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Aktuelle Rezensionen


Karin Lahoda

Arbeitsalltag in Werkstätten für behinderte Menschen. Zur Bedeutung von Arbeit, sozialen Interaktionen und rechtlichen Rahmenbedingungen

(Regensburger Schriften zur Volkskunde/Vergleichenden Kulturwissenschaft 33), Münster/New York 2018, Waxmann, 403 Seiten
Rezensiert von Raphael Rössel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.04.2019

Spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gilt individuelle Behinderung in vielen westlichen Gesellschaften als Indikator einer Nichtfähigkeit (produktiv) zu arbeiten[1]. Auch in Deutschland wurden und werden Fragen ob, und wenn ja, wie und wo, welche behinderten Menschen arbeiten können und sollen kontrovers diskutiert. In der Bundesrepublik avancierten Maßnahmen zur (Wieder-)Herstellung von Erwerbsfähigkeit zum prägendsten Element integrativer Behindertenpolitik[2]. Bisher gänzlich unerforscht ist jedoch, wie behinderte Menschen in Deutschland selbst ihre häufig segregierten Arbeitswelten deuteten und deuten [3]. Karin Lahodas Mikrostudie zu zwei bayrischen Werkstätten für behinderte Menschen hat in dieser Hinsicht Pionierarbeit übernommen. Ihre Analyse einer größeren Einrichtung (330 mehrheitlich geistig behinderte Beschäftigte) und einer kleineren Werkstatt (70 körperlich behinderte Menschen) stellt erstmals Handlungsweisen und subjektive Lebensentwürfe der Werkstattbeschäftigten in den Mittelpunkt und löst damit zentrale Forderungen der Disability Studies ein.

Um die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten zu vermessen, untersucht Lahoda die Wechselwirkungen dreier Strukturelemente ihres Alltags: die geleisteten Tätigkeiten selbst, die Interaktionen der Beschäftigten untereinander und mit den Mitarbeitern der Einrichtung sowie die kodifizierten (staatlichen) Anforderungsprofile an die Institutionen und Beschäftigten. Die Arbeit ist in fünf Kapitel unterteilt, wobei die ersten drei jeweils Forschungsfeld, Methodik und Untersuchungsgegenstand ausführlich darlegen und einordnen. Die eigentliche Analyse des Arbeitsalltags findet in einem extensiven Hauptkapitel statt, dessen Ergebnisse eine abschließende Synthese bündelt.

Lahoda zeichnet zu Beginn in einem stellenweise kleinteiligen Forschungsstand Traditionslinien kulturwissenschaftlicher Arbeitsforschung nach. Hiervon ausgehend umreißt die Autorin deutlich stringenter die drei zentralen Begriffe ihrer Studie: „Arbeit“, „Behinderung“ und „Norm(alität)“. Die Verfasserin betont die zu untersuchenden Ambivalenzen von „Arbeit“ zwischen täglicher Last und individueller Selbstverwirklichung, von „Behinderung“ als Selbst- und Fremdkategorisierung sowie vom Wunsch nach gesellschaftlicher „Normalität“ behinderter Menschen einerseits und der freilich täglich gelebten „Normalität“ ihres Arbeitsalltags andererseits (29–36). Diese Hinweise entwerfen das analytische Koordinatenkreuz der Studie und dienen als hilfreicher Wegweiser für die weitere Lektüre.

Hierbei ordnet die Autorin nachvollziehbar ein, dass der Wert der Untersuchung nicht vorrangig im Vergleich der beiden (sehr ungleichen) Einrichtungen besteht, sondern darin, als Fallstudie ein in seiner Bandbreite bisher unbekanntes Panorama der Lebensrealitäten und Selbstdeutungen behinderter Menschen in Werkstätten aufzubauen (38).

Für dieses Vorhaben wählte die Autorin, wie sie im Folgekapitel legitimiert, die teilnehmende Beobachtung. Lahodas Studie basiert neben Gesetzestexten vor allem auf den Aufzeichnungen zu Beobachtungen, Interviews und persönlichen Gesprächen mit Beschäftigten, Mitarbeitern der Werkstatt und Vertretern des kirchlichen Trägers. Diese wurden in mehreren, zeitlich voneinander getrennten Besuchszeiträumen generiert. Diese Herangehensweise erlaubt Lahoda sonst häufig ausgeschlossene Personengruppen zu zentrieren. So fließen – freilich durch die Forschende vermittelt – auch Aussagen zum Beispiel von geistig behinderten Menschen in die Analyse mit ein. Damit kann Lahoda ein bisher (zu) selten eingelöstes Anliegen der Disability Studies, nämlich die heterogenen Stimmen der behinderten Menschen selbst in der Forschung über Behinderung sichtbar zu machen und in den Mittelpunkt zu rücken, in ihrer dicht beschreibenden Untersuchung überzeugend umsetzen.

Im dritten Kapitel stellt die Autorin ihre beiden Untersuchungsorte und den dort beobachteten Personenkreis vor. Lahoda bettet die Einrichtungen in lokale diakonische Strukturen ein und gibt einen kurzen historischen Abriss über den fürsorgerischen Umgang mit behinderten Menschen bis zur Entstehung der Werkstätten für behinderte Menschen. Dieses deskriptive Kapitel wirkt holzschnittartig. Insbesondere die historische Betrachtung (65–71), die auf wenigen Seiten den Umgang mit behinderten Menschen von der Antike bis zu der Entstehung westdeutscher Werkstätten darlegt, verbleibt in einem Kurzstil und nimmt für den folgenden analytischen Teil der Arbeit kaum heuristischen Wert ein. Jedoch verdeutlicht besonders das knappe Kapitelende, dass eine detaillierte, multiperspektivische Zeitgeschichte der Werkstätten für behinderte Menschen in Deutschland noch aussteht und eine enorme Forschungslücke darstellt.

Das fast 300 Seiten umfassende Hauptkapitel kontrastiert individuelle Deutungen der räumlichen, zeitlichen und sozialen Dynamiken des Arbeitsalltags in den jeweiligen Einrichtungen. Es ist weiterhin unterteilt in eine Betrachtung der eigentlichen Werktätigkeiten und des Alltags neben der Arbeit. Anhand der reinen Örtlichkeit, etwa der Werkhallenaufteilung, gelingt es Lahoda aufzuzeigen, wie rehabilitationspädagogische Überlegungen, aber auch die persönlichen Präferenzen einzelner Beschäftigter die täglichen Abläufe vorstrukturieren. Sie arbeitet folgend aus zahlreichen Wortbeiträgen heraus, dass weniger die Art der Tätigkeiten als das reine „Arbeithaben“ einen großen Stellenwert für das Selbstbild der Beschäftigten einnimmt, ihnen ein Widerlegen von Stereotypen über stets fürsorgebedürftige Menschen mit Behinderungen und eine Abgrenzung von als unproduktiv bewerteten Arbeitslosen erlaubt. Der Platz in der Werkstatt ist für viele Beschäftigte besonders wichtig, da auch sie wissen, dass trotz Transitions- und Inklusionsmaßnahmen, wie etwa Praktika oder Außenwerkgruppen, die Quote derer, die aus der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt wechseln, sehr gering bleibt (115). „Drinnen“ und „Draußen“ bleiben für Werkstattangehörige häufig „zwei separate Welten“ (291). Die Autorin weist auch auf die Abhängigkeit der Werkstattarbeit von Firmenaufträgen hin. Die Werkstattleitung kann jedoch nicht nur nach rein wirtschaftlichen Anforderungen agieren, sondern muss rehabilitative und gruppendynamische Überlegungen miteinbeziehen (152). Dabei verdeutlicht die Verfasserin die Unkenntnis der Beschäftigten über die Entscheidungsprozesse der Werkstattleitung. Für sie sind und bleiben es insgesamt vielfach prekäre Arbeitsverhältnisse (340). Die Verfasserin betont aber auch die Solidargemeinschaft unter vielen Beschäftigten trotz vorhandener interner Hierarchisierungen („Fitte“ versus „Schwache“) (276–291).

Gleichermaßen analysiert Lahoda die tägliche Handlungsmacht der Beschäftigten und deren institutionelle Einschränkung. Sie vollzieht den Einsatz der Werkstatträte für Teilhabe in der Öffentlichkeitsarbeit und für Verträge in „Leichter Sprache“ nach, zeigt aber auch, dass die Werkstatträte selbst ebenfalls auf Unterstützungsleistungen des Werkstattpersonals angewiesen sind. Die agency verschiedener Beschäftigter manifestiert sich vielmehr in der Aneignung der zeitlichen Dimension des Arbeitsalltags. Indem sie später erscheinen, ihre Pausen verlängern oder den Dienst früher beenden ist es den Individuen möglich, Protest gegen die von ihnen zu verrichtenden Tätigkeiten oder das auferlegte Pensum zu üben. Das freiwillige Weiterarbeiten vieler bereits verrenteter Beschäftigter stützt andererseits die Grundthese der Autorin, dass für die Beschäftigten die Werkstatt mehr ist als Arbeitsplatz und Ort des Gelderwerbs. Lahoda präsentiert Werkstätten als dynamische, fein austarierte Sozialgefüge, in denen Individuen sich in Gruppen verschieden positionieren können sowie Fähigkeitsanforderungen und Unterstützungsbedarf täglich neu ausgehandelt werden. Das (auftragsabhängige) Tätigkeitsprofil und ihre jeweilige Behinderung geben für viele Beschäftigte zwar die Arbeitsstruktur vor, stehen in ihren Selbstpositionierungen jedoch hinter den sozialen Beziehungen zurück.

Trotz einiger (bei einer solch tiefgehenden Analyse individueller Aussagen und Gespräche wohl kaum zu vermeidenden) Dopplungen, gelingt es Karin Lahoda, einen vielstimmigen Chor der Alltagsdeutungen behinderter Menschen in Werkstätten zu präsentieren. In einer abschließenden, im Verhältnis zur Analyse etwas kurzen Synthese hinterfragt die Autorin die Hierarchisierung zwischen erstem und zweitem Arbeitsmarkt. Besonders die Schlussbemerkung, dass Werkstätten mit ihrer ausdifferenzierten Anpassung von Arbeitsplätzen und Arbeitsrhythmen an individuelle Bedürfnisse auch als Vorbild für den ersten Arbeitsmarkt dienen könnten, verdient es, weitergedacht zu werden (377 f.).

Die 2015 angenommene, nun 2018 publizierte Dissertation hat den Nachteil, zwischenzeitlich erschienene kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung zur Arbeit behinderter Menschen nicht mehr aufnehmen zu können [4]. Dennoch ist diese sehr lesenswerte Studie ein weiterer Meilenstein für die kulturwissenschaftliche Betrachtung der Arbeit behinderter Menschen. Mit ihrem ersten Blick hinter die Türen der Werkhallen, Andachtsräume und Kantinen hat die Autorin auch weitere Türen für dieses immer noch junge Forschungsfeld geöffnet.

 

 

[1] Zur Genese der Vorstellung von Menschen mit Behinderungen als ökonomisch unproduktiv s. mit Blick auf die USA: Sarah F. Rose: No right to be idle. The Invention of Disability, 1840s–1930s. Chapel Hill 2017.

[2] Vgl. Elsbeth Bösl: Die Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik aus Sicht der Disability History. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2010, H. 23, S. 6–12.

[3] Bertold Scharfs kommende Studie zu den Arbeitswelten behinderter Menschen in der DDR verspricht jedoch, diese Forschungslücke deutlich zu verkleinern.

[4] So z. B. die Sonderausgabe der Fachzeitschrift Disability Studies Quarterly zum Thema „Disability, Work and Representation: New Perspectives“: Disability Studies Quarterly 37 (2017), H. 4, online unter: dsq-sds.org/issue/view/199 [21.9.2018].