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Aktuelle Rezensionen


Ulrich L. Lehner

Die Katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung

Paderborn 2017, Schöningh, 271 Seiten
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.07.2019

Eine gute Rezension besteht neben einem Vorspann (der am leichtesten fällt) und einem abschließenden Fazit der Gewichtungen (Was bringt‘s für wen?) aus drei Punkten: 1. Buchtyp, Textsorte, Zielpublikum (sofern umgehend einsichtig); 2. Autor und geistiges Umfeld (das kann bisweilen kompliziert werden); 3. Inhalt nach a) Begriffsorientierungen, b) Quellenfragen und Diskursumkreis, c) Argumentationsweise und fremde, eventuell nachzutragende Positionen.

Vorspann: „Aufklärung“ ist nicht nur ein Epochenbegriff der Geisteswissenschaften, sondern auch ein Schlagwort meist verneinender Bedeutung. Wer diesen als ästhetische Zeitmarkierung versteht, der musste zum Beispiel in Würzburg schon immer staunen über das ein Jahrhundert alte jährliche Mozart-Fest im berühmten Barockbau der fürstbischöflichen Residenz mit ihren Höhepunktinauguratoren Balthasar Neumann und Giovanni Battista Tiepolo. Das hieß, Wolfgang Amadé Mozarts Musik galt und gilt den meisten Gebildeten unserer Tage als reinstes Rokoko, doch jene Zeit war die der philosophischen und staatsbürgerlichen Aufklärung. Darum stand das 46. Mozartfest 2018 unter dem Motto: „Aufklärung – Klärung – Verklärung“, wobei sich für die Kritik die Frage stellte, „ob der Komponist ein Aufklärer oder ein Anti-Aufklärer“ gewesen sei. Das scheinen mir sehr typische Wortspiele aktuellen Denkens. Im politischen Tagesgeplänkel kommt dann schnell die ideologische Begriffsbildung „Gegenaufklärung“ oder gar „Konterrevolution“ auf. Historiker der akademischen Zunft sind hingegen schon eine gute Generation dabei, auf dem Felde der sozialgeschichtlichen Folgen von Religion die gezielten Fake-News und „Schwarzen Legenden“ zur Geschichte des Katholizismus realitätsnäher umzuschreiben, wenn auch nicht weniger kritisch.

Buchtyp, Textsorte, Zielpublikum: Hier liegt nun eine Schrift vor, die man prima vista eher bei Beck in München vermuten möchte, zumal das Buch im Original ein englisch formuliertes aus den USA von 2016 ist und dort zugleich als Taschenbuch für die Studierenden erschien, also eine gut lesbare Übersichtsdarstellung bieten will. Dennoch fehlt nicht ein ordentlicher Verweisapparat, der zugleich belegt, was wir in Mitteleuropa alles nicht kennen an Forschungen und Diskursen jenseits des Atlantiks, weil es sich unsere Bibliotheken zu kaufen nur selten leisten können.

Autor: Ein Laientheologe und Historiker, der an der Marquette-Universität in Milwaukee/Wisconsin lehrt. Deren Namenspatron war ein Jesuitenmissionar des 17. Jahrhunderts in den USA. Es handelt sich also um eine der hochangesehenen katholischen Universitäten, meist von Jesuiten getragen. Ulrich L. Lehner aus Straubing in Niederbayern ist dort seit Jahren Associate-Professor (mit tenure) im Theologischen Department und zwar als Spezialist für Christentumsgeschichte der Frühen Neuzeit, auf welchem Gebiet er bislang eifrig publiziert hat. Schon vor dem Abitur am humanistischen Gymnasium in Straubing 1996 schrieb er für den dortigen Geschichtsverein. Dann ist er bei den Jesuiten in München gewesen, um dort 1999 deren Philosophicum abzulegen. Anschließend studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München katholische Theologie als Diplomaspirant mit sämtlichen Examina bis zum Dr. theol. Bald danach holte er sich an der inzwischen von Orban vertriebenen Europa-Universität in Budapest die Habilitation für Geschichte. 2006 ging er in die USA und erreichte im Postgraduiertenstudium von der Marquette-Universität aus zahlreiche Stipendien und Fellowships an den berühmtesten katholischen Universitäten des Landes und nur noch einmal zwischendurch in Deutschland 2008 die Gastprofessur in Eichstätt. Aus den Nachrichten des Hochschulverbandes 2/2019 geht hervor, dass er soeben einen Ruf an die renommierteste katholische Universität „Notre Dame du Lac“ in Indiana/Wisconsin angenommen hat. Seine umfangreiche Bibliographie weist ihn als Quelleneditor, Reihenherausgeber und Bücherautor, auch von Unterrichtsmaterial aus. In diesem Kontext muss man das vorliegende Werk sehen, das aus einer Übersichtsvorlesung entstanden sein dürfte.

Inhalt – Begriffsorientierungen: Der Doppeltitel verrät am besten die selbst gestellte Aufgabe. „Katholische Aufklärung“ wird als „Weltgeschichte einer Reformbewegung“ verstanden, wobei der Autor sogleich vermerkt, dass es sich keinesfalls um eine global organisierte Veranstaltung handelte, sondern während der europäischen Epoche der Aufklärung überall in der Welt – zeitlich und sachlich stark unterschieden – um verwandte geistige Bemühungen einer Kirchenreform. Seine Kapitel lauten: 1. Die Welt der katholischen Aufklärer; 2. Die katholische Lernkurve: Tolerierung und Toleranz; 3. Feminismus, Freiheit, Frömmigkeit. Katholische Frauen und die Aufklärung; 4. Katholische Aufklärung in Amerika, China und Indien; 5. Teufel, Dämonen und Aberglaube; 6. Heilige und Sünder; 7. Sklaverei und Rassismus; 8. Der Tod der katholischen Aufklärung und der Beginn eines päpstlichen Katholizismus.

Inhalt – Quellenfragen und Diskursumkreis: Seit dem 16. Jahrhundert existiert die Gattung der „Ketzergeschichte“ als Traditionssuche für eigene Abweichungen (zunächst lutherisch gegen das Papsttum, dann pietistisch gegen das orthodoxe Luthertum), in der Regel mit fundamentalistischen Zügen und darum bis auf den heutigen Tag katholischerseits zu suchen im kirchlichen „Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen“, wovon bei Lehner nicht die Rede ist. Hingegen verwendet er den klassischen Begriff der Aufklärung (Enlightenment) für jegliche Form von theoretischen Modernitätsversuchen auf bleibend katholischer Seite als potentielle Erneuerung in religiösen Angelegenheiten während der Frühen Neuzeit. Den historischen Tiefenblick streift er nur kurz in seiner Einführung, indem er die epochalen Rezeptionen von Moderne in der Vergangenheit zitiert: 1. den Einfluss der griechischen Philosophie auf das frühe Christentum (sonst im allgemeinen Hellenisierung genannt), 2. die mittelalterliche „Offenheit für Aristoteles und die arabische Philosophie“ (also Thomas von Aquin), 3. das Zweite Vatikanische Konzil mit der Begegnung von Kirche und Welt als endliche Rezeption der klassischen Aufklärung. Für seine Darstellung wählt der Autor folgende Problembereiche: 1. Die Botschaft der Erneuerung kommt über intellektuelle Diskurskreise nicht hinaus; 2. Glaube ist etwas historisch Gewachsenes; 3. Aberglaube und Bigotterie; 4. „Vernünftiger“ Glaubensgehorsam im Sinne von Paulus Römerbrief; 5. Widerstand gegen Rom; 6. Staatsreformen gleich Kirchenreformen; 7. Napoleons politische Reaktionen zur Rettung der Kirche; 8. Bibelexegese und Modernismuskrise.

Inhalt – Argumentationsweise und fremde Positionen: Im Kapitel über „Sklaverei und Rassismus“ wird zwar der Dominikaner Bartolomeo de las Casas mit seinem wahrhaft christlichen Menschenbild zitiert, nicht aber sein Ordensbruder Antonio de Montesinos und die unendlich traurige Geschichte der südamerikanischen Missionen, über die inzwischen der Mainzer Kirchenhistoriker Johannes Meier in seinem Buch „Bis an die Ränder der Welt. Wege des Katholizismus im Zeitalter der Reformation und des Barock“ (2018) in Übersicht informiert. Lehner kennt selbstverständlich Peter Hersches monumentale Streitschrift von 2006 „Muße und Verschwendung“ (s. die Rezension im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2008, S. 164–166), eine gesamtgesellschaftliche Barockanalyse. Der Schweizer Hersche sieht die europäische Barockkultur als ein katholisches Phänomen gegen das eigene Tridentinum stehen, das erst mit der politischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts bei sich selbst, das heißt in der katholischen Kirchenpraxis angekommen sei. Da passt manches mit Lehner zusammen, wird aber bei diesem nicht artikuliert. Es gibt derzeit andere deutschsprachige Forschungen, die davon ausgehen, dass katholischerseits eine große theoretische Affinität zur Französischen Revolution als Ausfluss von Kantischer Aufklärung bestand. Doch seit der offiziellen terreur der Jacobiner in Paris und den Provinzen, vor allem auch blutig und grausam gegen Priester und Ordensleute, haben tatsächliche Gegenaufklärer jegliche Kritik und Neuerungsvorschläge als des Teufels dämonisiert. So konnte eine kirchengeschichtlich aufregende Umkehrung alter Grundsätze geschehen. Aus dem „Lehramt der Theologen“ (einst repräsentiert in Universitäts-Fakultäten) sei das „Lehramt der Päpste“ geworden (s. Klaus Unterburger: Vom Lehramt der Theologen zum Lehramt der Päpste? Pius XI., die Apostolische Konstitution „Deus scientiarum Dominus“ und die Reform der Universitätstheologie. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 2010) und damit eine monarchische Papstherrschaft, die bis ins 20. Jahrhundert hinein gegen alles „Moderne“ wütete. Lehner stützt sich hier auf Jochen Krenz: „Druckerschwärze statt Schwarzpulver. Wie die Gegenaufklärung die Katholische Aufklärung nach 1789 mundtot machte“ (2016). Krenz zielt natürlich auch aufs Ganze, erforscht allerdings den Problembereich in einer überschaubaren Region und aufgrund neu erhobener frühneuzeitlicher Quellen in großer Zahl. Das nennen wir akademische Kärrnerarbeit. Lehner hingegen referiert, bietet Überschauen auf globalem Feld. Überall versteht er Aufklärung als verändernde Neuorientierung, das heißt als Reformbewegung.

Theologen, die tiefer schauen wollen, sehen die Frage grundsätzlicher, so Eckhard Nordhofen, der soeben (2018) das Buch „Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus“ vorgelegt hat, wobei er sich unter anderem an Jan Assmanns Moses-Studien reibt, und von Lehner noch nicht rezipiert werden konnte. Ein zentrales Kapitel in Nordhofens Werk lautet „Konjunkturen der Aufklärung“. Die generelle Argumentation verläuft wie folgt: Religionskritik an funktionalistischen Gottesbildern seit den Vorsokratikern. Die griechische Aufklärung steht gegen den polytheistischen antiken Götterhimmel, der aus personalisierten menschlichen Gebrauchswünschen bestand. Dagegen ist die jüdische Aufklärung des Alten Testaments von grundsätzlicherer Natur, weil sie den Monotheismus verlangt. Und zwar den einer namenlosen, unsichtbaren und einzigen Schöpferpersönlichkeit außerhalb des Kosmos, die selbst nicht gemacht, sondern da ist (JHWH). Damit wird die Idolatrie der von Menschen gemachten bildhaften Götter überwunden. Um jedoch kultfähig zu werden als gesellschaftliches Phänomen öffentlicher Religion neigt diese Gotteserkenntnis zur Grapholatrie, zur Vergötzung der Schrift. Nach dem Verlust des (noch heidnisch) opfernden Tempelkultes in Jerusalem hat im heutigen Exil das rabbinische Judentum die Thora verdinglicht, verkörperlicht, das Gesetz zum Tauschverkehr mit dem Jenseits gemacht. Die „abwesende Anwesenheit“ Gottes erhielt im Text allein ein Substitutionsmedium der kultischen Verehrungsmöglichkeit. Erst das Christentum, erwachsen aus einer jüdischen Sekte, ist der Versuch einer möglichen Antwort geworden und seine endgültige Aufklärung heute voll im Gange.

Fazit: Die Kulturwissenschaftler, welcher Provenienz auch immer, müssen lernen, dass es heutzutage bei den Theologen christlicher Konfessionen und Religionshistorikern eine Menge zu lernen gibt. Kein Wunder also, wenn derzeit in Berlin darüber positiv diskutiert wird, an der Humboldt-Universität eine Katholisch-theologische Fakultät zu errichten, wo doch andernorts solche abgeschafft werden aus Mangel an Studierenden. Das hat jedoch mit deren alleinigem Berufsziel im kirchlichen Dienst zu tun und der überholten Vorstellung von Tridentinischen Priesterseminaren, weshalb zum Beispiel die deutschen Konkordats-Fakultäten den Hardlinern in Rom stets ein Dorn im Auge waren. In Berlin sollen nur Magisterstudiengänge konzipiert werden.

Ulrich L. Lehner stößt hier ein Tor auf, zunächst in seinen Studien zur Frühen Neuzeit, mit dem vorliegenden Buch aber auch einem größeren Publikum gegenüber. In einer breiteren Öffentlichkeit sollte diese sachliche Entgiftung der bis in unsere Generation schwelenden antikatholischen Kulturkampfmentalität in den Köpfen der meisten Akademiker bewusst werden.