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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Christine Schönebeck

Frei sein – mündig werden. Die Konfirmation als pädagogisches Instrument zur Popularisierung der Aufklärung (1770–1840)

(Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 128), Münster/New York 2018, Waxmann, 311 Seiten mit 15 Abbildungen
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.05.2019

Christine Schönebeck hat 2002 bei Hinrich Siuts in Münster promoviert über „Denkspruch und Konfirmationsschein. Zur Etablierung und Akzeptanz von Elementen der Konfirmation der Aufklärung unter besonderer Berücksichtigung Westfalens“. Diese neue Provinz wurde bekanntlich erst mit dem Wiener Kongress preußisch und begann damit der Berliner Religionspolitik zu unterstehen. 2005 ist der Materialteil zu den Konfirmationsscheinen von Schönebecks Dissertation im Bielefelder Luther-Verlag erschienen. Der dazugehörige historische Theorieteil dagegen sollte noch weiter ausgebaut werden, weil sich inzwischen grandiose Literatur- und Archivschätze hatten auffinden lassen. Deren Auswertung liegt nun mit dem Band „Frei sein – mündig werden“ vor.

Bereits damals habe ich in einer Rezension der Dissertation in der Zeitschrift für Volkskunde 105 (2009), S. 309 f., konstatiert: „Für ‚die‘ Volkskunde und ihre derzeitigen Derivate, aber auch Sozial- und Kulturhistoriker der schnellen Urteile und wissenden Durchblicke liegt [...] eine Art Tiefenbohrung vor, punktuell richtig angesetzt und darum fündig in jeder Schicht.“ Hier sei ebenfalls nochmals wiederholt, was ich damals an grundsätzlichen Überlegungen zu gängigen Meinungen im untergehenden Fach formuliert habe: „‚Realien‘ seien als Objekte völlig uninteressant für Kulturforscher und nur als Objektivationen ihres Gebrauchs relevant durch den dann jeweils eruierbaren Indizcharakter für gesellschaftliche Bedeutungen, Zusammenhänge, Wandlungen, funktionalen Sitz im Leben etc. Schon gut und sogar richtig, nur darf das kein Alibi bleiben für die Vernachlässigung, ja Ignorierung der notwendigen Quellenbasis. Ohne angestrengte, methodensichere und natürlich theoriegeleitete Sachgüterforschung lassen sich überhaupt keine vernünftigen Aussagen über Alltags-‚Dinge‘ machen, z. B. über Konfirmationsscheine. Da helfen keine schicken Begriffsschilder und klingende Namen bekannter Franzosen [und deren Rezeption bei unseren Tagungspredigern] weiter, da hilft nur bienenfleißiges (eben wissenschaftlich organisiertes) Arbeiten.“

Und das lässt sich nun wieder beobachten. Der kirchenrechtliche Beginn der Konfirmationsatteste in Preußen lag im Jahr 1828, von dem an der Staat eine pflichtmäßige Urkunde für den Eintritt ins Erwachsenenalter verlangte und damit den Zugang zu den bürgerlichen Rechten verbürgte. Christine Schönebeck ist diesmal der an versteckter Stelle schon 1911 einmal geäußerten Überzeugung nachgegangen, dass „der Rationalismus“ den so lebenswirksamen Konfirmationsspruch eingeführt habe. Unsere Autorin weiß es inzwischen ganz genau. Es waren die Aufklärungspädagogen und deren behördliche Nachfahren in den Kirchenministerien. Dazu bedurfte es jedoch der Auffindung entsprechender archivalischer Verwaltungsquellen und der Entdeckung der Literaturgattung „Erbauungsbuch für Neukonfirmierte“.

In Bayern kennen wir für die katholische Bevölkerungsmehrheit im 19. Jahrhundert die kirchliche Schulaufsichtsbehörde, verankert im Innenministerium. Religion als Sozialdisziplinierung funktionierte über täglichen Religionsunterricht in der Volksschule mit vornehmlichem Einpauken des Katechismus und kirchlicherseits geförderter Ausgrenzung der Andersgläubigen durch die konfessionelle Grundschule bis hoch ins 20. Jahrhundert hinein. In Preußen (und damit der Preußischen Union evangelischer Christen als Staatsreligion) gab es also einen Crashkurs der Persönlichkeitsbildung im bisweilen mehrjährigen Konfirmationsunterricht mit einem Schlusszertifikat zum Staatsbürger der edleren Rasse. Ich darf das so flapsig formulieren, wenn man sich die norddeutsche „Katholiken-Fresserei“ vor Augen führt, wie sie soeben im Zusammenhang des deutschen Italienbildes untersucht worden ist (vgl. meine Rezension zu Klaus Bergdolt: Kriminell, korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil. Stuttgart 2018 im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2019).

Für Bayern kennen wir bei den fränkischen Protestanten die lutherisch geprägte Konfirmation als üblichen rite de passage zum Schulabschluss und Eintritt ins Erwachsenenleben und die dazugehörige bisweilen profane Familienfeier, wie sie der Nürnberger Lehrer und Schriftsteller Fitzgerald Kusz in seinem Blockbuster-Volksstück „Schweig, Bub!“ von 1976 satirisch eingefangen hat. Die von reformierter Obrigkeit diktierte preußische Konfirmation hingegen besaß im 19. Jahrhundert einen zugleich politischeren Stellenwert. Die Erziehungsschlagworte lauteten „frei sein“ und „mündig werden“ in Eigenverantwortung, so auch der Titel der Untersuchung.

Die Autorin hat dazu vornehmlich eine neue religiöse Textgattung der praktischen Lebenshilfe und Verhaltensempfehlungen entdeckt, in ihrer Fülle aufgesucht und ausgewertet. „Bildung als Grundthema jener Zeit sollte den Menschen zu Vernunftgebrauch, Selbsttätigkeit, Berufstüchtigkeit und Selbstvervollkommnung führen.“ (275) Neben der allgemeinen Schulpflicht galt das „inhaltliche Leitbild vom konfirmierten und zu Entschlüssen und Vorsätzen und zur Verantwortung befähigten Individuum“ mit einer „selbst gewählten Religion“ (275). Dazu dienten Lehrbücher, Abhandlungen, Gottesdienstordnungen und Musterkonfirmationen in Form von Predigten, „Verteilschriften“ und Erziehungsratgebern.

Diese pädagogische Literatur der Zeit kennt keinen Unterschied zwischen „weltlichen“ und „geistlichen“ Erziehungszielen. „Ein Gottesdienst muss einen Nutzen für die Teilnehmer haben.“ (276) Die sprachlichen Bilder der Aufklärer von Emotionalität, vom Herzen, vom Gefühl oder der Seele des Menschen lauten: Eindruck, Teilnahme, Aufmerksamkeit, Geneigtheit, Betroffenheit, Rührung. Die Autorin hat gut einhundert solcher Gottesdienstprogramme realer Konfirmationen berücksichtigt. Der „gute Geschmack“ und „die Vernunft“ regierten je nach Aufklärungstand der jeweiligen Gemeinde die performativen Elemente wie Handauflegen, Hinknien, das Segnen unter tradierten Formeln. Moralische Beispielgeschichten verbreiteten schon im späten 18. Jahrhundert sogenannte „Salvebücher“ mit Titeln wie „Väterlicher Rat“ als Neujahrsgeschenke. Dadurch wird die Pflichtethik Kants vom kategorischen Imperativ volksläufig gemacht. Erziehung und Bildung zielen auf einen Zustand der Mündigkeit für den Prozess einer allmählichen Selbstaufklärung von „kindischem“ Zustand zu selbstbeherrschtem Handeln allgemeiner Affektkontrolle in der öffentlichen Verpflichtung zu Brüderlichkeit und Nützlichkeit.

Der Konfirmationsspruch ist das Abschiedswort als Leitvers für den künftigen Lebensweg. Der „Aufführungscharakter“ des Rituals der Konfirmationsfeiern wurde eindringlich reflektiert. „Die Handlungen, Orte, Requisiten, die Akteure und Adressaten, die Motive und Szenen, die Gesten und Textelemente, die Kleidung und der Blumenschmuck, Glockenklang und Orgelspiel, das Aufstehen und das Schweigen, all das wird bis ins Detail auf Angemessenheit (kein Schau- und Prunkspiel) und Wirksamkeit hin geprüft und vernünftig, auf das Thema der Feier bezogen, eingesetzt.“ (281) Das Ergebnis soll die innere Erkenntnis sein: Jetzt bist Du erwachsen!

Und zwar auch im bürgerlichen Sinne mit Hilfe der pfarrlichen Urkunde. Jetzt (natürlich später) konnte er einen Eid leisten, Verträge schließen, einen Hausstand gründen, ein Gewerbe anmelden, das heißt die modernen bürgerlichen Freiheitsrechte allmählich in Anspruch nehmen.