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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Helen Hahmann

Wir singen nicht, wir sind die Jodler. Ethnologische Perspektiven auf das Jodeln im Harz

(Internationale Hochschulschriften 647), Münster/New York 2018, Waxmann, 187 Seiten mit Abbildungen, Notenbeispielen
Rezensiert von Astrid Reimers
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.04.2019

Dass musikalische Wettstreite hinsichtlich des Diskurses über musikalische Stile – und weit darüber hinaus, bis hin zu der Identitätsbildung ganzer Gruppen – einen Quell der Erkenntnis bergen können, kann man unter anderem der unlängst erschienenen von Klaus Näumann, Thomas Nußbaumer und Gisela Probst-Effah herausgegebenen Publikation „Musikalische Wettstreite und Wettbewerbe“ entnehmen. Auch in vorliegender Veröffentlichung dienen Wettbewerbe, und zwar Jodler-Wettbewerbe im Harz, der Autorin als Brennpunkt einer Kulturpraxis im öffentlichen Raum. Ihre Untersuchungsweise basiert auf der Theorie sozialer Praktiken, was naheliegt, denn bei Wettbewerben treffen Menschen zusammen, die kollektiv ein bestimmtes Können aushandeln. Es geht um das Jodeln als klangliche Repräsentation der Harzer Kultur – oder besser Harzer Kulturen. Bis heute nämlich existieren drei Wettbewerbe nebeneinander. Versuche ab 1990, diese in einen Gesamtharzer Jodelwettbewerb zusammenführen, „zu vereinigen“, wurden im Jahr 2005 aufgegeben.

Die Wurzelsuche zu dieser Entwicklung führt Helen Hahmann bis ins 19. Jahrhundert, zu den jodelnden Handelsreisenden aus Tirol und den Tourneen der Tiroler Gesangsgruppen. Auch im Harz spielte das vorführende Jodeln eine große Rolle (beginnender Tourismus, Heimatabende, Gründung des Harzklubs 1886). Im 20. Jahrhundert lud sich allerdings die kulturelle Praxis des Jodelns ideologisch weiter auf, insbesondere mit dem Wirken der beiden Schlüsselfiguren Louis Wille und Karl Reinecke-Altenau in den dreißiger Jahren, die in dieser Zeit auch Jodelwettbewerbe veranstalteten. Während Wille im Wander- und Heimatverein Harzklub den Bereich „Pflege des Volksbrauchtums“ übernahm, forcierte Reinecke-Altenau in seinem 1933 gegründeten Oberharzer Heimatbund die Ausrichtung auf „Pflege des Heimatsinns“. Trotz dieser unterschiedlichen Standpunkte sympathisierten beide mit dem Nationalsozialismus, 1937 wurden beide Vereine gleichgeschaltet. Die Autorin arbeitet hier heraus, in welcher Weise in dieser Zeit das Ideal eines Harzer Volkstums geformt und Abbild einer nationalsozialistischen „intakten Volksgemeinschaft“ wurde und als Ästhetik bis heute wirksam blieb, so dass Trachten und Bräuche manchmal bis heute als Bekenntnis zu reaktionären Werten verstanden werden (nicht allerdings von den Jodlern selbst, die sich vielfach als unpolitisch begreifen). In musikalischer Hinsicht allerdings haben sich, so Hahmann, die in nationalsozialistischer Zeit ausgeübten Jodler nicht halten können. In der Nachkriegszeit, als der Harzklub und der Oberharzer Heimatbund neu gegründet wurden, hatte sich Harzer Kultur wiederum als Mittel zum Zweck zu erweisen, nun unter den verschiedenen politischen Vorzeichen von BRD und DDR. Die Einbeziehung des Jodelns in das Kulturkonzept der DDR, das zum einen eine inhaltliche Bezugnahme zur „neuen, sozialistischen Realität“ der Arbeitswelt forderte, zum anderen Qualitätsansprüche in Verbindung mit musikalischen Weiterentwicklungen erhob, führte zu einer nachhaltig unterschiedlichen Ausrichtung der Jodelwettstreite in Ost und West. Hierdurch beantwortet sich auch die Frage, warum einem Gesamtharzer Jodelwettbewerb kein Erfolg beschieden war. (Die Art und Weise des Vorgehens bei der Zusammenführung lassen bei der Rezensentin die Erinnerung an gewisse Parallelen zu den unschönen Momenten der Wiedervereinigung aufblitzen.)

Hahmanns Arbeit basiert auf Feldforschungen, die sie zwischen 2008 und 2015 durchführte, sowie auf Interviewmaterial mit fast 40 Personen und wurde 2015 von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Die Beschreibung ihres eigenen Forschungszugangs zu dem Thema ihrer Arbeit – von der klassischen musikethnologischen Forschung in Peru hin zu der regionalen Forschung inklusive eigenen Jodellernens –, die erkenntnisreichen musikalischen Analysen und Transkriptionen, die Berücksichtigung weiterer Aspekte der modernen Musikethnologie, etwa eines postkolonialen Ansatzes bei der Beschreibung dessen, was aus eurozentristischer Sicht weltweit Jodler genannt wird, all das macht die vorliegende Veröffentlichung zu einer mustergültigen musikethnologischen Arbeit, die die bereits vorhandenen Untersuchungen und die Literatur auf dem Gebiet des Harzer Jodelns sehr bereichert. Einzig die häufige Verwendung des Begriffs „Brauchtum“, dies nicht nur umgangssprachlich, wo es toleriert sein möchte, sondern auch im wissenschaftlichen Kontext, erscheint der Rezensentin als problematisch, mag auch die Autorin dies reflektiert und sich dann für seine Verwendung bewusst entschieden haben. Ihr Versuch, den Ballast dieses Begriffs abzuwerfen, indem sie ihn von dem Begriff „Volkstum“ abscheidet, kann kaum gelingen, da aus wissenschaftlicher Sicht ein Zuviel an historisch belasteter Theorie mit diesem Begriff verbunden ist. Besonders erwähnenswert jedoch ist auch Hahmanns Schlussbetrachtung – unter anderem deswegen, weil hier ein neuer Weg der Harzer Kulturpraxis dargestellt wird, den der Landesheimatbund Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren begangen hat: die Folklorewerkstätten. Bei dem zwanglosen Miteinander-Musizieren und ‑Jodeln, die dort ermöglicht werden, wird die Kultur des Harzer Jodelns tatsächlich auch als eine Art Community Music vorstellbar.