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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Christophe Duhamelle

Die Grenze im Dorf. Katholische Identität im Zeitalter der Aufklärung

Aus dem Französischen von Falk Bretschneider. (Religion und Politik 16), Baden-Baden 2018, Ergon, 325 Seiten mit 6 Karten
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.06.2019

Hinter dieser deutschen Ausgabe steht eine französische Habilitationsschrift von 2006 aus Paris. Wer den Begriff „Grenze“ liest, weiß sogleich, wo das Werk in der deutschen Frühneuzeitforschung anzusiedeln ist: bei Étienne François in Berlin, der über die unsichtbare Augsburger Konfessionsgrenze in der Reichsstadt mit gesetzlicher Parität eine berühmte Thèse geschrieben hat. Hier geht es nun über „La distinction confessionelle dans le Saint-Empire“, also das Alte Reich im 17. und 18. Jahrhundert und zwar am Beispiel des Mainzischen Eichsfeldes, das ja noch in der ehemaligen DDR einen katholischen Sonderstatus markierte mit drei kleinen Städten und ansonsten plattem Land.

Die Kultursoziologie kennt den Begriff der „kulturellen Identität“, seine Normen und Zwänge. Französische Historiker interessieren sich für das Phänomen der „longue durée“ der eingefleischten Mentalitäten, die angeblich untergründig stark weiterwirken. Es geht dabei nicht bloß um ein Beharrungsvermögen, sondern hier im konkreten Falle um „die Rhythmen und Modalitäten der Traditionsfindung“.

Was wir entsprechend der Frühneuzeitforschung deutscher Historiker „Konfessionalismus“ nennen, meint nicht, wie bisweilen in den Nachbarwissenschaften vereinfachend behauptet, die erfolgreiche und das heißt endgültige Durchführung von Reformation und katholischer Reform, sondern deren jeweilige Internalisierung beim gläubigen Volk zur kulturprägenden Sitte. Von deren Gestalt handeln unter anderem Christophe Duhamelles Untersuchungen, um zu erfahren, was und wie sich daraus Resistenzen entwickeln.

Wir Volkskundler haben uns sehr für die Folgen der staatlicherseits mit Hilfe der geistigen Eliten durchgesetzten radikalen Reformen im Kirchenwesen beider großen Konfessionen interessiert. Wir haben dadurch erfahren, was alles an rituellen und performativen Elementen entfallen oder verändert worden ist, angefangen von den Gesangbüchern auf beiden Seiten bis zu den Verboten von Prozessionen und Wallfahrten, oder wiederum für beide Kirchen das schon zuvor durch den Blitzableiter ins Gerede gekommene Wetterläuten. Nach den napoleonischen Kriegen im Zeitalter der sogenannten Restauration dauerte es bekanntlich ein halbes Jahrhundert, bis manches von früher neu installiert war und der Pfarrer Herr im Dorf wurde. Deshalb sprechen in Deutschland einige Frühneuzeitforscher von einer „Zweiten Konfessionalisierung“.

Der Mentalitätsforscher französischer Provenienz hingegen möchte erfahren, wie solche Prozesse nicht nur im Einzelnen verlaufen sind, sondern ob und wie sie die eingeübte konfessionelle Identität der Landbewohner existenziell treffen mussten und auf Dauer verändern oder versteinern konnten. Unser Autor sieht das im Zusammenhang der generellen großen politischen Fortentwicklungen im vielstaatlichen Mitteleuropa, gemessen am Zentralstaat La France. Dort revolutioniert sich manches Problem unter Beteiligung aller eine Zeit lang heftig aus, aber dann ist Schluss damit für eine neue Zeit, wie wir das heute noch erleben können, während sich bei uns derartige Vorgänge über Jahrzehnte hinziehen in den vielfältigen Traditionsräumen und unterschiedlichen Milieus.

Was heute in Deutschland alles in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht landet, das konnte sich früher überall in Mitteleuropa abspielen aufgrund des juristischen Besitzstanddenkens in Form der „possessio“, für die Konfessionen festgeschrieben seit 1648. Wenn hierzulande Prozessionen oder Wallfahrten verboten wurden, dann zogen die Betroffenen mit dem Argument zu Felde, sie seien durch Gelübde (von ‚anno Toback‘) gehalten, weiterhin so zu verfahren. Sie erhielten nicht selten entsprechende Dispensen. Seitdem besitzen wir überall historische Glaubenssätze an derartige fake-news, wie wir unseren Studierenden für die historisch-kritische Methode von Untersuchungen predigen. Und solche Fakten sind dem Franzosen unter anderem ebenfalls aufgefallen.

Nun hat in der deutschsprachigen Literatur der Berner Historiker Peter Hersche 2006 die These aufgestellt, dass die grundsätzlichen Intentionen des Trienter Konzils und seiner amtlichen Katechese vom überschwänglichen Barockkatholizismus lebensnah und lebensfroh konterkariert worden seien. Erst die Epoche der staatlich erzwungenen Aufklärung habe die Trienter Reformen tatsächlich verwirklichen können. Danach, so muss man folgern, habe es eine Dichotomie von kirchlicher Dogmatik und der praktischen Religiosität des Kirchenvolks gegeben. Jener Begriff begegnet bei Duhamelle nur als zeitliche Komponente für die Befindlichkeit der Leute im Eichsfeld. Die Aufklärung vor Ort stellte, so der Autor, einen Bruch mit der ursprünglichen Konfessionalisierung dar. Diese mutierte daher zu einem verselbständigten Formalchristentum für die eigene Identität als politischer Vorwand wider jegliche Herrschaft auf der lokalen Ebene. In der Tat, denn das betraf sowohl die eindeutig kirchlichen wie die damals kompliziert verfassungsrechtlichen Autoritäten sowie deren Verquickungen. In den späteren religiösen „Kulturkämpfen“ des 19. Jahrhunderts in deutschen Bundes- oder Reichsstaaten stellten sich die gesellschaftlichen Konstellationen völlig anders dar durch die Herausbildung sogenannter Milieus und deren parteipolitischer Vertretungen. Dennoch blieben die Mentalitäten zumal der statistisch dominierenden Landbevölkerung bisweilen unverändert, wie wir wissen.

Unser Kollege Martin Scharfe hat im Jahre 2004 ein Buch zur Alltagskultur der letzten beiden Jahrhunderte verfasst mit dem Titel „Über die Religion. Glaube und Zweifel in der Volkskultur“, das meiner Meinung nach in unserem Fach nicht wirklich rezipiert worden ist. Der Grund dürfte ganz einfach sein: Es liegt am Thema. Mit „Religion“, in welcher Zeit auch immer, mögen sich doch bitte die Theologiehistoriker oder Religionssoziologen befassen und nicht wir einfachen Allerwelts-Erklärer. Scharfe unterscheidet „Grundtypen von Religiosität“ und charakterisiert dabei das von ihm schon länger traktierte Phänomen des „legalen Christentums“, dem „Zeremonie die Gesinnung“ und „Ritus das Dogma ist“. Damit wären wir bei Duhamelles Sach-Erhebungen über die Konstruktion konfessioneller Grenzen.

Er hat ein riesiges archivalisches Material erschlossen und breitet es in folgenden Kapiteln nach Problemkreisen aus: 1. Tradition, Aufklärung und Identität; 2. Dorfgemeinschaft und konfessionelle Identität; 3. Grenze und Identität; 4. Identität und Diskontinuität. Was Scharfe am Ende seiner Studie „Die Geschichtlichkeit der Volkskultur“ das möglicherweise erwartbare historische Ende von Religiosität nennt, mündet bei Duhamelle in Betrachtungen über das Stereotyp des 19. Jahrhunderts: hie christliches Deutschland und dort gottloses Frankreich, sprich Mentalitäten einer erweiterten Grenzsituation.

Wir haben eine immense Fleißarbeit vor uns, die dem Schimpf des Positivismus durch ein Theoretisieren zu entgehen sucht, das im Deutschen oft nur schwer nachzuvollziehen ist. Man möchte die Methode der umfänglichen Materialerschließung den heutigen Studierenden gerne empfehlen, weil sie zur Zeit teilweise darin nicht systematisch gefördert werden. Dennoch muss man sie warnen vor zu eiligen übergreifenden Schlussfolgerungen.