner – zugegebenermaßen äußerst problematischen – Monografie „Auf Kur und Diät mit Wagner, Kapp und Nietzsche. Wasserdoktoren, Vegetarier und das kulturelle Leben im 19. Jahrhundert. Von der Naturheilkunde zur Lebensreform“ ein vergleichbares Thema untersucht. Gerade an Letzterem hätte man sich abarbeiten können. In der Folge werden auch keinerlei lebensreformerischen Quellen (Zeitschriften, programmatische Schriften der Vordenker und Praktiker) auf eine mögliche Wagner-Rezeption hin abgeklopft, sondern lediglich die Bayreuther Blätter als Hauptquelle herangezogen. Eine „Wirkungsgeschichte Bayreuths“ (Untertitel) auf die Lebensreform lässt sich daran kaum erarbeiten.

Ärgerlich sind auch die Ungenauigkeiten, die sich auf den Inhalt des Buches auswirken. So wird etwa behauptet, „direkte Einflüsse Wagners auf Fidus [lassen sich] nicht nachweisen. Er war weder der Musik insgesamt noch der von Wagner stark verbunden, und er spielte auch, soweit ersichtlich, kein Instrument. Jedenfalls finden sich keine einschlägigen Hinweise in seiner Biografie.“ (222) Das tun sie aber doch! Man muss dafür nur den „einschlägigen Hinweisen“ in der maßgeblichen Biografie von Janos Frecot folgen und das Buch nicht nur im Literaturverzeichnis aufführen (und dort auch richtig zitieren: nicht „Jonas“, sondern „Janos“, 96 und 250). Nach Frecot war Fidus nämlich ein „guter Klavierspieler“ (219), lernte „das Werk Richard Wagners kennen“ (219), „war ein Wagner-Verehrer und fantasierte gern auf dem Flügel“ (89) und bezog sich im Programm seines St. Georgs-Bundes ausdrücklich auch auf Wagner (256). Dafür bereichert Bermbach die Forschung mit der belegfreien Interpretation, Fidus‘ angeblich 1910 gemaltes Bild „Lichtgebet“ sei eine „Bildmetapher für die Figur des Parzivals“ (222), obwohl die erste Fassung von 1890 stammt und das Motiv eindeutig in der Zusammenarbeit mit Diefenbach und im Kontext mit dessen Werkgruppen entstanden ist (Frecot, 288). Hier hätte Bermbach deutliche Hinweise finden können, er beließ es bei Fidus‘ Bezügen zu Wagner aber ebenso bei assoziativen Andeutungen wie auch bei anderen Beispielen wie etwa bei Gusto Gräser (233–240), den er ausführlich vorstellt, aber bei dem sich offenbar überhaupt keine Wagnerbezüge finden lassen („Kam ganz ohne Wagner aus“, 234). Warum wird Gräser (und Fidus, der laut Bermbach auch keine direkten Bezüge zu Wagner hat) dann überhaupt behandelt?

Dazu kommen noch etliche Fehler bei den Personennamen: Die Tänzerin heißt nicht „Isidora“ (168 ff.), sondern Isadora Duncan, der Tänzer nicht „Hugo“ (172), sondern Rudolf von Laban, der Historiker Diethart Kerbs heißt nicht „Krebs“ (94), und der Historiker Reinhard Farkas heißt eben auch nicht „Farks“ (118 und 250).

Fazit: Das Buch rezipiert die Quellen und den Forschungsstand zum Thema (aus der Sicht der Lebensreformforschung) nur unzureichend, trennt nur unscharf zwischen Protagonisten und Rezeption und zwischen Stichwortgeber und reiner Assoziation und dehnt angebliche Bezüge zwischen Wagner und der Lebensreform so weit aus, dass das Thema selbst vage und bemüht bleibt: Hauptsache Wagner. Diesen Eindruck kann man haben.