Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Mona De Weerdt/Andreas Schwab (Hg.)

Monte Dada. Ausdruckstanz und Avantgarde

Bern 2018, Stämpfli, 200 Seiten mit 71 Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.05.2019

Die Geschichte der künstlerischen, ästhetischen und gesellschaftskritischen Bewegungen im 20. Jahrhundert kann nicht gerade als untererforscht bezeichnet werden. Gerade in einer Zeit, in der sich entsprechende Jubiläen häufen und die sich aufgrund der gegenwärtigen Krisen und Umbrüche auch über den Rückgriff auf solche Gedenktage neu definiert und positioniert, mangelt es nicht an entsprechender neuer Literatur. Dies gilt in diesem Zusammenhang auch für die damals revolutionäre Kunstrichtung des Dadaismus, der 2016 auf sein 100-jähriges Jubiläum zurückblicken konnte, sowie – und viel stärker noch – für die Geschichte des modernen Ausdruckstanzes, der sich seit seiner Begründung um 1900 unablässig selbst thematisiert, historisiert und feiert und eine mittlerweile unüberschaubare Fülle an hagiografischer und tanzwissenschaftlicher Eigenliteratur produziert hat. Dass Ausdruckstanz und Dada dabei gemeinsame historische Schnittpunkte haben, die sich in den beiden Schweizer Brennpunkten Cabaret Voltaire und Monte Verità zeitweise bündelten, ist in der Forschung zwar lange bekannt und wurde auch immer wieder thematisiert. Es gab jedoch bislang noch „keine umfassende beziehungsweise zusammenhängende Darstellung dieses Themenkomplexes“ (7). Der vorliegende Band – dem drei Symposien vorausgingen und der im Wesentlichen von Vertreterinnen und Vertretern der Geschichte und Kunstgeschichte und der Tanz- und Theaterwissenschaft verfasst wurde – verfolgt daher „zum ersten Mal“ eine „sorgfältige und fundierte Aufarbeitung dieses für die Tanz- und Kunstavantgarde wichtigen kulturellen Erbes“ (7).

Den beiden Schweizer Zentren gemäß befasst sich der Band nach zwei einleitenden Aufsätzen (Mona De Weerdt, Andreas Schwab) zunächst mit dem Cabaret Voltaire und dem Monte Verità und dann mit dem Tanz auf den Dada-Bühnen. Dabei ist zwar das Zeitfenster jener Begegnung nur kurz: Auf dem Monte Verità wurde ab 1913 Ausdruckstanz praktiziert, 1916 erfolgte der Beginn der Zürcher Dada-Phase, und 1919 endet dann die Zusammenarbeit zwischen dem Zürcher Dada und dem Ausdruckstanz Monte Verità‘scher Prägung. In dieser kurzen Zeitspanne hielten sich die Dadaisten bei Rudolf von Laban und seiner Schule auf dem Monte Verità auf, nahmen, wie auch Laban, dort an dem „Anationalen Kongress“ des Okkultisten Theodor Reuß und seinem Ordo Templi Orientis (O.T.O.) teil – beide Gruppen interessierten sich für Spiritismus –, besuchten die Ausdruckstänzerinnen und ‑tänzer die Dada-Abende in Zürich, übernahmen Dadaisten Versionen und Partikel des Ausdruckstanzes für ihre eigenen Veranstaltungen und diskutierten beide Gruppen über unterschiedliche und gemeinsame künstlerische, ästhetische, spirituelle, körperbezogene und utopistische Gesichtspunkte ihrer Avantgardebezüge. Trotz der kurzen Zeitspanne jedoch, in der beide Gruppen miteinander in Berührung kamen, ist der Einfluss dieses Zusammentreffens zumindest im Ausdruckstanz bis heute zu spüren. Daher sind zwischen den Fachartikeln und am Ende des Bandes Bilder, Dokumentationen und Texte über die „zeitgenössische künstlerische Auseinandersetzung mit dem tänzerischen Erbe“ montiert, die beziehungsweise deren Protagonistinnen und Protagonisten sich mit der Rezeption von Dada und Ausdruckstanz befassen.

Wer von Ausdruckstanz und Dada spricht, der meint im Wesentlichen die Hauptfiguren jener Allianz: Rudolf von Laban und Mary Wigman auf der einen und Hugo Ball, Emmy Hennings und Sophie Taeuber-Arp auf der anderen Seite. Im Zentrum des Bandes stehen demgemäß auch genau diese Personen, ihre Wechselwirkungen, Einflüsse, Konzepte und Netzwerke, und in einem zweiten Schritt deren Nachfolger und Epigonen, die die Konzepte und Praktiken weitergaben und weiterentwickelten. So befassen sich allein vier von sechs Artikeln des ersten Teils mit Laban und Wigman und vier von fünf Beiträgen des zweiten Teils mit Emmy Hennings und Sophie Taeuber-Arp, während Hugo Ball neben einem ihm gewidmetem Aufsatz in vielen anderen Abschnitten ohnehin durchgehend präsent ist. Die Verdichtung auf die Hauptpersonen der Allianz zwischen Körper und Kunst und die historische Analyse aus jeweils unterschiedlichen Fragestellungen und Orten, Perspektiven und Sichtweisen auf jene Protagonisten hat den Vorteil, dass der kurze Zeitraum zwischen 1913 und 1919 besonders intensiv ausgeleuchtet werden kann und dadurch die Bedeutung und der Einfluss jener Ereignisse auf die Avantgarde ausgesprochen plastisch hervortreten. Hier greifen die Beiträge hinsichtlich Inhalt und Bezug besonders dicht ineinander und konterkarieren aufs Beste den Vorwurf der multithematischen Beliebigkeit und inhaltlichen Bezugslosigkeit, der Tagungs- beziehungsweise Sammelbänden vielfach – und oft auch zu Recht – gemacht wird.

Die Geschlossenheit des Bandes ist möglicherweise aber auch seine typische Symptomatik. Gerade die Tanzgeschichte/Tanzwissenschaft – der Rezensent nimmt die historischen und kunsthistorischen Beiträge dieses Bandes explizit aus – bleibt, so hat es oft den Anschein, streckenweise doch sehr im eigenen Kokon verhaftet und tanzt tendenziell immer wieder um sich selbst und um die vermeintliche Genialität und kulturelle Sonderstellung der Epigonen. Der historische Kontext und die Einbettung in die Ideen-, Kultur- und Sportgeschichte der Zeit wird zwar verbalisiert, aber nur begrenzt auch geleistet. So werden etwa Rudolf von Labans Ideen und Praktiken um den Körper immer wieder in Bezug zu (auch konservativen) Vordenkern der Zeit wie Friedrich Nietzsche, Ferdinand Tönnies, Wilhelm Wundt, Sigmund Freud oder Charles Darwin gesetzt (45, 47–49) und so eine intensive Rezeptionsarbeit Labans hinsichtlich der vermeintlichen Vordenker suggeriert, tatsächlich aber werden keine entsprechenden Belegstellen aus den Quellen genannt, sondern lediglich die Bücher angeblicher Stichwortgeber ohne Seitenhinweis aufgelistet, so dass sich eventuelle Bezüge nicht nachvollziehen lassen.

Zudem wird zwar auf die Bedeutung des Ausdruckstanzes und Labans auf die „sogenannte Körperkulturbewegung“ (45, 58 f., 93) und insgesamt auf die Körperideologie des „Neuen Menschen“ (58 f.) verwiesen, ohne aber die Termini aus der Sekundärliteratur zu definieren oder in den zeitlichen und kulturellen Gesamtzusammenhang einzubetten, wie ohnehin (sport)historische Forschungsliteratur, die sich nicht explizit auf Tanz bezieht, aber zum Themenumfeld gehört, tendenziell unberücksichtigt bleibt. Die Forschung und die Zeitgenossen definier(t)en „Körperkultur“ in der Regel als Körperauffassungen, die nicht den Turn- und Sportvereinen zuzuordnen waren, nicht als konventionelle Leibesübung anerkannt wurden, in der Regel kommerziell durchgeführt waren und mit gesellschaftlichen Utopien verkoppelt wurden, deren Schlagworte im damaligen Trend lagen (Neuer Mensch). Unter diese Praktiken fielen neben Ausdruckstanz und (Rhythmischer) Gymnastik noch asiatische beziehungsweise als asiatisch aufgefasste Körperübungen sowie Freikörperkultur und Bodybuilding; ihre Protagonisten haben über ihre Körperpraktiken und ‑theorien miteinander Kontakt und aufeinander breiten Bezug genommen. Hier bleibt das Buch aber strikt im Ausdruckstanz stecken. So entstehen Verengungen.

Das Gleiche gilt für den mittlerweile extrem strapazierten Begriff der „Lebensreform“, der nie konkret definiert wird (Gesellschaftsreform durch Lebensreform inklusive Praktiken wie Vegetarismus, Naturheilkunde, Körperkultur und „naturnahe“ Siedlungstätigkeit), und dadurch wirkt sein suggerierter Bezug zum Thema beliebig. Zum einen sind die Dadaisten aufgrund ihres typischen Lebenswandels der Boheme (Alkohol, Tabak etc.) natürlich keine Lebensreformer gewesen. Auf der anderen Seite stellt sich auch die Frage, inwieweit der Ausdruckstanz mit Lebensreform d‘accord ging. So wird Laban aufgrund seiner Monte Verità‘schen Tanzfarm zwar als ernsthafter Lebensreformer bezeichnet. Aber schon der Zeitgenosse Hans Brandenburg, der am Tanzfarmprojekt teilgenommen hatte, vermutete in seiner – im Sammelband leider nicht erwähnten – Autobiografie „München leuchtete“ (479–495) bei dem finanziell ewig klammen Laban lediglich eine Taktik, um sich von dem besessenen Lebensreformer Henri Oedenkoven, dem reichen Besitzer des Berges, monetär unterstützen zu lassen.

Überhaupt scheint, außer den Herausgebern Mona De Weerdt und Andreas Schwab, keine der Tanzwissenschaftlerinnen die reichhaltige Monte Verità-Erinnerungs- und Forschungsliteratur so richtig zu kennen. Typisches Beispiel ist der immer wieder zitierte, für Ausdruckstanz und Dada so wichtige, okkulte O.T.O.-Kongress, der 1917 auf dem Monte Verità stattfand und dessen Hintergründe weder erklärt noch die Forschungsliteratur dazu angegeben werden. Dabei bietet nicht nur die immer noch definitive Theodor Reuss-Biografie von Helmut Möller und Ellic Howe (Merlin Peregrinus. Vom Untergrund des Abendlandes. Würzburg 1986, S. 197–223) präzise Daten und Fakten dazu und verknüpft das Ganze noch ausführlich mit Dada und Ausdruckstanz und den entsprechenden ProtagonistInnen. Auch die intensiv darauf eingehende autobiografische Literatur von Robert Landmann über Jakob Flach bis Curt Riess – die hier ebenfalls nicht verwendet wird – geht auf das Thema ein. Bei einer derlei eklatanten Forschungsignoranz bleibt vieles im Argen.

Das Fazit fällt gemischt aus: Der Band behandelt konzentriert und umfassend ein bislang in der Forschung eher randständiges Thema, aber einzelne Beiträge – vor allem diejenigen aus der Tanzwissenschaft – hätten doch stärker den Anschluss an entsprechende Quellen und an die Forschung suchen sollen.