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Aktuelle Rezensionen


Ute Holfelder/Klaus Schönberger (Hg.)

Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm. Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung

(Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur 6), Köln 2017, Halem, 318 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Torsten Näser
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.04.2019

Nach dem Sammelband „Handyfilme“ (2014), der Monographie „Handyfilme als Jugendkultur“ (2015), der Ausstellung und dem sie begleitenden Reader „Mit Kopfhörern unterwegs“ (2017) sowie diversen Aufsätzen aus unterschiedlichen Erscheinungsjahren ist mit dem hier besprochenen Buch eine weitere Veröffentlichung aus dem Klagenfurter respektive Züricher Umfeld um Klaus Schönberger, Thomas Hengartner, Ute Holfelder und Christian Ritter vorgelegt worden, die um die Themen Medialität, Technik und Alltag kreist und sie einer kulturanalytischen Betrachtung unterzieht.

Der Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung, die im Jahr 2015 unter gleichlautendem Titel am Institut für Kulturanalyse der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt veranstaltet wurde und sich in ihrer interdisziplinären Ausrichtung neben Kulturanthropolog_innen unter anderem an Erziehungswissenschaftler_innen sowie Sammlungsexpert_innen richtete. Im Mittelpunkt der Publikation stehen filmische Alltagspraxen in einem bewusst weit gefassten Sinn: Sie gibt erstellenden, bearbeitenden, distribuierenden, rezipierenden sowie archivierenden Dimensionen gleichermaßen Raum. Indem sie sie hinsichtlich ihrer Bedeutungen und sozialen Funktionen und diese sowohl in historischer als auch gegenwärtiger Perspektive befragt, spannt sie in gekonnter Weise jenes Netz über den Gegenstand, das medienanthropologische Zugänge in ihrer Spezifik auszeichnet. In einer, wie die Herausgeber_innen es treffend nennen, „Tour d‘Horizon“ vermessen sechsundzwanzig Autor_innen in zwanzig Beiträgen das Feld. Während die ersten vier Aufsätze das Phänomen auf einer zum Teil stark theoriebasierten Metaebene fassen, eint die folgenden vier Beiträge ihre Sammlungsperspektive. Die restlichen Artikel widmen sich diversen konkreten aktuellen wie historischen Formen bewegter Alltagsbilder, deren Spektrum von Hunde-Handyfilmen bis zu Familienfilmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reicht. Ausgewählte Beiträge werden in dieser Rezension genauer vorgestellt.

In einer konzise verfassten Einleitung stecken die Herausgeber_innen Ute Holfelder und Klaus Schönberger zunächst den Rahmen des Bandes ab, indem sie vor dem Hintergrund einer Demokratisierung filmischer Praxen von einer durch selbige bedingten Ästhetisierung des Alltags sprechen, von einem Kreativitätsdispositiv in vielfältigen sozialen Feldern.

In seinem Beitrag „Die Ich-Konsole: Wie aus dem ‚Yuppie-Lutscher‘ ein Selbstausdrucks- und ‑speicherungsmedium wurde“ widmet sich Thomas Hengartner jenem technischen Artefakt, was wohl wie kein zweites für die gegenwärtige Produktion und Verbreitung von Audiovisionen des Alltags steht: dem Handy. In seiner leicht zu lesenden, aber nie trivialen kurzen Geschichte des Mobiltelefons, das, so Hengartner, seine Karriere als Notfallmedium begann und sich heute in Form des Smartphones als mobile Familienchronik geriert, arbeitet der Autor eine ganze Reihe an Selbsttechniken heraus, zu denen das Smartphone seine Nutzer_innen – im Sinne von Affordanzen – regelrecht auffordert. Hengartners Überlegungen lesen sich dabei vor allem als fein zusammengestellte Sammlung unterschiedlicher Gedanken: kurz formuliert, aber immer mit dem hohen Potenzial starker wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit.

Johanna Rolshoven gründet ihren Beitrag auf einem bewusst weiten Verständnis des Tagungstitels, indem sie unter Bewegtbildern nicht nur filmisches Material, sondern auch Fotografien, die eingefrorene Bewegung zeigen, fasst. Zwar seien, so Rolshoven, Fotografien eigentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie als „statisches Moment“ Bewegung ausschließen, doch werde sie ihnen in der Wahrnehmung des Sehens durch die Betrachter_innen wieder hinzugefügt, weshalb sie ebenfalls als Bewegtbilder anzusehen seien. An diese theoretischen Annahmen anknüpfend, konturiert die Autorin gekonnt verschiedene Schnittstellen von Bildern und Bewegungen in filmischen wie fotografischen Settings. Auf diese Weise gelingt es Rolshoven, den Gegenstand des Bandes theoretisch zu grundieren und damit auch einen wichtigen Bezugspunkt für die vielen anwendungsorientierten und projektgebundenen Beiträge zu markieren.

Zwei der Aufsätze, die sich unter dem Sammlungsaspekt an der Schnittstelle von Bewegtbildern und Alltagskultur subsummieren lassen und hier genauer vorgestellt werden sollen, stammen von Paolo Caneppele und Raoul Schmidt sowie von Stephan Grundei. In ihrem Beitrag „Der Amateurfilm als Ego-Dokument“ unterziehen Caneppele und Schmidt den Gegenstand dessen, was leichthin als Amateurfilm bezeichnet wird, einer genaueren Betrachtung. Dabei gelingt es den Autoren, erkenntnisreiche Schneisen in das definitorische Dickicht, das um Begriffe wie diary film, Familienfilm, ego productions oder eben Ego-Dokument gewachsen ist, zu schlagen. Ein abschließendes Kapitel, das den Quellenwert audio-visueller Ego-Dokumente zu bestimmen versucht und davon abgeleitet auch Aufgaben und Herausforderungen für Sammlungsleiter_innen und Archivar_innen benennt, rundet den knappen, dabei aber durchaus begriffserhellenden Aufsatz ab. Dass die Sammlung und wissenschaftliche Aufarbeitung von Amateurfilmaufnahmen gerade in einer Zeit, in der Online-Videoplattformen wie YouTube oder Vimeo permanent suggerieren, als globaler audio-visueller Universalspeicher zu fungieren, ein wichtiges wie gleichermaßen schwieriges Unterfangen darstellt, verdeutlicht Stephan Grundei in seinem Aufsatz „Der Wiener Videorekorder. Die Genese einer Sammlung“. Dabei überzeugt der Beitrag vor allem mit vielen praxisrelevanten Hinweisen zu einer – im Gegensatz zu unzähligen YouTube-Videos – rechtlich gesicherten und fundierten Amateuraufnahmen-Sammlung sowie zu deren Potential einer (wissenschaftlichen) Nutzung. Gegenstand ist der sogenannte Wiener Videorekorder, ein Digitalisierungs- und Sammlungsprojekt der Österreichischen Mediathek, die am Technischen Museum Wien angesiedelt ist. Mit seinen Reflexionen, die von der Kapazitätsberechnung bis zur Erstellung einer inhaltlichen Sammlungsmatrix reichen, kann der Beitrag für den Aufbau weiterer Sammlungen hilfreich sein. Auch für Grundei letztlich nicht zu beantworten bleibt lediglich die Frage, wie ein solcher, urheberrechtlich zwar geklärter, aber in Hinblick auf die in dem Material abgebildeten Personen immer noch sensibler Bestand wissenschaftlich ausgewertet und vor allem in Forschungsrepräsentationen überführt werden kann.

In die dritte Kategorie des Bandes – nämlich die kulturanalytische Auseinandersetzung mit Alltagsbewegtbildproduktionen unterschiedlicher Ausprägungen – einzuordnen sind unter anderem die Beiträge von Maximilian Jablonowski und Florian Krautkrämer. Beide Zugänge eint, dass sie sich mit zwei der sicherlich am explizitesten technikinduzierten Bewegtbildgenres auseinandersetzen, die unsere gegenwärtige Bilderwelt regelrecht geflutet haben: mit Drohnen- und Actionkameraaufnahmen. Maximilian Jablonowski fokussiert dabei die mit Drohnen hergestellten Selfies, sogenannte Dronies. Diese visuellen Selbstzeugnisse sind meist kurz und zeigen den Bildautor beziehungsweise die ‑autorin oft nur wenige Sekunden. In ihrer Ästhetik der Vertikalität können sie in den breiten Kontext eines epistemisch und politischen Blickkonzepts, das im Spannungsfeld von Übersicht und Überwachung angesiedelt ist und dessen sich Politik, Militär und Kunst gleichermaßen bedienen, eingeordnet werden. Am Ende seines medientheoretisch aufschlussreichen Beitrags wirft der Autor die Frage auf, inwiefern sich die Bilder vom Selbst dadurch verändern, dass sie technisch immer autonomer entstehen. Jablonowski beantwortet die Frage, indem er in der kulturanthropologisch geläufigen Ausgewogenheit in Dronies das Zusammenspiel aus „Algorithmen, kreativen Praktiken und kulturellem und ästhetischem Wissen“ sieht, das gleichermaßen „alte Bedeutungen kombiniert und neue generiert“ (230). Inwiefern der Familienfilm durch die Nutzung von Action-Kameras wie der des Markenprimus GoPro beeinflusst wird, untersucht hingegen Florian Krautkrämer. Als ein besonderes Merkmal stellt der Autor dabei die von der technischen Spezifik der Kamera ausgesendete Aufforderung an ihre Nutzer_innen heraus, eine besondere Aufnahmeperspektive einzunehmen. In diesem Kontext konzentriert sich Krautkrämer auf die involvierte, von Hand oder anderen Körperteilen geführte beziehungsweise an ihnen befestigte Kamera als das Merkmal mit Actionkameras gedrehter Aufnahmen, denen er eine doppelte Körperlichkeit attestiert, nämlich eine durch die Kamera sowie durch die kameraführende Person bewirkte.

Wie Audiovisionen des Alltags entstehen und wie sie in andere filmische Arbeiten überführt werden können, dieser Frage widmet sich der Beitrag von Andrea Graf, der neben dem Aufsatz von Ulrich Hägele eine explizit historische Medienpraxis in den Mittelpunkt rückt. Ausgangspunkt für Grafs Überlegungen bildet 8mm-Filmmaterial, das den Ort Lechenich in der Nähe von Köln zeigt und in den 1960er Jahren von zwei ortsansässigen Filmemachern erstellt wurde. Dieses Material wurde durch den Landschaftsverband Rheinland (LVR) digitalisiert und darüber hinaus in einen neuen Film (für den ebenfalls die Autorin des Beitrags verantwortlich zeichnet) überführt. In ihrem Aufsatz geht es um die Genese eben dieses neuen Films, aber auch um die Rekonstruktion der Ereignisse, die damals zum Entstehen des Filmmaterials, das für einen Kulturfilm produziert wurde, führten. Beide Stränge verdichtet Graf gekonnt in der Frage, wie historisches Filmmaterial als footage gleichermaßen quellensensibel wie ‑kritisch in einem neuen Film repräsentiert werden kann. Mit der Idee, möglichst viele filmische Parameter des historischen Materials zu erhalten, es mithilfe filmelicitativer Verfahren zu kontextualisieren sowie es durch die Verwendung des splitscreens in direkte, aber gleichzeitig kritische Relation zu den neu gedrehten Aufnahmen zu setzen, nennt Graf eine ganze Reihe überzeugender Strategien. Auf diese Weise gelingt ihr ein methodologisch wie medienanthropologisch reflektierter Beitrag zu einer zentralen Frage filmischen Arbeitens, nämlich wie sich Filmprojekte an der Schnittstelle historischer und neu produzierter Audiovisionen positionieren können.

Auch wenn hier nur anhand ausgewählter Beiträge skizziert, überzeugt der Band in seiner Gesamtheit. Durch die gute Gliederung umkreist die Publikation wesentliche Aspekte ihres Gegenstandsfeldes in strukturierter Weise. Auch der alle Beiträge durchziehende Fokus auf den Einfluss von Technik auf ästhetische Praxen überzeugt, vor allem weil dabei nie einer deterministischen Lesart Vorschub geleistet wird. Erfreulich ist auch, dass der Band die Euphorie des vermeintlich Neuen immer wieder behutsam, aber deutlich durch eine konzis argumentierende Medien- und Technikgeschichte bremst: Die für visuelle Alltagspraxen heute zu verzeichnenden Formen, Funktionen und Bedeutungen haben, das machen viele der Autor_innen unmissverständlich deutlich, historische Vorläufer. Auch wenn sich die Kontexte verändert haben, viele der Prinzipien sind geblieben. Einziger Wermutstropfen: Die in vielen der Beiträge erwähnten alltagkulturellen Bewegtbilder sind durch die im Buch verwendeten Abbildungen (und die in den Fußnoten platzierten URL) nur unzureichend vermittelbar, was vor allem angesichts der vielfach im Band thematisierten und öffentlich zugänglichen Medien (hier sind vor allem die YouTube-Clips gemeint) bedauerlich ist. Dass die E-Book-Ausgabe dieses dem gedruckten Buchformat geschuldete Manko zu beheben vermag, ist zu wünschen, konnte aber vom Rezensenten nicht abschließend ermittelt werden.