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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Uta Bretschneider/Sönke Friedreich/Ira Spieker (Hg.)

Verordnete Nachbarschaften. Transformationsprozesse im deutsch-polnisch-tschechischen Grenzraum seit dem Zweiten Weltkrieg

(Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 35), Dresden 2016, Thelem, 220 Seiten mit 10 Abbildungen, 3 Diagrammen
Rezensiert von Cornelia Eisler
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.04.2019

Der vorliegende Band geht auf einen interdisziplinären Workshop im Jahr 2014 zurück, den das Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. gemeinsam mit der Brücke/Most-Stiftung in Dresden organisiert hat, um Formen der Erinnerungen, Möglichkeiten der Wissensgenerierung und ‑vermittlung sowie Narrative der Bewohner und Bewohnerinnen in diesem Fall im deutsch-polnisch-tschechischen Gebiet seit 1945 zu diskutieren. Entsprechend vielfältig sind die publizierten Aufsätze dieser sorgfältig redigierten Publikation, in denen theoretische Aspekte zur Analysekategorie Erinnerungskultur und Kulturelles Gedächtnis rekapituliert und an konkreten Beispielen die Prozesse des Erinnerns und des Transfers von Erzählungen fassbar gemacht werden. Einige Beiträge sind von der Vorstellung einer zukünftig stärker umgesetzten europäischen Einigung geprägt. In ihnen werden die Grenzräume vorrangig als potentielle transnationale Kontaktzonen und weniger als Randzonen aufgefasst; die Tendenzen der Re-Nationalisierung deuten sich erst an.

Den Einstieg in die Thematik ermöglichen Marketa Spiritova und Peter Oliver Loew mit ihren Überblicksdarstellungen zum analytischen Ansatz und zum historischen Kontext. Unter Rückgriff auf die grundlegenden Arbeiten von Pierre Nora sowie Maurice Halbwachs und verbunden mit der ausführlichen Darlegung der Forschungsergebnisse von Katharina Eisch-Angus zum Thema Grenzen umreißt Spiritova die Untersuchungstendenzen der vergangenen zwanzig bis dreißig Jahre. Sie geht auf mögliche Fragestellungen ein und stellt methodische Vorgehensweisen dar, durch die „Erinnerungskulturen in postsozialistischen Grenzräumen“ (33) unter Einbeziehung der multi-sited ethnography und praxeologischer Ansätze zu untersuchen wären. Eine breite historische Einordnung bietet Loew, indem er unterschiedliche Formen der Zwangsmigration im Polen des 20. Jahrhundert thematisiert und aufzeigt, ob und wie je nach politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an diese erinnert wurde. Indem Loew die wichtigsten Umbrüche und Veränderungen sowie deren Folgen für privates und öffentliches Gedenken darlegt, bietet er eine Art Geschichte des Erinnerns an Vertreibungen in Polen, durch die zugleich vormalige Nachbarschaften erkennbar werden.

Aus der Perspektive der Soziologie fragt Beata Halicka nach den deutsch-polnischen Nachbarschaftsverhältnissen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges über die Grenze hinweg. Konzepte der Nachbarschaft und grenzüberschreitende Praktiken bilden für sie den Ausgangspunkt, um die Einschränkungen einerseits und die vielfältigen Möglichkeiten zur Ausgestaltung deutsch-polnischer Beziehungen im grenznahen Raum andererseits bis hin zur Schaffung der Euroregionen zu thematisieren. In Zeiten der EU-Förderung wurden die nachbarschaftlichen Kooperationen zur „Normalität“ und laufen Gefahr, so die Autorin, zur „Routine“ zu werden. Sie bleibt jedoch hinsichtlich der Zukunft der Grenzregion optimistisch. Einen ähnlich positiven Ausblick bieten auch Joanna Frątczak-Müller und Anna Mielczarek-Żejmo in ihrer Studie, die sich ganz spezifisch mit den grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Beziehungen in der Euroregion Spree-Neiße-Bober im Prozess der europäischen Einigung befasst. Sie werteten Sympathie-, Abneigungs-, Gleichgültigkeits- und Vertrauenswerte der polnischen gegenüber der deutschen Bevölkerung und umgekehrt aus. Die Autorinnen erkennen hier einige Widersprüche zwischen den Haltungen und Aktivitäten der Bewohner/innen in der Grenzregion; sie können zudem Wandlungsprozesse ausmachen, die sich – institutionell angestoßen – ihrer Meinung nach zukünftig weiter entfalten würden, im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich allerdings mit zeitlicher Verzögerung.

Museen und materielle Kultur bilden einen eigenen Bereich der ‚Erinnerungskulturpolitik‘ in Bezug auf Grenzregionen und ‑verschiebungen. Markus Bauer widmet sich der Entstehung des Schlesischen Museums zu Görlitz, dem eine lange Konzeptions- und Diskussionsphase vorausging und dessen Gründung ausgesprochen politisch motiviert war. Grundsätzlich stellte sich die Frage, an wen und von wem durch ein „Landesmuseum Schlesien“, wie es zunächst bezeichnet wurde, erinnert werden sollte und welchen Eindruck eine solche Einrichtung bei den unmittelbaren Nachbarn in Śląsk/Schlesien hinterlassen würde. Durch das Nachzeichnen der Vorgeschichte werden die politischen Aushandlungsprozesse, die Mehrdimensionalität des Vorhabens, die unterschiedlichen Einstellungen der Beteiligten in der Bundesrepublik und der DDR beziehungsweise den neuen Bundesländern sowie regionale Besonderheiten deutlich, die Einfluss auf die Realisierung des Museums in der Stadt an der deutsch-polnischen Grenze hatten.

Elisabeth Fendl zeigt am Beispiel der Darstellung sogenannter Heimatlandschaften durch ihre ehemaligen Bewohner in Böhmen und Mähren sehr anschaulich, welche Medien der Erinnerung aufgrund der Neuordnung des Grenzraumes eingesetzt werden und wie durch diese Wissen über die Region regelmäßig aktiviert wurde und wird. Die Materialisierung und Visualisierung etwa durch Landschaftsmodelle kann als Ordnungssystem für die Erinnerung an die vormalige Heimat verstanden werden. Fendl beweist anhand ihres Beitrags, dass es möglich ist, eine Balance zwischen der kritischen Betrachtung der immer auch politisch aufgeladenen Erinnerungskultur und der Empathie gegenüber den Akteuren und Akteurinnen, die neue Grenzen oft nicht akzeptieren konnten, zu finden.

Wie die Heimaterinnerungen der direkt Betroffenen in den nachfolgenden Generationen wahrgenommen wurden und in das familiäre Gedächtnis übergingen, erörtern Ira Spieker und Uta Bretschneider in ihrem Beitrag, der sich primär auf biografische Erzählungen stützt. Sie verbinden die Inhalte mit dem Konzept des Verortens familiärer Herkunft, die oft immateriell oder als „Grundrauschen“ (133) die frühen Lebensgeschichten und auch spätere Identitätsaushandlungen bestimmten. Mit großer Sensibilität vollziehen die Autorinnen die Aneignungspraktiken und Positionierung der Erzählenden nach, die zu den nicht organisierten und damit zu den weniger stark repräsentierten ‚Vertriebenen‘ gezählt werden können. Die Autorinnen stellen fest, dass diese sich einen „Ort imaginärer Geografie“ (152) schaffen, jenseits der Pole des Eigenen und des Fremden.

Am Beispiel des biografischen Erzählens über Grenzen im Rahmen des Projekts „Iron Curtain Stories“ erkundet Sarah Scholl-Schneider ausgesprochen reflektiert die Schnittstellen zwischen wissenschaftlicher Erzählforschung und der Wissenschaftsvermittlung, das heißt der medialen Verbreitung von Zeitzeugenaussagen mittels digitaler Technologien. Sie legt den Schwerpunkt auf methodische Fragen und zeigt vornehmlich auf, vor welche forschungsethischen Entscheidungen Wissenschaftler/innen gestellt werden. Neben diesem Aspekt der Verantwortung zeigt ihr Beitrag auf, wie unterschiedlich die Einstellungen und Mentalitäten der deutschen und tschechischen Befragten sein können, was die Nutzung und Publikation ihrer Zeitzeugenberichte betrifft.

Im Unterschied dazu analysierte Sönke Friedreich die archivalische Überlieferung staatlicher Stellen in der DDR, um die Situation der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen beziehungsweise ‚Umsiedler‘ im Dreiländereck und ihre Sicht auf die Grenzen in den Nachkriegsjahren bis 1952 nachzuvollziehen. Ihm ging es hauptsächlich um inhaltliche Aspekte und weniger um methodische Fragen, weshalb wohl die Spezifik der behördlichen Berichte der Umsiedlungsabteilungen in der DDR und ihr Quellenwert weniger diskutiert wurden. Die Dokumente zeigen eine Region im Umbruch, so Friedreich, die keineswegs politisch oder ökonomisch stabilisiert war, sondern vielmehr als temporäre Entität mit fluiden Grenzkonzepten wahrgenommen wurde. Friedreich vermittelt ein vielschichtiges Bild der Nachkriegssituation und stellt geschickt die historischen Ereignisse und ihren Einfluss in Beziehung zu den unter den Betroffenen zu registrierenden Gerüchten und Zukunftsprojektionen.

Die „verordnete Nachbarschaft“ im direkten Sinne untersuchte Mateusz J. Hartwich, indem er sich mit dem Tourismus aus der DDR in die Regionen im östlichen Europa, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs entweder zum Deutschen Reich gehört hatten oder in denen die Bevölkerung deutschsprachig gewesen ist, befasst. Er stellt die These auf, dass die Reisemöglichkeiten und damit der direkte Kontakt zwischen ehemaligen und damals gegenwärtigen Bewohnern vor Ort trotz des politisch „verordneten“ Rahmens zu einer Akzeptanz der Verhältnisse in den Grenzregionen, wenn auch nicht zu einem besonders intensiven nachbarschaftlichen Austausch, auf beiden Seiten führte. Spannend erscheinen im Zusammenhang mit der Art und Weise des Reisens nach Polen die innerdeutschen Unterschiede und die wechselseitige Beeinflussung durch Ereignisse auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene, also die Verbindung von Makro- und Mikrohistorie.

Mit der Situation und den Aneignungsprozessen verschiedener Bevölkerungsgruppen auf der polnischen Seite, die nach dem Zweiten Weltkrieg teils ihre Heimat in Ostpolen verlassen mussten, beschäftigt sich Ewelina Wanat. Für ihre Beheimatung, so Wanats Erkenntnis, sei die Identifizierung mit der Region, in ihrem Beispiel mit der polnischen Oberlausitz, eine bessere Voraussetzung als die Orientierung an einer homogen angelegten nationalen Identität.

Eine weitere historisch sehr detailreiche Dokumentation legt Ágnes Tóth vor. Auf der Grundlage von Regierungsbeschlüssen und Anträgen der Betroffenen zeichnet sie nach, ob und wie in den Jahren 1948 bis 1950 die Zusammenführungen von Familien „deutscher Nationalität“ aus Ungarn erfolgte, deren Mitglieder sich nach dem Zweiten Weltkrieg, der Kriegsgefangenschaft und den Zwangsdeportationen in die Sowjetunion unter anderem in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise in der DDR wiederfanden. Sie beschreibt einerseits die Probleme der Organisation eines solchen Unternehmens in Zeiten der Neuorganisation von Staaten und Grenzen. Andererseits wird das im neutralen Sinne eigenwillige Handeln der Betroffenen erkennbar, die sich die damit verbundenen politischen Unsicherheiten versuchten zunutze zu machen.

Einen optimistischen Über- und Ausblick bietet abschließend Jan M. Piskorski. Unter Einbeziehung globalgeschichtlicher Aspekte diskutiert er in seinem Essay die deutsch-polnische Nachbarschaft und sieht das Konzept der Versöhnung insofern kritisch als es nicht uneingeschränkt übertragbar sei. Sein Plädoyer für Debatten statt Krieg hat in den letzten Jahren an Dringlichkeit zugenommen.

Indem sie die Nachbarschaften in Grenzregionen in den Mittelpunkt der Forschungsdiskussion stellten, erweiterten die Herausgeber/innen Uta Bretschneider, Sönke Friedreich und Ira Spieker die Perspektive sehr geschickt. Neben Trennendem konnten somit auch die Verflechtungen und Kontakte über Grenzen hinweg einbezogen werden. Dies ist in den Beiträgen der vorliegenden Publikation fast durchweg gelungen, obgleich die fachlich sehr unterschiedlich geprägten Ansätze eine Herausforderung darstellen.