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Forschungsschwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft“ (Hg.)

Vielfältig verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität

(Human-Animal Studies), Bielefeld 2017, transcript, 356 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig, Tabellen
Rezensiert von Michaela Fenske
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.04.2019

Mit dem vorliegenden Buch veröffentlicht der durch das Land Hessen von 2014 bis 2017 geförderte LOEWE-Forschungsschwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft“ seinen zweiten interdisziplinären Sammelband (nicht mitgezählt sind vier weitere, von Mitgliedern dieses äußerst produktiven Forschungsverbunds edierte Sammelbände, drei Zeitschriften-Themenhefte sowie eine thematisch einschlägige Monographie)[1]. Nach Fragen der Methodik einer interdisziplinären Tierforschung[2] geht es in diesem, auf eine Tagung zurückgehenden Band um die Vielheit und Verschiedenheit der Wahrnehmung und Gestaltung der Mensch-Tier-Beziehungen. In den Blick geraten wechselseitiges Aufeinander-Bezogensein, Grenzziehungen ebenso wie Interaktionen und (A)Symmetrien − um die drei Sektionen des Bandes zu benennen, denen jeweils sechs Beiträge zugeordnet sind. Mit insgesamt 27 ForscherInnen ist hier eine beachtliche Bandbreite wissenschaftlicher Expertise vertreten; WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Qualifikationsstufen aus elf Disziplinen stellen ihre je eigenen Perspektiven auf Mensch-Tier-Verflechtungen vor. Die Zusammenarbeit von im Einzelnen recht verschiedenen Fächern aus den Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften gehört zu den Besonderheiten dieses Schwerpunkts, der auch Hoffnung auf eine Überwindung der in der deutschsprachigen Forschung noch stark gelebten Dichotomie zwischen sogenannten Natur- und sogenannten Kulturwissenschaften macht. Statt starre Gegensätze aufrecht zu erhalten, verbindet die hier versammelten Beiträge eine differenzierte Sicht auf Nuancen, Übergänge, Komplexitäten, ohne dass dabei Unterschiede zwischen den Arten oder den diese erforschenden Disziplinen grundsätzlich aufgegeben würden. Durch die gemeinsame Fragestellung zusammengehalten, situieren sich die einzelnen Beiträge in Zeit und Raum sehr divergent: Von der Zeit vor Beginn unserer Zeitrechnung bis zu zeitgenössischen Praktiken reicht die historische Perspektive, räumlich gilt der Blick vornehmlich dem globalen Norden.

Nach einer kurzen Vorstellung des Themas und der Beiträge des Bandes durch den damaligen Sprecher des Forschungsschwerpunkts, den Historiker Winfried Speitkamp (9–32), eröffnet die Philosophin Francesca Michelini die Sektion „Grenzziehung“ mit ihrer Frage nach der im Zuge des animal turn in die Kritik geratenen klassischen philosophischen Unterscheidung von Umwelt gebundenen Tieren sowie Welt habenden Menschen (35–48). Ihr Beitrag plädiert für eine nuancierte Wahrnehmung von Verschiedenheit (beispielhaft ausgeführt anhand von Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie). Die Kunstwissenschaftlerin Stephanie Milling thematisiert anhand des „Rat Piece“ des amerikanischen Performance-Künstlers Kim Jones (bei dem dieser drei lebende Ratten auf der Bühne verbrannte) eine, menschliche BetrachterInnen ob ihrer Brutalität eher abschreckende Inszenierung der Verschränkung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Menschen und Tieren (49–63). Mit dem Ansatz der Ecological Hermeneutics des Bibelwissenschaftlers Norman C. Habel stellt die Alttestamentlerin Yvonne Sophie Thöne eine alternative Lesart der Schöpfungsgeschichte vor, die die Erschaffung der Welt als gemeinsames Projekt einer differenzierten Sozialsphäre begreift, in der Gott, Menschen, Tiere und Erde in jeweils spezifischer Weise interagieren (65–83). Um aktuelle Wahrnehmung der Unterschiede von Tieren und Menschen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft geht es dem Soziologen Ulf Liebe, dem Agrarwissenschaftler Benedikt Jahnke und der Literaturwissenschaftlerin Ulrike Heitholt (85–101). Deutlich wird, dass viele BundesbürgerInnen Gemeinsamkeiten von Tieren und Menschen betonen, ohne aber eine grundsätzliche Gleichheit und Gleichberechtigung der Spezies zu vertreten. Wie Insekten im 18. Jahrhundert als Modellorganismen der Fassung von Grenzen zwischen Natur und Kultur, aber auch der Entwicklung eines Verständnisses der Gemeinsamkeiten allen Lebens dienten, zeigt der Historiker Thomas Ruhland (103–121). Zeitlich schließt der Beitrag des Kunsthistorikers Christian Presche hier unmittelbar an, wenn er die Kunstschätze der hessischen Landgrafen nach Tierdarstellungen und deren Funktionen sichtet (123–138).

Auch die folgende Sektion „Interaktion“ fasst sehr verschiedene Beiträge: Die Europäische Ethnologin Wiebke Reinert stellt zoologische Gärten des 19. Jahrhunderts als interaktive, multifunktionale soziale Räume vor, die ebenso der Unterhaltung dienten wie der von der Autorin so bezeichneten Inszenierung von „Hochnatur“, einer zum Kulturgut stilisierten Natur (141–156). In allen Räumen der Begegnung von Menschen und Tieren wird dabei mit dem Fortschreiten der Moderne der Beachtung des sogenannten Tierwohls zunehmend Bedeutung eingeräumt. Wie sich ein Verständnis dieser Kategorie vom alltagsweltlichen zum wissenschaftlichen Konzept entwickelte, thematisiert der Philosoph Christopher Hilbert (157–172). In dem folgenden Beitrag aus der Ethologie von Birgit Benzing und Ute Knierim werden heute geltende Indikatoren, Methoden und Verfahren der Tierwohldefinition vorgestellt, von denen sich zugleich Beziehungskonzepte von Menschen zu ihren Tieren ableiten lassen (173–187). Die sich anschließende ethologische Untersuchung von Asja Ebinghaus, Silvia Ivemeyer, Julia Rupp und Ute Knierim fokussiert auf Untersuchungsindikatoren für das Mensch-Tier-Verhältnis am Beispiel der Milchkühe (189–205). Wie dagegen Bilder Wirklichkeitserfahrungen strukturieren und welche Relevanz in diesem Zusammenhang den Bildern für die Mensch-Tier-Interaktion zukommt, ist Thema des Beitrags des Soziologen Daniel Wolf (207–222). Die Sektion wird beschlossen durch die Literaturwissenschaftlerin Susanne Schul, die anhand verschiedener Fassungen des Wolfdietrich-Epos zeigt, wie unterschiedlich im Feld menschlichen Erzählens eine Interaktion von Menschen und Wölfen entworfen werden kann (223–239).

Die Literaturwissenschaftlerin Anna-Theresa Kölczer eröffnet die dritte Sektion „(A)Symmetrien“ mit einem Beitrag über die Figur des Wiedehopfs in Konrad von Megenbergs „Buch der Natur“ als Beispiel dafür, wie Natur- und Kulturgeschichte erzählerisch wechselseitig verschränkt werden können (243–258). Mit vergleichbarer Stoßrichtung zeigt die Kunsthistorikerin Silke Förschler die Brüchigkeit der in der Moderne entwickelten Kategorien Natur und Kultur anhand von Materialitäten und Darstellungsweisen eines Rhinozeros in Ausstellungsräumen der Frühen Neuzeit (259–274). Die Interdependenz von Räumen mit Mensch-Tier-Beziehungen zeichnet der Historiker Felix Schürmann anhand des von Bernhard Grzimek geleiteten Artenschutzprojekts auf der Insel Rubondo in Tansania nach (275–292). Die Pferdewissenschaftlerin Diana Krischke knüpft in ihrem Aufsatz an Beiträge der vorherigen Sektion an, wenn sie die Bedeutung der Zuchtschauen für die Rinderzucht untersucht (293–308). Wie Mensch-Tier-Beziehungen unmittelbar in die Rinderzucht eingehen, ist Thema des sich anschließenden Beitrags aus den Agrarwissenschaften von Laura Santos, Kerstin Brügemann und Sven König (309–326). Der Band schließt mit einem Artikel des Soziologen Ulf Liebe und des Agrarwissenschaftlers Benedikt Jahnke über heterogene Motive und damit verbundene unterschiedliche Protestformen von TierrechtsaktivistInnen (327–349).

Bereits dieser Schnelldurchgang durch die Inhalte und Herangehensweisen deutet die Multiperspektivität des vorliegenden Bandes an. Hier wird eine Fülle unterschiedlicher Forschungen zusammengeführt, jeweils auf dem neuesten Stand des betreffenden Forschungsfeldes. Wer sich über neue Ansätze der Literary Animal Studies informieren will oder wer sich für die historische Entwicklung der Erforschung von Mensch-Tier-Verhältnissen im Rahmen der Human Animal Studies interessiert, wird hier ebenso fündig wie an ethologischen und Tierrechtsfragen Interessierte. Damit angesprochen ist freilich auch das Risiko, dass die Spannweite der in Zeit und Raum aufgeworfenen Themen eklektisch wirken kann, denn die Verschränkung verschiedenster Disziplinen gelingt nur teilweise. Die gemeinsame AutorInnenschaft einzelner Beiträge und die potenziell fruchtbare Mischung von Beiträgen unterschiedlicher fachlicher Provenienz innerhalb einer Sektion wirken nicht immer überzeugend, so dass manches eher nebeneinandergestellt als verbunden oder gar verschränkt wirkt. Dies äußert sich bereits in der äußeren Form einzelner Artikel, die teils unterschiedlichen Schreibgewohnheiten ihrer Disziplinen folgen (etwa der Beitrag von Ebinghaus, Ivemeyer, Rupp und Knierim). Vor diesem Hintergrund ist bedauerlich, dass die Brückenfunktion der Anthropologien nicht genutzt wird, denn kaum ein Fach hat seine interdisziplinäre Anlage so gut für die Verschränkung auch natur- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen genutzt wie die Sozialanthropologie und zunehmend auch die deutschsprachige Europäische Ethnologie. Stichwortgeber dieser Forschungen wie den britischen Sozialanthropologen Tim Ingold sucht man hier vergebens. So dokumentiert der vorliegende Sammelband eine Zwischenstufe auf dem Feld des Aufbruchs der verschiedenen Disziplinen im gemeinsamen Projekt einer Verbindung von klassischen natur- und kultur- sowie sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf dem Feld der Mensch-Tier-Forschung. Dass gelingende Interdisziplinarität, die Entwicklung gemeinsamer Perspektiven und einer gemeinsamen Sprache, ein komplexer sozialer Prozess ist, der erhebliche Zeit, Aufmerksamkeit und Mühen verlangt, hat jüngst etwa die interdisziplinäre Göttinger Forschergruppe um die Europäische Ethnologin Regina Bendix reflektiert [3]. Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die in vielen Feldern eine Zusammenführung unterschiedlichster fachlicher Perspektiven erforderlich machen, sowie angesichts der Bedeutsamkeit der auch andere Spezies reflektierenden Kulturwissenschaften ist der LOEWE-Gruppe zu wünschen, dass sie ihre Arbeit in der geplanten Form eines Sonderforschungsbereichs fortsetzen und dabei die vielversprechend angelegten disziplinären und inhaltlichen Verschränkungen der unterschiedlichen Fächer vertiefen kann.

 

[1] Vgl. www.uni-kassel.de/projekte/tier-mensch-gesellschaft-ansaetze-einer-interdisziplinaeren-tierforschung/publikationen.html [25.11.2018].

[2] Forschungsschwerpunkt „Tier-Mensch-Gesellschaft“ (Hg.): Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung. Bielefeld 2016.

[3] Regina Bendix, Kilian Bizer u. Dorothy Noyes: Sustaining Interdisciplinary Collaboration. A Guide for the Academy. Urbana 2017.